Kategorien
Ein sehr guter Text Wissenschaftliche Arbeiten

Direktes Zitieren: Eine hohe Kunst

„Ein direktes Zitat sollte nie ohne Ein- oder Ausleitung stehen.“ (Bauer, 2022, S. 1) Außerdem ist es wichtig, auf korrekte Zeichensetzung zu achten.

Kommt dir diese Vorgehensweise bekannt vor? Ganze Sätze direkt zitieren und dann weitermachen, als sei nichts gewesen? Dann hilft dir dieser Artikel sicher. Denn es gibt einige Fallstricke beim direkten Zitieren.

1. Auswahl, Timing & Integration sind entscheidend

Die drei wichtigsten Fallstricke lauten: zu oft, die falschen Sätze und ohne Verbindung zum sonstigen Text.

Um diese Fehler in Zukunft zu vermeiden, müssen wir uns zuerst über den Zweck eines direkten Zitats im Klaren sein. Es gibt zwei Gründe für direktes Zitieren.

  1. Wir wollen eine Aussage als Zitat kenntlich machen (so stumpf, so wahr).
  2. Wir wollen nachweisen, dass Autor X tatsächlich Y gesagt hat, und zwar mit den Worten A B C, nicht mit M N O.

Im zweiten Fall ist die Sache klar: Will ich belegen, dass Götz von Berlichingen tatsächlich „Arsch“ gesagt hat und nicht „Allerwertester“, bleibt mir nichts anderes übrig, als genau diese Stelle direkt zu zitieren. Das ist sozusagen ein direkter Quellennachweis. Die Aussage, der Himmel sei blau, kann ich nur beweisen, indem ich den Himmel zeige. Genau diese Funktion hat ein solches direktes Zitat.

Im ersten Fall ist es etwas komplizierter. Denn eine Aussage kann ich auch indirekt zitieren, also nicht:

„Er aber, sag’s ihm, er kann mich im Arsche lecken!“ (Goethe, 1773, S. 146)

Sondern in eigenen Worten:

Der Götz meint daraufhin, er könne ihm den Allerwertesten küssen (vgl. Goethe, 1773, S. 146).

In beiden Fällen verdeutlichen die Quellenangabe und der Kontext, dass es sich um eine fremde Aussage handelt. Warum also nicht immer direkt zitieren? Oder nie?

2. Ein direktes Zitat verursacht Kosten

Prinzipiell gilt: Ein indirektes Zitat verursacht weniger Kosten als ein direktes Zitat. Es fügt sich problemlos in den übrigen Satzbau ein, bewirkt keinerlei Irritationen für den Leser und muss auch nicht weiter erläutert werden. Vergleiche folgende Varianten:

a) Der Klimawandel bedroht die Erde. Wissenschaftler verschiedenster Disziplinen sind sich darüber einig (vgl. Kimmel, 1999, S. 112). Vor allem das Abschmelzen des Permafrostbodens gilt als große Gefahr (vgl. Meiser, 2005, S. 12; Hemmel, 2008).

(fiktives Beispiel)

Und direkt zitiert:

b) Der Klimawandel bedroht die Erde. „Das ist in allerlei Disziplinen, von der Geologie, über die Historik, bis hin zu den Sozialwissenschaften allgemeiner Konsens“, so Kimmel (1999, S. 112). Außerdem ist laut Meister „ein Verlust des Permafrostbodens eine gewaltige Bedrohung für Flora und Fauna“ (2005, S. 12).

(fiktives Beispiel)

Die Variante mit indirekten Zitaten ist deutlich angenehmer zu lesen und bringt die Sache auf den Punkt. Die direkten Zitate hingegen verwässern, verkomplizieren und ermüden die Leserin.

3. Direktes Zitieren muss sich lohnen

Ein direktes Zitat verursacht also Kosten. Umgekehrt bedeutet das: Um seine Anwendung zu rechtfertigen, muss deine wissenschaftliche Arbeit oder der es enthaltende Absatz davon profitieren. Folgende Kriterien können dafür herangezogen werden:

Das Zitat ist…

  • …eine prägnante Formulierung, die sich kaum kürzen oder umformulieren lässt.
  • …eine Formulierung, deren Bedeutung für deine wissenschaftliche Arbeit in ihrer genauen Wortwahl liegt – das führt uns zurück zum eingangs genannten Grund 2.

Behandelt deine Bachelorarbeit also den Gebrauch von Vulgärsprache in der Weimarer Klassik, solltest du den Götz direkt zitieren: weil du einerseits nachweisen musst, dass er das so und so gesagt hat, und weil du andererseits natürlich das vulgäre Wort nicht ersetzen solltest.

Ein Beispiel für eine prägnante Formulierung wäre hingegen:

Hobbes spricht dahingehend von einem „Krieg aller gegen alle“ (1642).

Wie sollte man das umformulieren? Es ist perfekt. Was perfekt ist, darf direkt zitiert werden. Muss sogar, weil wir uns nicht anderes ausdenken können, um dasselbe zu sagen. Und weil nun diese Umformulierung den Text verkomplizieren, verwässern und für den Leser ermüdend machen würde.

Natürlich stößt man auch hier an Grenzen. Unentwegt perfekte direkte Zitate aneinanderzureihen, ist ebenso ermüdend. Versetze dich in die Lage deiner Leserin: Kann sie die Zitate noch aufnehmen? Oder solltest du ihr ein paar Zeilen Pause gönnen?

4. Direkte Zitate immer ein- oder ausleiten

Nun haben wir zwei der drei häufigsten Fehler im Umgang mit direkten Zitaten geklärt: zu oft und die falschen Sätze. Bleibt der dritte: die fehlende Verbindung zum sonstigen Text. Ein Beispiel:

Der homo erectus lebte vor 120.000 Jahren in Südeuropa. „Die Gattung homo schlug die Augen als Affe zu und in Gestalt des homo erectus als Mensch wieder auf“ (Breeg, 1998, S. 34). Außerdem ernährte er sich bereits von gejagtem Großwild.

(fiktives Beispiel)

Das Beispiel zeigt einen beliebten Fehler: Das direkte Zitat wird behandelt, als hätte man es selbst gerade geschrieben – was natürlich nicht der Fall ist. Der Erzähler spricht in einer Stimme. Lässt dudie Quellenangabe weg und liest den Abschnitt deiner Mutter vor, kann sie nicht erkennen, dass darin ein direktes Zitat enthalten ist. Das darf nicht sein. Korrekt wäre:

Der homo erectus lebte vor 120.000 Jahren in Südeuropa. Breeg verdeutlicht die Bedeutung dieser Art: „Die Gattung homo schlug die Augen als Affe zu und in Gestalt des homo erectus als Mensch wieder auf“ (1998, S. 34). Er ernährte sich bereits von gejagtem Großwild.

(fiktives Beispiel)

Hier wird das Zitat eingeleitet, ein Bezug zum übrigen Text hergestellt und mit der falschen Einheitsstimme gebrochen. Mama versteht jetzt, dass es sich um ein Zitat handelt, ohne aufs Blatt zu sehen. Und der Text reiht nicht mehr bloße Fakten aneinander, mal zitiert, mal auf eigenen Mist gewachsen. Denn genau das gilt es zu vermeiden: Aneinanderreihungen.

Wenn du Zitate aber nicht aus- oder einleitest, entstehen zwangsläufig Aneinanderreihungen. Nichts ist langweiliger zu lesen (und zu schreiben). Nichts enthält weniger geistige Leistung. Ein Affe könnte derlei Fakten aneinanderreihen. Sei kein Affe. Sei ein Mensch. Ordne ein. Verknüpfe. Stelle Zusammenhänge her. Lege Widersprüche offen. Wie? In dem du zunächst einmal damit beginnst, direkte Zitate ein- oder auszuleiten.

Es gibt eine Ausnahme für den eben angebrachten Mama-Test: Wenn du das Zitat kürzt, darfst du auch Sätze formulieren, die man nicht allein durchs Hören als zumindest teilweise zitiert erkennt. Diese Art direktes Zitat sieht etwa so aus:

Der homo erectus war in erster Linie ein Fleischfresser, wozu ihn seine „außerordentliche Ausdauer bei der Großwildjagd befähigte“ (Timon 2004, S. 55) und die die Vorteile des aufrechten Gangs unterstreicht.

fiktives Beispiel

Bevor wir das Thema mit den Formalia schließen, zeigt die folgende Grafik noch einige der hier geschilderten Punkte in zusammengefasster Form.

Direktes Zitieren Beispiele

5. Formalitäten beim direkten Zitieren

Außen vor gelassen wurden in dieser Anleitung bislang die formalen Bestimmungen. Diese weichen ohnehin voneinander ab und sollten dir im Laufe deines Studiums hinreichend erklärt werden. Andernfalls stehen sie in deiner Prüfungsordnung. Was man dir nicht erklärt, ist, dass es sich bei wissenschaftlichen Arbeiten ebenfalls um Prosa handelt (bis auf wenige Ausnahmen). Und Prosa darf nicht zu oft fremde Gedanken 1:1 wiedergeben. Erst recht keine schlecht formulierten. Und sie darf sie nicht aneinanderreihen. Das unterscheidet eine gute wissenschaftliche Arbeit von einer schlechten. Und bereitet erst den Boden, um anhand eines gelungenen Aufbaus wirklich neue Erkenntnisse zu generieren.

Zwei formale Sachen soll jedoch noch Erwähnung finden. Erstens: Direkte Zitate, die länger als drei Zeilen sind, müssen anders formatiert werden. Unabhängig von deinen genauen Vorgaben, sei es nun die deutsche Zitierweise in Fußnoten, APA-Style oder Chicago. Meist werden sie einen Zentimeter eingerückt, stehen in einem neuen Absatz und mitunter wird der Zeilenabstand (1,0) ebenso verringert wie die Schriftgröße (10 Pt.).

Zweitens: Das Ding mit dem Punkt. Lange, eingerückte direkte Zitate stehen vollständig mit Satzzeichen, danach folgt die Quellenangabe. Also etwa so:

Formalia tun manchmal weh, wie folgendes Zitat veranschaulicht:

„Alles schmerzte. Die Fingerkuppen vom Tippen, die Zunge vom Befeuchten derselbigen, und erst recht die schwer beringten Augen. Sie hatte Recht, das stand gar nicht zur Debatte, aber sie musste den Nachweis erbringen und das hieß: Schmerzen um der Form willen.“

(Bauer 2022, o. S.)

