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Wolfgang Borchert: Die Küchenuhr [Analyse]

„Die Küchenuhr“ ist ein Klassiker der Trümmerliteratur. Eine genaue Analyse zeigt die komplexe Beziehung zwischen Protagonist und Küchenuhr.

[Massive Spoiler voraus]

Wolfgang Borcherts Kurzgeschichten gehören zu dem Besten, das die deutsche Nachkriegsliteratur hervorgebracht hat. Daher ist von ihnen viel für das eigene Schreiben zu lernen. Im ersten Teil meiner Serie widme ich mich daher einer seiner bekanntesten Erzählungen Die Küchenuhr und versuche mich an einer Analyse. Dem geneigten Leser sei vorab die eigenständige Lektüre des Textes ans Herz gelegt.

1. Der Protagonist

Borcherts Protagonist in Die Küchenuhr ist der mit dem alten Gesicht, dessen Gang allein verrät, dass er erst zwanzig ist. Diese Diskrepanz lässt ihn auffallen, schon von Weitem. Doch welche Diskrepanz ist das eigentlich: Die zwischen seinem Gesicht, als Körperteil, und seinem Gang? Oder zwischen seinem Selbst, etwas Innerem also, und seinem Äußerem?

Die Antwort fällt leichter, wenn man sich dem zweiten Protagonisten zuwendet – der namensgebenden Küchenuhr. Der Protagonist trägt sie mit sich und zeigt sie stolz herum. Obwohl sie nix besonderes ist und auch überhaupt nicht mehr funktioniert:

Innerlich ist sie kaputt, das steht fest. Aber sie sieht noch aus wie immer. Auch wenn sie nicht mehr geht.

Wolfgang Borchert, Die Küchenuhr

Der zitierte Satz ist eine frühe Parallelisierung zwischen Protagonist und Küchenuhr. Auch der Protagonist selbst ist innerlich kaputt, geht nicht mehr, sieht aber sonst noch aus wie immer. Von seinem Gesicht abgesehen, das so alt aussieht, weil sich in ihm das Innere zeigt. Diese Parallelisierung wird später noch wichtig sein.

2. Die Bomben

Die Küchenuhr ist um halb drei stehengeblieben. Wegen der Bomben, sagt einer der Zuhörer, die dann wohl um halb drei fielen. Wenn sie explodieren, zerstört der Druck das Uhrwerk. Doch der Protagonist weiß es besser:

Nein, lieber Herr, nein, da irren Sie sie sich. Das hat mit den Bomben nichts zu tun. Sie müssen nicht immer von Bomben reden.

Wolfgang Borchert, Die Küchenuhr

Natürlich hat alles mit den Bomben zu tun. Der Verlust des Protagonisten, die versammelte Meute auf der Bank, das Elend, die stehengebliebene Uhr. Ohne die Bomben wäre all das nicht passiert. Aber der Protagonist will nichts davon wissen, hat den Krieg selbst schon verdrängt. Für ihn scheint es Schicksal gewesen zu sein oder ein „Witz“, dass die Uhr „ausgerechnet“ um halb drei stehenblieb. Wir wissen es besser: Als er mit seiner Mutter in der Küche saß, wie jede Nacht um halb drei, müssen die Bomben gefallen sein.

3. Die Personifizierung der Küchenuhr

Doch als die Küchenuhr stehen- und übrig blieb, blieb auch der Protagonist stehen und übrig. Nun ist er nicht länger in der Lage, das Gesamtbild des Krieges zu sehen oder sich dem traumatischen Erlebnis zuzuwenden. Er lächelt beim Erzählen, negiert die Rolle der Bomben. Die bereits angesprochene Parallelisierung zwischen Küchenuhr und Protagonist geht daher weit über ein kaputtes Innenleben hinaus.

Die Parallelisierung unterstreicht Borchert auch sprachlich. Die Küchenuhr hat ein „Gesicht“, ist „innerlich kaputt“. Mit dieser Personifizierung erlaubt Borchert dem Leser einerseits einen Rückbezug, wirft die Frage auf, warum die Küchenuhr personifiziert ist. Andererseits betont er die Merkwürdigkeit der Beziehung zwischen Protagonist und Küchenuhr, die offenbar nicht bloß ein Erinnerungsstück ist.

Sofern sich der Protagonist in der Küchenuhr selbst wahrnimmt, muss er sie hüten wie einen Schatz und sich einreden, dass sie ja noch aussehe wie immer. Und dass es eine Bedeutung hat, dass sie ausgerechnet um halb drei stehenblieb, dass also auch mit ihm noch etwas anzufangen, sein Leben nicht sinnlos geworden ist.

4. Das Paradies

Und natürlich ist die Küchenuhr auch ganz profan ein Erinnerungsstück. Ein Portal in eine heile Vergangenheit. Diese Vergangenheit, ebenfalls ganz profan, bestehend aus einer fürsorglichen Mutter und einem Job im Schichtdienst (er kam immer um halb drei nach Hause), ist ihm jetzt das Paradies geworden. Das unterstreicht die Traumatisierung des Protagonisten und erhöht zugleich den Wert der Küchenuhr. Mit ihr und seiner Sicht auf sie kann er sich noch eine Weile an das Leben klammern, das für immer dahin ist und muss der Sinnlosigkeit seines Verlustes nicht ins Auge sehen.

Seine Gesprächspartner sind offenbar schon einen Schritt weiter: Was das Paradies sein soll, können sie nicht recht fassen. Einer von ihnen denkt „immerzu an das Wort Paradies“. Seine Bedeutung ist ihm schon abhandengekommen.

5. Takeaways

  • Sieh tiefer in deine und fremde Geschichten. Sie sind und sollten komplexer sein, als es auf den ersten Blick scheint.
  • Halte nach Parallelen Ausschau: Zwischen dem Protagonist und seinem Ziel, dem Antagonist, dem Mittel, dem Mittel und dem Ziel, der Verletzung deines Protagonisten und dem Antagonisten.
  • Nutze die Möglichkeiten der Sprache, um gewissen Elemente deiner Geschichte zu betonen und hervorzuheben.

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