Innerhalb des Fließtextes, bei kürzeren Zitaten, steht der Punkt jedoch nicht im Zitat, sondern hinter der Quellenangabe:

Vor meinen Augen bloß noch: „Punkt, Punkt, Komma, Strich, fertig ist das Mondgesicht“ (o. V., 1905, S. 23).

(fiktives Beispiel)

Ist dir das beim allerersten Zitat ganz zu Beginn des Artikels bereits aufgefallen? Nein? Dann achte von nun an bei deinen eigenen Arbeiten darauf.

Jetzt weißt du alles über die hohe Kunst des direkten Zitierens in wissenschaftlichen Arbeiten. Fragst du dich, ob deine Abschlussarbeit von einem wissenschaftlichen Lektorat profitieren könnte, obwohl du die richtige Zitierweise jetzt bestens beherrschst? Dann schreib mir und erhalte ein kostenloses Probelektorat.

Kategorien
Ein sehr guter Text Prosa

Beginne mit einer Verletzung

Jede große und kleine Geschichte ist im Kern auf eine Verletzung des Helden zurückzuführen.

Der Drachentöter Siegfried! Die Ferse Achilles!

Große Helden haben eine Schwäche, einen Mangel. Dieser Mangel ist die Folge einer Verletzung: Achilles ist das Kind einer Göttin und eines Sterblichen. Deshalb taucht ihn seine Mutter in den Styx, ihn von der Sterblichkeit zu befreien. Hält ihn dabei an der Ferse fest.

Aber in der Verletzung liegt meist auch eine Chance: zu wachsen, zu reifen, oder ihren Effekt gar als Waffe einzusetzen (Siegfried ist quasi unverwundbar).

Eine gelungene Story wird daher eine solche Verletzung beinhalten und daraus den Charakter ihres Helden bestimmen: Nemos Vater hat seine Frau und all seine Kinder verloren, 999. Das ist seine Verletzung. Deshalb ist er ein Helikopter-Vater (das ist der Effekt). Deshalb wagt sich Nemo zu weit raus und wird entführt (da beginnt der Plot).

Wäre er einfach nur ein Helikopter-Vater – wen würde das interessieren? Aber die Verletzung erklärt sein Verhalten und macht die Sache für uns Zuschauer relevant.

Ein Beispiel:

Luke Skywalker träumt von großen Abenteuern, davon Pilot zu werden, aber muss mit seinen Zieheltern leben und auf deren Farm nach dem Rechten sehen (denkt er). Was fehlt ihm? Glaube an sich selbst! An Möglichkeiten, die es gibt, die es für ihn gibt.
Wir wissen nicht genau, was der Grund für diesen Mangel ist. Das ist nicht immer wichtig, oft genügen Andeutungen, aber irgendetwas hat ihm diese Überzeugung genommen.

Er trifft schließlich Obi-Wan, seine Zieheltern werden ermordet und das Abenteuer ruft nach ihm. So brutal das klingt: Seine Zieheltern mussten sterben, denn andernfalls wäre er dem Ruf des Abenteuers nie gefolgt. Zu störrisch, zu verbohrt, zu ungläubig ist er.
Dann erfährt er von seinem Vater, lernt erste Dinge bezüglich der Macht, bleibt aber recht distanziert dazu.
Und was passiert, als er im großen Finale den Todesstern zerstört? Er verzichtet auf den Computer, mit dem alle Piloten vor ihm gescheitert sind, und vertraut auf die Macht. Boom!

Die Macht des Star-Wars-Universums ist am Ende Lukes eigener, im Vergleich winziger Charakterbogen ins Große projiziert: Luke fehlt der Glaube an sich und die Welt. Allerdings gibt es etwas in ihm, mit dem er alle seine Träume von Abenteuern und Bedeutung erfüllen kann. Der Haken: Um es einzusetzen, muss er, naja, daran glauben und von sich überzeugt sein.

Was ist die dunkle Seite der Macht? Nicht daran glauben, nicht an sich, an das Gute, und daher den einfachen, schnellen Weg wählen. Letztlich lässt sich also die gesamte Story von Krieg der Sterne auf die Verletzung, und den daraus resultierenden Mangel des Helden Luke Skywalker zurückführen – das ist grandios geplottet.

Wenn eine Geschichte nicht recht funktioniert, frage dich daher, ob folgendes darin enthalten ist: Ein Held, der eine Verletzung hat, die ihn von seinem Ziel abhält, weil er sich aufgrund dieser Verletzung so und so verhält, der diese Verletzung aber heilen kann im Laufe des Abenteuers, und dann, deshalb!, auch sein Ziel erreicht.

Hast du einen Text geschrieben, der von einem Lektorat profitieren könnte? Informiere dich über alles, was du über das Lektorat eines Romans wissen musst. Oder schicke ihn an kontakt@lektorat-bauer.de und erhalte ein kostenloses Probelektorat samt unverbindlichem Angebot.
Deine Daten werden vertraulich behandelt.

Kategorien
Ein sehr guter Text Kurzgeschichten 101

Kurzgeschichte 101: Welche Charaktere sind erlaubt?

Sam starrte auf die Fersen seines Kontrahenten. Dessen dämliche Rückennummer, die 7, flackerte im aufkommenden Seitenwind. Sams Nummer, die 113 oder die 131, sie wechselte jedes Mal, klebte noch immer fest an seinem Rücken. Vielleicht ist das ein Vorteil, dachte Sam. Vielleicht gleicht das die langen Haare aus, die er zu einem Zopf zusammengebunden hatte und die alles andere als windschnittig waren.

Am Streckenrand brutzelte Heiner Rostbratwürstchen über Holzkohle. Der Duft erinnerte Heiner an seine Kindheit auf dem Lande. Dem Rennen schenkte er keine Aufmerksamkeit. Für ihn ging es darum, die Würstchen gleichmäßig zu bräunen, ohne sie platzen zu lassen. Er war ein einfacher Kerl mit einfachen Würstchen.

Als sie um die Kurve bogen, begang Sam seinen ersten Fehler. Er blickte auf, gen Horizont, und sah den Heartbreak Hill in seiner ganzen furchteinflößenden Länge dahinter verschwinden. Die 7 beschleunigte. Jetzt muss ich mithalten, dachte Sam und in seinem Kopf hallte das Bild des nicht enden wollenden Hügels nach wie ein Alptraum am Morgen.

Der Abstand zwischen der 7 und Sam wuchs an. Sams Waden schmerzten. Noch immer starrte er gen Horizont als erwarte er die Ankunft der rettenden Marine. Dann löste sich die Rückennummer seines Kontrahenten, wirbelte auf und landete feucht und weich in seinem Gesicht. Sam riss sich den Fetzen von den Augen.
Heiner biss in eine Wurst, dass das Fett an seinen Mundwinkeln herausspritzte. Bald würde Fußball kommen, und er erhöhte die Lautstärke des Radios.
Sam aber heftete seinen Blick wieder an die Fersen seines Kontrahenten. Was kümmert es mich, dass er immer mit der 7 aufkreuzt, dachte er. Was kümmert mich meine 113 oder 311. Da kamen die Hacken näher und der Seitenwind legte sich hinter Sams Rücken.

(fiktives Beispiel)

In dieser beispielhaften Kurzgeschichte geht es um Sam, der ein Rennen gewinnen will, aber vom Status seines Kontrahenten zu beeindruckt ist. Erst als dessen einstellige Rückennummer abreißt, wird Sam klar, dass er selbst alles mitbringt, um zu gewinnen. Und dann ist da noch Heiner, der am Streckenrand Würstchen grillt und sich auf Fußball freut.

Die Kurzgeschichte hat also drei Charaktere: Sam, Nummer 7 und Heiner. Sam ist der Protagonist, Nummer 7 der Antagonist. Was aber ist Heiner? Heiner erlebt seine eigene Geschichte. Seine Würstchen haben nichts mit dem Rennen zu tun, er scheint nur zufällig seinen Grill am Streckenrand angeheizt zu haben. Das ist völlig in Ordnung, wenn du in deiner Geschichte zwei Geschichten erzählen willst. Aber in einer Kurzgeschichte ist dafür kein Platz. Jeder Charakter muss die eine Geschichte vorantreiben, die du erzählen willst. Tut er das nicht, ist er entbehrlich und sollte gestrichen werden. Einen schönen umgekehrten Test bietet die Frage nach dem Risiko, das die Figuren eingehen. Haben sie keines, solltest du sie genauer unter die Lupe nehmen.

Personen sind keine Figuren

Das gilt natürlich nicht für Figuren, die als Teil der Szenerie beschrieben werden:

Ich sprach mit niemandem, wenn ich Bus fuhr. Nicht mit der Oma, die vorne neben dem Busfahrer saß und ihre Handtasche auf ihrem Schoß trug. Nicht mit dem Araber, der auf sein Handy starrte. Nicht mit den Schulkindern. Aber ich beobachtete sie genau. Und dann, wenn ich den Moment erkannte, stach ich zu. „Bss, Bss“, triumphierte ich.

(fiktives Beispiel)

Hier treten gleich drei Personen auf, die die Handlung nicht vorantreiben, allerdings sind die Worte „Charakter“ oder „Figur“ für diese Personen auch übertrieben: Es sind Statisten, sie bilden den Kontext und die Welt, in der die Geschichte spielt.

Was aber bedeutet Handlung vorantreiben? Es ist ganz einfach: Die Charaktere deiner Kurzgeschichte, die nicht Protagonist oder Antagonist sind, müssen den Fortschritt deines Protagonistens behindern oder befördern. Das ist alles.

Jeder Charakter braucht eine Funktion

Würde Heiner eines seiner Würstchen auf Sam werfen und ihn damit zur Besinnung bringen, könnte er Teil der Geschichte bleiben. Würde er die noch glühenden Kohlen achtlos auf die Strecke werfen und Sam deshalb buchstäblich über glühende Kohlen laufen müssen, um zu gewinnen – Heiner wäre gerettet. So aber bleibt ihm nur der Tod.

Die Anforderung an unsere Charaktere, den Protagonisten auf seinem Weg zum Ziel zu unterstützen oder zu behindern, engt die möglichen Arten von Nebenfiguren ein: Es gibt Mentoren (Obi-Wan Kenobi, Yoda), Helfershelfer des Antagonisten (Boba Fett), mentale Unterstützer (Galadriel im Traum, Obi-Wan als Machtwesen), Torwächter (Balrog, Watto), Geliebte (Arwen, Padme) u. v. m. Was es nicht gibt oder jedenfalls nicht geben sollte: Figuren, die einfach nur existieren. Schneide sie aus deinen Geschichten heraus.

Grundsätzliche Tipps und eine praktische Übung für das Verfassen von Kurzgeschichten findest du in diesem ausführlichen Artikel: Eine Kurzgeschichte schreiben.

Hast du einen Text geschrieben, der von einem Lektorat profitieren könnte? Informiere dich über alles, was du über das Lektorat literarischer Texte wissen musst. Oder schicke ihn an kontakt@lektorat-bauer.de und erhalte ein kostenloses Probelektorat samt unverbindlichem Angebot.
Deine Daten werden vertraulich behandelt.


Kategorien
Ein sehr guter Text Kurzgeschichten 101

Kurzgeschichte 101: Ideenfindung

Jede gute Kurzgeschichte basiert auf einer Idee. Diese Idee kann vielerlei Formen annehmen, so wie eine Kurzgeschichte von einer Emotion, einer Frage, einer vermeintlichen Antwort, einem Ort oder einer Figur handeln kann – und von vielem mehr. Allerdings hilft das dem angehenden Autor nicht weiter. Wie kommt man auf eine solche Idee? Gibt es Strukturen, anhand derer sich das Wesen einer solchen Idee verstehen und in der Folge leichter reproduzieren lässt? In diesem Essay will ich dir einige dieser Strukturen aufzeigen.

1. Halte Ausschau nach enttäuschbaren Erwartungen

Anton Tschechow liefert mit seiner Kurzgeschichte Wanka ein glänzendes Beispiel für eine solche Struktur [Spoilerwarnung].

In dieser Kurzgeschichte schreibt der 9-jährige Waise Wanka heimlich einen Brief an seinen Großvater. Darin bittet er ihn, sich bei ihm aufzunehmen, da ihn sein Lehrmeister schlecht behandelt und er der Hölle, in der er lebt, entkommen möchte. Dann steckt er den Brief in den Umschlag und beschriftet ihn: „An Großväterchen“.

Dem Leser wird nach der Schilderung von Wankas Leiden und bei aufkommendem Mitgefühl plötzlich klar: der Brief wird den Großvater nie erreichen. Ein Schlag in die Magengrube. Vorhang. Tusch. Ende der Kurzgeschichte.

Um das Großartige an Tschechows Geschichte zu beschreiben, ist es nicht nötig, auf seine Sprache oder seine Figur einzugehen. Das könnte man freilich tun, aber bereits die Idee allein genügt. Die Umsetzung in einen Text mit Sprache und Figuren folgt erst an zweiter Stelle. Am Anfang (und am Ende) steht die Idee.

2. Struktur & Motiv = Idee

Dabei lohnt ein genauerer Blick. Losgelöst von jeglichem Inhalt, passiert Folgendes: Eine Erwartung wird aufgebaut, Hoffnung, Mitgefühl – ehe alles jäh vernichtet wird. Das klingt banal und geradezu unterkomplex. Das ist es auch. Humor funktioniert oft ähnlich: Erwartung aufbauen, Erwartung überraschend enttäuschen. Diese Struktur mit Leben zu füllen, das heißt mit Motiven und Zusammenhängen, ist das eigentliche Kunststück. Nur weil du verstanden hast, wie Humor funktioniert, fallen dir noch keine guten Witze ein. Auch bei Tschechow ist es nicht die, einmal erkannt, simple Struktur allein, sondern die Kombination aus Struktur und Motiv.

Das Motiv, das die Struktur mit Leben füllt, ist kindliches Leid, das in der Abwesenheit von erwachsener Fürsorge nicht beendet werden kann. Doch Halt: Das Kind schreibt einen Brief. Und erbittet sich darin genau diese Fürsorge. Hoffnung keimt auf. Dann wird deutlich, dass das Kind zwar für sein Alter schon verdammt viel (zu viel) über den Schmerz weiß, aber nichts über die Mechaniken des Briefeschreibens. Die Adressierung des Briefes folgt kindlicher Naivität. Hier hat sie sich erhalten. Der Leser lässt alle Hoffnung fahren.

3. Der Struktur in den Kaninchenbau folgen

Nun kann eine solche Idee im Vorfeld feststehen oder erst beim Schreiben selbst entstehen. Ohne eine solche Idee (die, ich werde nicht müde, es zu betonen, unendliche Formen und Strukturen annehmen kann) wird deine Kurzgeschichte aber oft ins Leere laufen. Kein Tusch. Kein Ende. Sei daher wie Alice: Fang nicht irgendwo an zu graben, sondern warte auf ein Kaninchen, dem du in seinen Bau folgen kannst. Dieses Kaninchen ist die Struktur. Die Abenteuer, das Schrumpfen, Wachsen, die Grinsekatze – das sind die Motive.

Wenn du nach einer Idee für deine Kurzgeschichte suchst, versuche also, dich zunächst auf eine Struktur festzulegen (X aufbauen, damit Z machen; X zerstören, dabei Z aufbauen usw.) und diese dann mit passenden Motiven zu füllen. Etwa folgendermaßen:

Struktur: Unter großer Anstrengung versucht der Protagonist, X zu erreichen, indem er es erreicht, passiert jedoch Z und stürzt ihn ins Verderben.

Motiv: Man kann sein Leben für eine Aufgabe opfern, aber man kann nie gewiss sein, dabei das Richtige zu tun.

Idee: Hans baut jahrelang unter größter Mühe eine Brücke über den Fluss, nur um dann festzustellen, dass er den Schwarzen Reitern damit den Zugang zu seinem Dorf ermöglicht hat.

4. Artverwandt: Plot Points

Hilfreich dabei kann der erste Plot Point deiner Geschichte sein. Tschechows Kurzgeschichte ist so kompakt geschrieben und auf diese eine Wechselwirkung ausgelegt, dass sich ihn ihr kein rechter Plot Point ausmachen lässt. Nehmen wir daher Das Urteil von Franz Kafka.

Darin überlegt ein Mann lange, ob er seinem Freund in Sankt Petersburg von seiner Verlobung berichten soll. Als er sich schließlich dazu entschließt, berichtet er seinem Vater davon. Doch dieser stellt in Zweifel, ob es den Freund überhaupt gibt – der erste Plot Point. Auch hier zeigt sich also eine Entwicklung, die kurz darauf in ihr Gegenteil verkehrt wird. Die Geschichte nimmt so erst richtig Fahrt auf, wird verworrener, düster, bevor ein weiterer Plot Point das Ende einleitet.

Auf der Suche nach einer Idee solltest du dich jedoch zunächst nicht mit Plot Points befassen. Das gehört zur Umsetzung der Idee. Plot Points in Filmen oder Geschichten zu identifizieren, kann allerdings hilfreich sein, um das Wechselspiel zwischen Erwartung und Enttäuschung zu verinnerlichen.

Auf einer übergeordneten Ebene kann auch Das Urteil auf die Struktur X passiert, dann jedoch Z heruntergebrochen werden: Alles scheint in Ordnung, der Vater gibt den Staffelstab allmählich weiter und der Sohn leitet die Geschäfte mit zunehmender Dominanz – dann aber kommt alles ganz anders, der Vater deckt geheime Machenschaften des Sohnes auf und verurteilt ihn zum Tode.

5. Eine ausbuchstabierte Idee: Die Log Line

Die Log Line fasst die Handlung deiner Geschichte, abgesehen vom Ende, in einem prägnanten Satz zusammen. Sich eine solche zu überlegen, ist sehr hilfreich für jede Art von Geschichte, aber auch für Kurzgeschichten im Speziellen. Deshalb habe ich der Log Line einen eigenen, umfangreichen Artikel gewidmet. An dieser Stelle sei daher nur gesagt, dass die Idee zu einer Kurzgeschichte nicht alle Elemente einer Logline enthält, während die Log Line, bis auf das Ende, alle Elemente der Idee umfasst. Ein Beispiel: Max Frischs Der andorranische Jude.

Struktur: Der Protagonist sieht sich aufgrund seiner Eigenschaft Z der Behandlung X ausgesetzt, bis schließlich herauskommt, dass er Z gar nicht besaß.

Motiv: Nationalitäten, Vorurteile, Rassismus, Antisemitismus und die Blindheit, die sie in einem hervorrufen.

Idee: Ein Jude wird von seiner Gemeinschaft ausgegrenzt und missachtet, eben weil er Jude ist, bis er schließlich von einem Teil dieser Gemeinschaft getötet wird. Später erfährt man, dass er ein Findelkind gewesen ist, und somit Einheimischer wie alle anderen.

Die Log Line hingegen enthält noch weitere Elemente.

Log Line: Als ein Jude in Andorra aufgrund seiner Herkunft von der dortigen Gemeinschaft missachtet wird, beginnt er, an sich zu zweifeln und zunehmend die ihm zugeschriebenen Eigenschaften zu übernehmen, obwohl er doch eigentlich nur dazugehören will – was die Abneigung gegen ihn nur weiter verschärft.

Die Log Line ist also deutlich handlungsbezogener: Der Protagonist und seine Schwächen werden betont, sein Ziel, das dafür angewandte Mittel und das auftauchende Hindernis. So etwas denkt man sich nicht aus, bevor man eine Ahnung hat, welche Struktur, welches Motiv und damit welche Idee man seiner Kurzgeschichte überhaupt zugrundelegt. Im Nachhinein ist die Log Line jedoch ein hervorragendes Werkzeug, um die Stimmigkeit und Geschlossenheit der eigenen Geschichte zu überprüfen: Fällt es dir leicht, eine Log Line zu formulieren?

6. Ist das nicht alles zu technisch?

Stimmt schon: Wenn wir an Literatur und an den Kuss der Muse denken, haben wir nicht irgendwelche abstrakten, inhaltsleeren Strukurdimensionen im Kopf.

Aber du hast diesen Artikel angeklickt, weil es dir schwerfällt, Ideen zu entwickeln. Das bedeutet übersetzt: Du hast deren Zusammensetzung noch nicht verinnerlicht. Es ist wie beim Fußball. Natürlich wollen wir gerne den neuesten Trick von Ronaldo nachahmen und unseren Gegenspieler spektakulär aussteigen lassen. Und wenn wir das tun, können wir auch nicht mehr über die einzelnen Schritte nachdenken, dann geht es ruckzuck, instinktiv. Aber um den Trick zu lernen, müssen wir uns anschauen, wann wir mit welchem Teil des Fußes wo den Ball berühren müssen.

Genau dabei hilft dir dieser Artikel. In der folgenden Grafik sind noch ein paar Beispiele aufgeführt, wie sich aus Struktur und Motiv eine Idee ergibt:

Kurzgeschichte Idee

Solltest du noch anderweitig Schwierigkeiten mit dem Verfassen einer Kurzgeschichte haben, hilft dir mein Artikel über grundsätzliche Tipps samt praktischer Übung weiter: Eine Kurzgeschichte schreiben.

Hast du bereits einen Text geschrieben, der von einem Lektorat profitieren könnte? Informiere dich über alles, was du über das Lektorat literarischer Texte wissen musst. Oder schicke ihn an kontakt@lektorat-bauer.de und erhalte ein kostenloses Probelektorat samt unverbindlichem Angebot.
Deine Daten werden vertraulich behandelt.

Kategorien
Ein sehr guter Text Kurzgeschichten 101

Kurzgeschichte 101: Aufbau und Plot Point

Eine Kurzgeschichte ist verdichtetes Erzählen: die Dinge passieren schnell, sie beginnen unvermittelt und laufen auf eine einzige Sache hin, ein Gefühl, eine Pointe. Das stellt dich als Autor vor diverse Herausforderungen. Wie in der Kürze der Zeit prägnante Figuren einführen? Wie eine Handlung vorantreiben? Wie den Leser in die Welt der Geschichte eintauchen lassen? Was ist zu vermeiden?

Kondensierte Exposition

Doch die grundlegende Voraussetzung für das Gelingen einer jeden Kurzgeschichte ist ihr Aufbau. Anfang, Mittelteil und Schluss stellen besondere Anforderungen, anders als bei einem großen Roman. In diesem Artikel geht es um die gelungene Exposition und den richtigen Einsatz des ersten Plot Points, ohne die eine Kurzgeschichte nicht funktioniert (was gelogen ist, denn es gibt viele exzellente „Kurzgeschichten“, also Texte ohne echte Handlung). Als Beispielwerk wird Roald Dahls Lamb to the Slaughter (Lammkeule in der deutschen Übersetzung) herangezogen.

Lamb to the Slaughter ist ein glänzendes Beispiel für eine rasante, eindringliche Exposition, auf die ein erschütternder erster Plot Point folgt. Plot Points sind die Punkte in einer Geschichte, an denen sich die Handlung unerwartet dreht, nachdem der sogenannte Inciting Incident sie zuvor in Gang gesetzt hat. Roald Dahl liefert hierzu ein Beispiel par excellence. Den Anfang macht eine grandiose Charaktereinführung:

Hin und wieder blinzelte sie zur Uhr hinüber, aber ohne jede Sorge, sondern bloß um sich an dem Gedanken zu erfreuen, dass jede verstreichende Minute sie näher an den Punkt brachte, an dem er nach Hause kommen würde.

Roald Dahl, Lamb to the Slaugther (eigene Übersetzung)

Dahl etabliert in dieser Exposition mit wenigen Pinselstrichen das Bild einer idyllischen Ehe und einer fürsorglichen Gattin, die im Übrigen im 6. Monat schwanger ist, ihrem Mann bei dessen Ankunft verständnisvoll einen Drink reicht und wartet, bis er nach seinem langen und harten Arbeitstag zum Reden bereit ist. Wie das Zitat verdeutlicht, hilft ihm eine beeindruckende Präzision in der Beschreibung des vermeintlich Alltäglichen dabei, dies innerhalb weniger Zeilen zu bewerkstelligen. Dann passiert das beim Lesen der Kurzgeschichte wunderbar Irritierende: Ihr Mann muss ihr etwas sagen (Inciting Incident). Eingeleitet wird diese Irritation durch einen Bruch mit der Routine:

Und während er sprach, tat er etwas Ungewöhnliches. Er hob sein Glas und leerte es in einem Schluck, obwohl noch die Hälfte, mindestens die Hälfte davon übrig war.

Roald Dahl, Lamb to the Slaugther (eigene Übersetzung)

Der Leser weiß nun, dass sich etwas anbahnt, ein Unheil, und die Geschichte beginnt ihn zu interessieren, wo ihn zuvor nur die aufopferungsvolle Hausfrau interessierte (was aber ebenfalls ein Kunststück Dahls darstellt). Darauf folgt der erste Plot Point (sein Inhalt sei hier verschwiegen, lies die Geschichte!), den ich deshalb auch Gaspedal nenne – an diesem Punkt beschleunigt die Kurzgeschichte und gewinnt an Fahrt.

Genauer betrachtet, etabliert Dahl mit seiner Exposition neben der Figur der Ehefrau und des Ehemanns und ihres Verhältnisses zueinander zunächst ein bestimmtes Bild, um genau dieses Bild dann im nächsten Moment in Zweifel zu ziehen und zu bedrohen. Dadurch entsteht Dramatik.

Gas geben

Ein simples Beispiel für diese Vorgehensweise wäre folgender Beginn einer Kurzgeschichte:

Schon hunderte Male hatte ich das Seil an den Felsvorsprung geknotet, hunderte Male hatte ich es danach und vor dem Abseilen geprüft, kannte den Stein und das Seil inzwischen wie Bruder und Schwester und war doch nie eine Spur nachlässig geworden, hatte nie Routine mit Überheblichkeit verwechselt. Und so folgte ich auch diesmal dem Protokoll.

Auf halbem Weg ins Tal, irgendwo zwischen Meter 120 und 150, vernahm ich einen seltsamen Schatten oben am Felsvorsprung. Ich warf den Kopf in den Nacken, um den Stand der Sonne zu prüfen, glitt mit meinem Blick die Baumkronen entlang, um die Ursache dieses Schattens auszumachen, als sich dieser in Bewegung setzte.

(fiktives Beispiel)

Dieses sehr einfache Beispiel zeigt das Prinzip: Etablierung eines bestimmten Zustands, gefolgt von der Bedrohung dieses Zustands. In diesem Fall: ein routinierter Kletterer, der keine Fehler macht, gefolgt von einem Schatten (einer Person?) am anderen Ende des Seils. Hat er doch einen Fehler gemacht? Was wird nun passieren? Plötzlich ist die Geschichte in Bewegung gekommen – und der Leser ist eingestiegen. Der erste Plot Point lautet: Der Schatten bewegt sich.

Die große Kunst besteht nun darin, bereits die Exposition anregend zu gestalten und tatsächlich interessante Figuren zu zeigen, bevor es überhaupt zum ersten Plot Point kommt. Grundsätzlich aber gilt der einfache Grundsatz: Als Autor einer handlungsgetriebenen Kurzgeschichte ziehst du an einem Seil, und dann, kurz darauf, ziehst du es in die entgegengesetzte Richtung. Ein Meister dieser Vorgehensweise war Anton Tschechow, dessen Geschichte Wanka ich in einem Essay zur Ideenfindung für eine Kurzgeschichte analysiere.

Grundsätzliche Tipps und eine praktische Übung für das Verfassen von Kurzgeschichten findest du in diesem ausführlichen Artikel: Eine Kurzgeschichte schreiben.

Hast du einen Text geschrieben, der von einem Lektorat profitieren könnte? Informiere dich über alles, was du über das Lektorat literarischer Texte wissen musst. Oder schicke ihn an kontakt@lektorat-bauer.de und erhalte ein kostenloses Probelektorat samt unverbindlichem Angebot.
Deine Daten werden vertraulich behandelt.

Kategorien
Ein sehr guter Text Wissenschaftliche Arbeiten

Der perfekte Aufbau deiner Bachelorarbeit

Eine Bachelorarbeit steht und fällt mit ihrem Aufbau. Aber wie entwickelt man aus einem Thema eine Struktur, die 40, 60 oder 80 Seiten Abschlussarbeit tragen kann? Und wie entsteht der sagenumwobene rote Faden? Diese Anleitung soll dir diese Fragen beantworten.

1. Das Thema:

Am Anfang deiner Bachelorarbeit steht das Thema. Das Thema ist noch keine ausformulierte Forschungsfrage und umfasst auch nicht die zugrundeliegende Problemlage. Vielmehr ist es eine grobe Eingrenzung des Bereichs, der dich in deiner Abschlussarbeit beschäftigen wird. Als BWL-Student kannst du bpsw. das Thema Mitarbeiterführung wählen, idealerweise, weil dich das immer schon interessiert hat. Als Philosophie-Student entscheidest du dich vielleicht für Tierethik und die Frage, ob man Tiere essen sollte. Dein Freund ist nämlich gerade Veganerin geworden und hält sich nun für moralisch überlegen. Das ist jeweils der grobe erste Schritt.

Anschließend solltest du damit beginnen, dich in das Thema einzulesen: Du leihst in der Bibliothek ein paar Klassiker aus oder suchst im Internet nach entsprechenden Quellen. Das sind meist Bücher, die bereits in der 12. Auflage erschienen sind und/oder schon in deinen Vorlesungen erwähnt wurden. Also etwa ein Sammelband aus dem Reclam-Verlag zum Thema Tierethik (gelb, kleine Schrift, guter Überblick) oder das Handbuch Mitarbeiterführung des Springer-Verlags. Anhand dieser eingehenderen Beschäftigung mit dem gewählten Thema sollte es dir gelingen, das Thema weiter einzugrenzen. Vielleich interessiert dich insbesondere die Mitarbeiterführung unter dem Aspekt der Diversity. Oder Peter Singer hat es dir angetan, weil wegen ihm sogar du ins Grübeln kommst, ob das Fleisch auf deinem Teller moralisch vertretbar ist.

Jetzt weißt du also, dass du über Peter Singers Tierethik schreiben möchtest. Oder über Diversity in KMUs in Bezug auf Mitarbeiterführung. Das ist das Thema deiner Bachelorarbeit. Aber das ist noch keine Frage – geschweige denn eine Problematik. Und damit noch kein Aufbau.

2. Die Problemlage

In den Einleitungen von Bachelorarbeiten lese ich sehr oft Sätze dieser Art:

Ich möchte über den Aspekt der Diversity in KMUs schreiben, da mich die Frage nach dem Umgang von Führungskräften mit Diversity sehr interessiert.

fiktives Beispiel

Ich lösche diese Sätze dann immer. Weshalb?

Eine Bachelorarbeit ist eine wissenschaftliche Arbeit. Die beiden wichtigsten Merkmale einer wissenschaftlichen Arbeit sind ihre Objektivität und ihr Erkenntnisinteresse. Wer aber einen Satz wie den obigen in seine Einleitung schreibt, verkündet schamlos: Ich will weder etwas herausfinden, noch ist mir klar, wieso meine Arbeit für irgendwen von Relevanz sein wird. Aber es interessiert mich halt.

Sei nicht so egoistisch. Sei eine Wissenschaftlerin.

Der Weg dorthin führt über die Problemlage. Warum ist das von dir gewählte Thema für die Menschheit relevant? Lässt sich damit ein Problem lösen? Licht ins Dunkel bringen? Eine dringende Frage beantworten?

Im gewählten Beispiel könnte das wie folgt aussehen (sehr kurz gefasst):

Diversity wird in einer globalisierten Welt ein immer wichtigerer Faktor für Unternehmen und damit auch für deren Führungskräfte. Insbesondere KMUs stehen vor der Herausforderung, die durch eine diverse Belegschaft vorhandenen Potentiale zu bündeln und als Ressource zu erschließen. Deshalb behandelt die vorliegende Arbeit die Mitarbeiterführung in KMUs unter dem Aspekt der Diversity.

fiktives Beispiel

Zwei Sätze Problemlage (erster Satz: Diversity ist wichtig! – zweiter Satz: vor allem in KMUs!), ein Satz Thema. Und nicht ein einziges Mal taucht das böse Wörtchen „Ich“ auf. Durch die Erläuterung der Problemlage wird deine Themenwahl motiviert. Denn die Problemlage stellt ein Bedürfnis dar: KMUs sollten den Aspekt der Diversity berücksichtigen. Wie machen sie das am besten? Vielleicht sollte man eine Bachelorarbeit darüber schreiben.

Mit der Problemlage verkaufst du also der Welt dein Thema. Du zeigst ein Bedürfnis auf und lieferst die Lösung (deine Bachelorarbeit). Der persönlich motivierte Satz zuvor hat hingegen kein Bedürnifs aufgezeigt und deshalb auch keine Lösung – höchstens privater Natur.

Die hohe Kunst ist es nun, das Thema verschwinden zu lassen. Also den Satz, der das Thema nennt. Denn eigentlich behandelt deine Bachelorarbeit ja eine Forschungsfrage. Wir erinnern uns: Das Thema bezeichnet nur das grobe Feld deiner Untersuchung.

3. Die Forschungsfrage deiner Bachelorarbeit

Die Forschungsfrage ergibt sich aus der Themenwahl, der weiteren Eingrenzung und der dabei aufgedeckten Problemlage. Sie muss in der Einleitung gestellt, im Hauptteil untersucht und im Fazit beantwortet werden. Ohne explizite Forschungsfrage verfügen deshalb die allermeisten Abschlussarbeiten auch nicht über einen gelungenen Aufbau. Umgekehrt ergibt sich aus einer klaren Forschungsfrage fast automatisch ein roter Faden.

Forschungsfragen können eher breit gefasst sein („Wie sollten KMU den Aspekt der Diversity in ihre Mitarbeiterführung integrieren?“) oder sehr spezifisch werden („Überzeugt Peter Singers Argument für Menschenrechte für Menschenaffen?“). Je breiter gefasst die Forschungsfrage deiner Bachelorarbeit ist, desto mehr geschriebene Seiten wird sie in der Regel auch produzieren. Was positiv klingt, kann aber auch ein Fallstrick werden. Denn der rote Faden geht mit einer sehr breiten Forschungsfrage leichter verloren. Die Forschungsfrage rundet die zentralen Sätze deiner Einleitung ab:

Diversity wird in einer globalisierten Welt ein immer wichtigerer Faktor für Unternehmen und damit auch für deren Führungskräfte. Insbesondere KMUs stehen vor der Herausforderung, die durch eine diverse Belegschaft vorhandenen Potentiale zu bündeln und als Ressource zu erschließen. Die vorliegende Arbeit will daher die Frage beantworten, wie es KMUs am besten gelingen kann, Diversity in ihre Mitarbeiterführung zu integrieren.

fiktives Beispiel

Der fett markierte Satz formuliert die Forschungsfrage und ersetzt dabei die bloße Nennung des Themas. Das Thema gesondert zu nennen, wird also durch die Forschungsfrage überflüssig. Umgekehrt gilt daher: Wenn du das Gefühl hast, dein Thema explizit benennen zu müssen, ist deine Forschungsfrage womöglich nicht konkret genug oder nicht ausreichend motiviert.

Die Einleitung endet mit einem kurzen Abriss des Verlaufs deiner Arbeit:

Zu diesem Zweck wird in Kapitel 2 zunächst… Kapitel 3 stellt die Methode vor, bevor in Kapitel 4… Die Arbeit schließt mit einem Fazit.

fiktives Beispiel

Wenn du Probleme hast, eine geeignete Forschungsfrage zu formulieren, findest du in diesem Artikel eine hilfreiche Anleitung: Die Fragestellung deiner Bachelorarbeit finden.

4. Der rote Faden

Wie von Zauberhand ergibt sich nun auch ein roter Faden: Nachdem du in der Einleitung zum Thema hingeführt, eine Problemlage beschrieben und eine Forschungsfrage aufgestellt hast, musst du im Hauptteil alles daran setzen, diese Frage zu beantworten.

Dafür müssen die Begriffe eindeutig definiert sein: Was ist unter Diversity zu verstehen? Was ist mit Mitarbeiterführung gemeint? Mit dieser Klärung der Begriffe beginnt der Hauptteil.

Erst danach kannst du dich mit der eigentlichen Beantwortung deiner Frage befassen. Zunächst gilt es, dir über die Methodik klar zu werden. Wirst du deine Antwort in der Literatur finden? Musst du empirisch arbeiten und Interviews durchführen? Wähle die Methodik, die dir am geeignetsten erscheint, um deine Forschungsfrage zu beantworten. Erst wenn du das getan hast, haust du wieder in die Tasten: Stelle deine Methodik vor, erläutere sie und motiviere sie.

Anschließend wirst du das tun, was deine Methodik von dir verlangt: Fragebögen vorstellen, auswerten und interpretieren oder die Klassiker der „Diversity“-Literatur auf Antworten zu deiner Forschungsfrage abklopfen, gegenteilige Meinungen einander gegenüberstellen und kritisch hinterfragen.

Im Idealfall folgt aus dieser Umsetzung deiner Methodik eine Antwort, die dich zum Schlussteil deiner Arbeit führt:

Die Auswertung der Literatur / der empirischen Erhebung hat ergeben, dass Führungskräfte in KMUs in Bezug auf Diversity eher zurückhaltend vorgehen sollten, da Mitarbeiter sich oftmals bevormundet fühlen und fürchten, auf ihre Herkunft reduziert zu werden, wenn Diversity seitens der Abteilungsleiter überbetont wird. Christensen (2014) hat dahingehend festgestellt, dass… Insgesamt ist daher festzustellen, dass Diversity in KMUs…

fiktives Beispiel

5. Fazit

Der Aufbau deiner Bachelorarbeit steht und fällt also mit deiner Fähigkeit, eine konkrete Forschungsfrage zu formulieren. Der Weg dahin führt über eine intensive initiale Auseinandersetzung mit deinem Thema, die es dir erlaubt, Leerstellen und Probleme innerhalb dieses Themas zu erkennen. Singers Argument ist fast 50 Jahre alt, ist es überhaupt noch aktuell? KMUs sind besonders auf ihre Belegschaft angewiesen, gleichzeitig werden diese immer diverser. Ist das ein Problem? Diese Problemlagen motivieren deine Forschungsfrage. Mit der Forschungsfrage beginnt dann deine kreative Eigenleistung: Wie kann ich diese Frage beantworten? Mitunter ist sogar die Frage selbst schon kreativ, weil du eine Lücke ausmachst, die zuvor niemand gesehen hat. Aber das darfst du dir auch für die Masterarbeit oder deine Dissertation aufheben.

Über die gewählte Methodik und deren Umsetzung gelangst du im Idealfall zu einer Antwort. Diese gibst du im Schlussteil deiner Arbeit. Das ist der ganze Trick: Frage stellen, alles tun um sie zu beantworten, Frage beantworten. Viel Erfolg!

Hast du einen Text geschrieben, der von einem wissenschaftlichen Lektorat profitieren könnte? Schicke ihn jetzt an kontakt@lektorat-bauer.de und erhalte ein kurzes Probelektorat samt unverbindlichem Angebot.
Deine Daten werden vertraulich behandelt.

Kategorien
Ein sehr guter Text Prosa

Charaktereinführung: Wie Figuren überlebensgroß werden

Die Charaktereinführung entscheidet darüber, wie der Leser auf die entsprechende Figur reagiert: der erste Eindruck ist ein bleibender. Umso wichtiger ist es, deine Charaktere so einzuführen, dass sie die von dir beabsichtigte Wirkung erzielen und nicht auf Seite 100 plötzlich zur Bedrohung werden, obwohl du sie drei Kapitel lang als liebevolle Familienväter vorgestellt hast, die keiner Mücke etwas antun könnten.

Je nach Rolle der Figur verfolgt die Charaktereinführung unterschiedliche Ziele. Bei einem klassischen Antagonisten sind die wesentlichen Funktionen der Figur einleuchtend: Er sollte auf irgendeine Weise bedrohlich wirken, ein Überzeugungstäter sein und die Schwäche deines Protagonisten auszunutzen wissen. All das kannst du binnen weniger Seiten etablieren. Aber wie macht man das?

Beispiel 1: Captain Hook

Er fragte, ob gerade viele Piraten auf der Insel wären, und Peter sagte, er habe noch nie soviele gekannt.
“Wer ist gerade Kapitän?”
“Hook,” antwortete Peter, und sein Gesicht wurde sehr ernst als er dieses verhasste Wort aussprach.
“Ohje! Hook?”
“Ay.”
Dann fing Michael tatsächlich an zu weinen, und selbst John konnte nur in Schlucklauten sprechen, denn sie kannten Hooks Ruf.
“Er war Blackbarts Bootsmann” flüsterte John heiser. “Er ist der schlimmste von allen. Der einzige Mann den Long John Silver fürchtete.”
“Das ist er”, sagte Peter.
“Wie ist er so? Ist er groß?”
“Nicht so groß wie er war.”
“Wie meinst du das?”
“Ich habe ein Stück von ihm abgeschnitten.”
“Du!”
“Ja, ich”, sagte Peter scharf.
“Ich wollte nicht respektlos sein.”
“Oh, schon gut.”
“Aber, welches Stück?”
“Seine rechte Hand.”
“Dann kann er nicht mehr kämpfen?”
“Oh, das kann er!”
“Linkshänder?”
“Er hat einen eisernen Haken statt der rechten Hand, und damit haut er zu!”
“Haut!”
“Sag mal, John,” sagte Peter.
“Ja.”
“Sag, ‚Ay, ay, sir.’”
“Ay, ay, sir.”
“Es gibt eine Sache”, fuhrt Peter fort, “die mir jeder Junge, der unter mir dient versprechen muss, also auch du.”
John erblasste.
“Und zwar das: Wenn wir Hook in einem offenen Kampf treffen, musst du ihn mir überlassen.”

J. M. Barrie, Peter Pan (eigene Übersetzung)

Peter Pans Erzfeind Captain Hook wird in dieser kurzen Szene eingeführt, ohne auf der Bildfläche zu erscheinen. Der kleine John wirkt hierbei als Verstärker der von Peter berichteten Einzelheiten zu Hook: er erschrickt, erblasst, wiederholt einzelne Wörter. So werden die Informationen emotionalisiert und Hook erscheint bedrohlicher als ohnehin schon – schließlich fürchtete ihn sogar Long John Silver.

Bereits die allererste Information – wer ist Kapitän? – wird auf diese Weise aufgeladen. Die Kinder reagieren allein auf diesen Namen mit Entsetzen, “sie kannten Hooks Ruf“. Als Leser will man zwangsläufig mehr erfahren über diesen Piraten und entwickelt gleichzeitig selbst eine gewisse Furcht: Hoffentlich kann Pan diesem Schurken das Handwerk legen.

Aber ein Schurke ist nichts ohne den Protagonisten und umgekehrt. Deshalb hat der Autor J. M. Barrie auch an die Beziehung der beiden gedacht. Und wie hätte er diese eindrucksvoller bebildern können als durch den Ausruf Peters: “Ich habe ein Stück von ihm abgeschnitten.“

Das etabliert einerseits eine enge, persönliche Beziehung zwischen den beiden, fast wie zwischen Captain Ahab und Moby Dick. Hier geht es nicht nur um Gut gegen Böse. Die Angelegenheit ist privat. Andererseits ist sonnenklar: dieser Kampf geht bis aufs Blut.

Dieser Eindruck wird durch die geniale Schlusshandlung der Szene abermals verstärkt: John muss Peter versprechen, Hook in jedem Fall Peter zu überlassen, wenn es zum Kampf kommt. Das wiederum ist selbst ein Versprechen: Dieser Kampf wird kommen.

Eine gelungene Charaktereinführung präsentiert also den Charakter selbst, die Beziehung des Charakters zum Rest der Geschichte und ein Versprechen, d. h. ein Spannungselement. All dies geschieht natürlich via Informationen, die dem Leser übermittelt werden. Aber niemals werden einfach nur Informationen aneinandergereiht und erst recht nicht alle erdenklichen. Im zitierten Beispiel weiß der Leser bisher nicht besonders viel über Hook: Er ist Kapitän, hat einen Haken als Hand, sein Ruf eilt ihm voraus und er und Peter sind Erzfeinde. Dass er schwarze Locken hat, einen treuen Freund Smie und dass er die Kinder entführen will – davon ahnt der Leser nichts.

Beispiel 2: Alice im Wunderland

Alice was beginning to get very tired of sitting by her sister on the bank, and of having nothing to do: once or twice she had peeped into the book her sister was reading, but it had no pictures or conversations in it, “and what is the use of a book,” thought Alice, “without pictures or conversations ?”

Lewis Caroll, Alice im Wunderland

Mit diesem Absatz beginnt Lewis Caroll seine Geschichte über Alice und ihre Abenteuer im Wunderland. Gleichzeitig beginnt damit auch die Charaktereinführung seiner Protagonistin Alice. Der Protagonist sollte in der Regel sympathisch sein, eine Schwäche sein Eigen nennen und einen Wunsch haben. All das etabliert Caroll in diesem kleinen Absatz: Der Leser kann nachempfinden, wie langweilig so ein Buch ohne Bilder sein muss, so ging es ihm auch oft als er klein war. Zudem ist Alice herzhaft unbedarft. Allerdings könnte das auch eine verhängnisvolle Schwäche sein. Und was machen kleine Kinder, die der Langeweile entkommen möchten? Nun, mitunter laufen sie dem nächstbesten Kaninchen hinterher.

Ein paar Absätze und Meter unter der Erde weiter kommt es zum ersten Pay-Off der gezeigten Charaktereinführung:

[T]his time she founda little bottle on it […] and tied round the neck of the bottle was a paper label with the words “DRINK ME” beautifully printed on it in large letters. It was all very well to say “Drink me,” but the wise little Alice was not going to do that in a hurry: “no, I’ll look first,” she said, “and see whether it ’s marked ‘poison’ or not.”

Lewis Caroll, Alice im Wunderland

Alice‘ Unbedarftheit verführt sie dazu, das Fläschchen auszutrinken – gleichzeitig bleibt sie dabei herzhaft sympathisch und ihr Ziel, die Langeweile loszuwerden, rückt näher. Caroll beweist hierbei sein komödiantisches Talent (und nicht nur hier): das Wörtchen „wise“ bereitetet den Leser darauf vor, dass Alice doch wohl nicht so dumm sein wird, diese Tinktur zu trinken. Allerdings entpuppt sich Alice‘ Weisheit als blindes Vertrauen in den Hersteller des Tranks – urkomisch. Caroll folgt dabei dem Dreischritt der Komik – Erwartung, Enttäuschung, Gelächter – und heftet einen weiteren Sympathiepunkt an seine Protagonistin.

Beispielhafte Charaktereinführung:

Für die Einführung deiner Figuren sind also nicht viele Worte nötig. Es kommt auf die Effektivität der wenigen Worte an, die du verwendest. Effektivität wiederum ist das Produkt aus Relevanz und Charme. Was bedeutet das jenseits des Genius von Jahrhundertautoren? Sehen wir uns ein fiktives Beispiel an:

Max malte gerne mit Wachsmalstiften, am liebsten Tiere. Haare malte er als kleine Dreiecke. Füße als Klumpen. Zähne sahen wie Haare aus, nur ragten sie aus den Mäulern. Gegen 13 Uhr war der Kindergarten aus. Schade.

fiktives Beispiel

Hier sind bereits einige Motive angelegt: Max‘ mangelnde Malkunst versprüht etwas von dem Charme, der von Alice‘ Unbedarftheit ausgeht. Offenbar geht er in den Kindergarten. Er mag den Kindergarten – aber all das genügt nicht, um den Charakter wirklich effektiv einzuführen. Die Relevanz der Informationen bleibt zu diffus und der Charme könnte noch deutlicher hervortreten:

Haare malte Max als kleine Dreiecke. Füße als Klumpen. Deshalb besuchten alle Tiere in Max‘ Wachsmalzoo den Orthopäden, sogar die zierlichen Antilopen. Zähne sahen wie Haare aus, nur im Mund drin. Um 13 Uhr stand Max‘ Mutter vor dem Kindergarten. Die hatte Haare auf den Zähnen.

fiktives Beispiel

Weit entfernt von Perfektion gelingt dieser zweiten Version etwas entscheidendes für eine gelungene Charaktereinführung: die vermittelten Informationen (Max kann nicht malen, geht in den Kindergarten, mag den Kindergarten) werden indirekt vermittelt, also mit Charme. Sollte später in der Geschichte auf Wachsmalstifte, 13 Uhr oder Haare und Zähne und deren Verwandschaft zurückgegriffen werden, dann wird das elegant anmuten, nicht konstruiert. Denn all diese Dinge wurden beiläufig mitgeteilt, als Teil eines größeren Bildes, bisweilen gar als erster Pay-Off (das mit den Haaren auf den Zähnen).

Außerdem mag der Leser Max. Wir mögen das Unperfekte und wir mögen nachvollziehbare Wünsche. Über beides verfügt Max. Das wissen wir bereits nach einem Absatz. So hat unbemerkt auch die Relevanz Einzug gehalten: Max will lieber nicht nach draußen zu seiner Mutter, er will weiter Tiere mit Dreiecken auf dem Kopf malen. Vielleicht ist das Verhältnis der beiden schwierig. Und hat Max zuhause etwa keine Wachsmalstifte?

Hast du einen Text geschrieben, der von einem Lektorat profitieren könnte? Informiere dich über alles, was du über das Lektorat eines Romans wissen musst. Oder schicke ihn an kontakt@lektorat-bauer.de und erhalte ein kostenloses Probelektorat samt unverbindlichem Angebot.
Deine Daten werden vertraulich behandelt.

Kategorien
Allgemeine Schreibtipps Ein sehr guter Text Prosa

Figurenentwicklung: Alle Figuren müssen etwas riskieren

Figuren verfolgen Ziele. Luke Skywalker will den Todesstern zerstören, Will Smith will die Welt retten, Sigourney Weaver will dem Alien entkommen. Aber ein Ziel allein macht noch keinen Plot. Wäre der Todesstern unbewacht und unbewaffnet, würde Luke einfach hinfliegen, seine Raketen abfeuern und niemand hätte uns je davon erzählt. Für eine gelungene Figurenentwicklung ist es daher unerlässlich, das Verfolgen des Ziels mit einem Risiko aufzuladen. Luke droht im Kampf um den Todesstern der Tod und damit das Scheitern der Rebellion – gleichbedeutend mit ewiger imperialischer Tyrannei. Versagt Luke, lässt er seine Freunde im Stich, die auf ihn und die Macht zählen. Sigourney Weaver hat es da einfacher: Sie riskiert bloß ihr Leben, ganz genregetreu.

Die große Kunst der Figurenentwicklung ist es jedoch, sich dabei nicht nur auf den Protagonisten zu konzentrieren. Für jede deiner Figuren sollte etwas auf dem Spiel stehen. Auch für die Bösen unter ihnen. Sie alle müssen ihre Haut zu Markte tragen.

Ein formvollendetes Beispiel für diesen Teil der Figurenentwicklung liefert das 2016 mit dem Oscar für den besten Film ausgezeichnete Journalistendrama Spotlight (leichte Spoiler im weiteren Verlauf).

Die investigative Abteilung des Boston Globe besteht aus vier Journalisten: Michael Keaton als deren Chef, Mark Ruffalo als ehrgeiziger Schreiberling, Rachel McAdams als einfühlsame Reporterin und Brian d’Arcy James als Mann für die Recherche. Alle vier Figuren verfolgen dasselbe Ziel. Sie wollen den Missbrauchskandal aufdecken, der die katholischen Priester in Boston zu betreffen scheint. Und alle vier Figuren nehmen dabei ganz persönliche Risiken in Kauf.

Persönliches Risiko > Allgemeines Risiko

Keatons Figur muss sich von alten Freunden abwenden und wird als Verantwortlicher seitens der Kirche unter Druck gesetzt. Ruffalos Charakter stammt selbst aus dem Milieu, in dem die Priester auf Beutefang gingen und riskiert die eigene Integrität. McAdams Figur hat den von ihr aufgespürten Opfern versprochen, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Und d’Arcy James Figur wohnt mit seinen Kindern gegenüber einem Haus für auffällig gewordene Priester. Über allen schwebt zudem der drohende Jobverlust. Die Verleger haben einen neuen Herausgeber eingesetzt, der alles auf den Prüfstand stellen soll. Auch den Luxus, sich eine eigene Investigativ-Abteilung zu leisten.

Die Figurenentwicklung in Spotlight ist sogar so formvollendet, dass eben jener neue Herausgeber (Liev Schreiber) als einziger Charakter kein Risiko trägt. Er stammt nicht aus Boston, ist ohnehin gut situiert und zudem Jude. Oder birgt gerade das ein Risiko für ihn?

Nimmt man den Figuren ihre persönlichen Einsätze, erhält man austauschbare Schablonen, die einfach gewinnen wollen, der guten Sache wegen. Aber das reicht nicht, um den Leser zu fesseln. Erst durch den Kniff, alle Figuren mit hohen Einsätzen spielen zu lassen, steht auch in jeder Szene etwas auf dem Spiel. Ruffalo kommt nicht an die geheimen Unterlagen – aber er darf seine Leute nicht im Stich lassen. McAdams muss die Recherchen einstellen – hat aber doch den traumatisierten Opfern ihr Wort gegeben. D’arcy James muss Stillschweigen bewahren – aber in seiner Nachbarschaft leben pädophile Priester.

Auch wissenschaftliche Arbeiten kennen Risiko

In nicht-fiktiven Texten haben wir es zwar selten mit ausgedachten Figuren zu tun, aber selbst hier hilft es, die Risiken der Beteiligten (die Protagonisten eines Artikels, einer Debatte, historische Persönlichkeiten) zu verdeutlichen. Deine Arbeit über Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft kann einfach dessen Ziel darstellen (Was können wir wissen?) und wird damit dem Forschungsinteresse genügen. Wenn es dir aber gelingt, einzufangen, was dabei auf dem Spiel steht (Kann es überhaupt Metaphysik geben? Hat David Hume etwa Recht mit seinem Skeptizismus? Lassen sich Empirismus und Rationalismus miteinander versöhnen?), wird auch der Leser Interesse zeigen. Oft bietet das einen Ansatzpunkt für einen grandiosen ersten Satz deiner Arbeit. Zudem schult es dein kritisches Denken, dir die Frage nach den persönlichen Einsätzen der Beteiligten zu stellen.

Robert McKee verwendet diesen Trick in der Einleitung zu seinem Klassiker Story über das Drehbuschreiben. Er beendet den Abschnitt mit der Erläuterung seiner Motivation, dieses Buch zu schreiben: Sein unstillbarer Hunger nach großartigen Filmen. Wenn es ihm gelingt, sein Wissen an seine Leser zu vermitteln und seine Leser daraus die richtigen Lehren ziehen, wird es weiterhin einzigartige Filme geben. McKee ist also auf einer Mission – und wir als seine Leser sind zu seinen Komplizen geworden. Und etwas steht auf dem Spiel: Wohl und Wehe des Kinos. Spannend.

Hast du einen Text geschrieben, der von einem Lektorat profitieren könnte? Informiere dich über alles, was du über das Lektorat eines Romans wissen musst. Oder spielst du mit dem Gedanken an ein wissenschaftliches Lektorat?

Schicke deinen Text noch heute an kontakt@lektorat-bauer.de und erhalte ein kostenloses Probelektorat samt unverbindlichem Angebot.
Deine Daten werden vertraulich behandelt.

Kategorien
Allgemeine Schreibtipps Ein sehr guter Text

Starke Verben braucht dein Text!

Starke Verben sind Verben, die im Deutschen den Stammvokal wechseln, wenn man sie konjugiert: ich trinke, ich trank. Haben die Gebrüder Grimm so festgelegt.

Aber natürlich geht es in diesem Essay nicht um Grammatik. Starke Verben, etwas umgangssprachlicher ausgedrückt und auf die Literatur und Stilistik bezogen, sind Verben, die knallen. Davon brauchen wir viele in unseren Texten. Jedenfalls an den richtigen Stellen.

1. Starke Verben sind präzise

Chuck Palahniuk, unter anderem Autor des Romans Fight Club, schildert in einem Essay über die Kunst des Schreibens eine Episode seiner Kindheit.

Beispiel 1

„Dann sprang ich vom Nähstuhl.
Und dort, fallengelassen, vergessen, senkrecht aus dem Teppich herausragend, stand eine Nadel. Eine dicke, silberscharf, so lang wie dein kleiner Finger.“

(eigene Übersetzung)

Die ganze Kraft dieser zwei kurzen Absätze fließt aus dem einen starken Verb, mit dem die Handlung in Gang gesetzt wird: „sprang“. Ersetzt man dieses Verb etwa durch „stand ich auf“ oder „erhob ich mich“ verliert die Episode jeden Reiz. Jemand steht auf, da ist eine Nadel, okay. Aber wenn er springt und da eine Nadel aus dem Teppich ragt – unsere Füße krümmen sich beim Lesen.

Nun ist „springen“ kein außergewöhnliches Wort. Aber es ist wunderbar präzise. Und genau diese Präzision ist es, der die Magie starker Verben, nun… entspringt.

2. Hüte dich vor den Adjektiven

Palahniuk hat mit seiner Wahl zudem eine zweite Falle umschifft. Anstatt ein starkes Verb zu verwenden, hätte er ein schwaches Verb mit einem Adjektiv oder Adverb ausschmücken können:

„Dann stand ich abrupt vom Stuhl auf.“

(fiktives Beispiel)

Aber diese Mischung aus schwachem Verb und Adjektiv lässt im Kopf des Lesers kein Bild entstehen. Abrupt aufstehen. Langsam laufen. Schnell gehen – was soll das alles sein? Hingegen: springen, schleichen, sprinten – sofort weiß der Leser, was gemeint ist. Sein Vorstellungsvermögen muss nicht erst zwei separate Dinge miteinander verknüpfen, die Handlung und die Art und Weise der Handlung, sondern kann direkt das Gelesene verarbeiten. Stell dir vor, dein Trainer ruft von der Seitenlinie: „Beweg‘ deinen Fuß schnell in Richtung Ball!“. Ich schätze, du verlierst den Ball, bevor du seiner Anweisung Folge leisten kannst. Wenn er ein guter Trainer ist und du eine gute Autorin, dann sagt ihr beide: „Schieß!“.

Umgekehrt hat ein starkes Verb ein begleitendes Adjektiv überhaupt nicht nötig:

„Dann sprang ich abrupt vom Nähstuhl.“

vs.

„Dann sprang ich vom Nähstuhl.“

Die erste Version fügt dem Bild nichts hinzu, sie verwässert nur, bremst, hindert.

3. Starke Verben zwingen dich, etwas zu zeigen

Mitunter kann der hohe Anspruch, sich als Autor auf die Magie starker Verben zu berufen, dazu führen, aus kurzen, abstrakten, schnell geschriebenen Sätzen ganze Absätze zu formen. Das ist Arbeit, hebt den Text aber auf ein anderes Niveau. Betrachten wir ein delikates Beispiel, das sich wunderbar zu Demonstrationszwecken eignet.

Beispiel 2

„Sie hatte einen langen, ekstatischen Orgasmus“.

(fiktives Beispiel)
Starke Verben

Ich habe zwei Adjektive verwendet, in der Hoffnung, dem Orgasmus so irgendwie Tiefgang, Bedeutung und Detail zu verleihen. Aber das schlägt fehl. „Sie hatte einen Orgasmus“ ist zu abstrakt, zu Allerwelt, zu sehr Aussage anstatt Bild. Die Schwäche des Verbs kann auch durch fünf Adjektive nicht überwunden werden. Versuchen wir es anders:

„Ihre Hüfte schoss nach vorn. Die Hände packten das Laken und ließen es nicht mehr los.“

(fiktives Beispiel)

Das ist keine Meisterleistung. Aber hier passiert etwas. Es entstehen Bilder im Kopf des Leser, etwas schießt nach vorn, etwas wird gepackt, nicht mehr losgelassen. Dagegen kommt „einen Orgasmus haben“ nicht an. Der aufmerksame Leser wird bemerkt haben: Starke Verben zwingen uns dazu, den alten Leitspruch „show, don’t tell“ zu beherzigen. „Sie hatte einen Orgasmus“ wird immer eine Aussage bleiben, weil das Verb, dass hier benutzt wird, nicht anders kann: Die Magie des Erzählens fehlt. Ein weiteres Beispiel:

Beispiel 3

„Ich hob meine Arme, nahm seine Kehle und hielt sie fest.“

(fiktives Beispiel)

Das geht besser:

„Meine Arme schossen nach vorn, ich packte seine Kehle und ließ sie nicht mehr los.“

(fiktives Beispiel)

Dieselben Verben wie im obigen Beispiel – und eine ähnliche Wirkung, in einem ganz anderen Kontext. Das zeigt, wie magisch starke Verben wirken, solange sie bloß schwache Verben ersetzen. Weit von einem Meisterwerk entfernt, sorgen sie auch hier für Bilder, Anschaulichkeit und unmittelbares Lesen.

4. Auch wissenschaftliche Texte profitieren

Auch non-fiktionale Texte profitieren vom Einsatz starker Verben. Wissenschaftliche Arbeiten etwa sind ohnehin um Präzision bemüht. Hier können schwache Verben zu Missverständnissen führen oder Formulierungen unnötig verkomplizieren. Deshalb werden sie in einem wissenschaftlichen Lektorat von mir ersetzt.

Beispiel 4

„Es ist wichtig, dass die Prüfung der Anlage mit höchster Präzision vorgenommen wird, um keinen Garantiefall zu haben.“

(fiktives Beispiel)

Unschön, umständlich, leblos. Das muss nicht sein:

„Die Anlage muss präzise geprüft werden, um einen Garantiefall zu verhindern.“

(fiktives Beispiel)

Das unschöne „Es ist wichtig“ am Satzanfang, wurde durch ein simples aber präzises „muss“ ersetzt. Einen Garantiefall kann man zwar „haben“, aber hier geht es doch eher darum, ihn zu „verhindern“. Außerdem ist es nicht nötig, „eine Prüfung vorzunehmen“, wenn man auch einfach „prüfen“ kann.

Aus 18 Wörtern und zwei Kommata sind 11 und ein Komma geworden – die starken Verben übernehmen also die Arbeit, die wir vorher einem Heer von Gehilfen aufgehalst haben. Und legen so frei, worum es eigentlich geht. Mach dir das bei deiner Bachelor- oder Masterarbeit zu nutze.

5. Die Substantivwüste

Ein insbesondere in wissenschaftlichen Arbeiten beliebtes Phänomen ist die sogenannte Substantivwüste. Sie beruht auf einer ausgeprägten Abneigung des Autors gegen starke Verben und präsentiert sich folgendermaßen.

Beispiel 5

Die Sicherstellung des Betriebsablaufs über den Jahreswechsel hinaus ist laut Bekanntmachung der Geschäftsführung sakrosankt.

(fiktives Beispiel)

5 Substantive zwingen den Leser zur erweiterten Hirnakrobatik, da der Inhalt nicht unmittelbar erschlossen werden kann. Er springt von Subtantivhochhaus zu Substantivhochhaus. Dazwischen: der staubtrockene Abgrund. Versuchen wir es anders:

Wie die Geschäftsführung bekannt gab, ist die Sicherstellung des Betriebsablaufs über den Jahreswechsel hinaus zu priorisieren.

(fiktives Beispiel)

Wir sind zwar nur ein Substantiv losgeworden, konnten den Satz aber in zwei leicht verdauliche Teile trennen, die jeweils von einem starken Verb geprägt sind. Die Geschäftsführung gab etwas bekannt. Nämlich, dass X zu priorisieren ist. Im Zuge dessen sind wir auch noch ein seltsames Adjektiv losgeworden: aus „ist sakrosankt“ wurde „priorisieren“.

6. Einige Alternativen

Am häufigsten sind die Verben „machen“, „haben“, „tun“ & „sein“ für schwache Formulierungen verantwortlich. Ständig wirst du aufgrund ihres Auftretens über Gelegenheiten stolpern, mit starken Verben Präzision und Bildhaftigkeit herzustellen. Machst du dein Mittagessen? Nein, du kochst es, grillst es, kredenzt es etc. Hast du einen Haufen Geld? Nein, du schwimmst darin, ertrinkst darin, scheißt es. Tust du deshalb nichts für die Familie? Nein, du lümmelst, schmarotzt, verweigerst dich. Bist du Alkoholiker? Nein, du säufst, schluckst wie ein gieriges Vögelchen, gießt dir den Schnaps in die Kehle.

Doch auch Verben wie „nehmen“, „gehen“, „sehen“ oder „essen“ können je nach Kontext zu schwach sein, um als beste Wahl durchzugehen, wie die folgende Grafik zeigt:

Starke Verben und schwache Verben

Dennoch bleibt natürlich zu sagen: Manchmal haben schwache Verben ihre Berechtigung. Manchmal wollen wir keine Bilder erzeugen und erst recht keine Präzision. Etwa weil die Figur unter Schock steht. Oder wir den tristen Alltag einer Kleinstadt beschreiben. Und auch Adjektive haben ihren Platz in unseren Texten wie in den großen Klassikern. Aber wie immer gilt: Wer nicht um die Wirkung weiß, kann sie nicht beabsichtigen.

Hast du einen Text geschrieben, der von einem Lektorat profitieren könnte? Informiere dich über alles, was du über das Lektorat eines Romans wissen musst. Oder spielst du mit dem Gedanken an ein wissenschaftliches Lektorat?

Schicke deinen Text noch heute an kontakt@lektorat-bauer.de und erhalte ein kostenloses Probelektorat samt unverbindlichem Angebot.
Deine Daten werden vertraulich behandelt.

Kategorien
Allgemeine Schreibtipps Ein sehr guter Text

Der erste Satz deines Textes ist der wichtigste

„Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.“

Franz Kafka, Die Verwandlung

Mit diesem Satz beginnt Franz Kafka seine legendäre Erzählung Die Verwandlung. Beim Leser bewirkt dieser erste Satz vor allem eines: Er will weiterlesen.

Idealerweise sollte zwar jeder Satz deines Texts den Leser dazu motivieren, weiterzulesen. Aber der erste Satz deines Texts ist deine Visitenkarte. Klappentext, Rezensionen und dergleichen können viel behaupten. Mit dem ersten Satz wird es ernst. Gelingt es dir hier nicht, deinen Leser zu fesseln, legt er den Text womöglich einfach wieder beiseite. Warum weiterlesen? Hierfür musst du Gründe liefern.

Kafka gelingt dies meisterhaft (nicht nur hier). Er bringt im ersten, relativ kurzen Satz seiner Geschichte drei Gründe unter, die den Leser zum Weiterlesen anhalten.

Grund 1: Der Protagonist oder das Motiv (Wer und Was?)

Vor dem inneren Auge des Lesers erscheint Gregor Samsa, der ein bemitleidenswerter Zeitgenosse ist. Nichts ahnend erwacht er aus unruhigen Träumen in seinem eigenen Bett als Ungeziefer. Der Leser identifiziert sich einerseits mit ihm, schließlich hat jeder schon einmal schlecht geschlafen, andererseits ist Samsas Leiden für den Leser etwas völlig Unbekanntes, schließlich hat sich wohl noch niemand in ein Ungeziefer verwandelt. Kurzum: Der Leser ist an diesem seltsamen Herrn Samsa interessiert. Und er weiß, wovon die Geschichte handelt: Wie ergeht es Gregor Samsa als Ungeziefer? Kann er wieder ein Mensch werden?

In non-fiktiven Texten kannst du als Autor natürlich nicht mit nächtlichen Verwandlungen aufwarten. Aber das heißt nicht, dass du auf die Etablierung eines interessanten Protagonisten oder eines spannenden Motivs verzichten musst.

Der schottische Philosoph David Hume beginnt seine philosophische Abhandlung über die persönliche Identität mit einem Satz, der Kafkas Kunststück in nichts nach steht:

„Es gibt einige Philosophen, die sich einbilden, wir seien uns dessen, was wir unser Ich nennen, jeden Augenblick aufs unmittelbarste bewußt;“

David Hume, Traktat über die menschliche Natur

Der interessante Protagonist ist in diesem Fall die schon anklingende These Humes. Offenbar ist er der Auffassung, dass wir uns unseres Ichs keineswegs klar bewusst sind. Wie jetzt? Ich weiß doch, dass ich ich bin? Auch das Motiv ist klar: Im Folgenden wird es darum gehen, zu klären, inwiefern wir das eben nicht wissen.

Ein Essay, eine Abschlussarbeit oder ein Brief, der so begonnen wird, fesselt den Leser mit dem ersten Satz. Natürlich wird er weiterlesen.

Erste Satz

Grund 2: Das Rätsel (Wie?)

Von Gregor Samsas Vergangenheit wissen wir nach dem ersten Satz nur, dass er aus unruhigen Träumen erwachte. Das ist nicht viel, aber es ist nicht nichts. Was hat es mit diesen Träumen auf sich? Sind sie der Grund für seinen unglückseligen Zustand? Und was hat er geträumt? Aber auch wenn es keinen Zusammenhang gibt: Wie zur Hölle wird ein Mann über Nacht zu einem Ungeziefer?

Dieses Rätsel, das Kafka im ersten Satz seiner Erzählung untergebracht hat, weckt ebenfalls das Interesse des Lesers. Der Leser liebt Kausalität (was sind Geschichten anderes?). Wenn ihm ein unerklärlicher Zustand präsentiert wird, möchte er wissen, wie dieser zustandekommt. Erst recht, wenn ihn, wie durch Grund 1 etabliert, der mit diesem Zustand verbundene Protagonist interessiert.

Auch in nicht-fiktiven Texten kann der erste Satz ein Rätsel auftischen. Im Fall von David Humes ersten Satz ist dieses Rätsel die Frage, welche Folgen es für unser Konzept von Identität hat, wenn wir uns unseres Ichs keineswegs unmittelbar bewusst sind.

Grund 3: Der Kontext (Wo, Wann, Wohin?)

Im Vergleich zu den beiden ersten Gründen erscheint der Kontext nebensächlich. Doch bei genauerer Betrachtung ist es gerade der Kontext, der dem ganzen Leben einhaucht, ein Bild vor den Augen des Lesers entstehen lässt und nicht zuletzt eine Bewegung andeutet. Und Bewegung ist das Grundelement jeder Geschichte und jeder Argumentation.

Die Wahl des richtigen Kontexts ist die vielleicht schwierigste Aufgabe bei der Komposition eines perfekten ersten Satzes. Bei Kafka finden wir die Kontextualisierungen „eines Morgens“, „in seinem Bett“ und die subtileren „erwachte“ sowie „fand er sich … verwandelt“. Die Zeitangabe orientiert den Leser im Tagesgeschehen, der frühe Morgen ist für gewöhnlich ein Moment der Stille und des Alleinseins. Das stellt ein weiteres Problem für Gregor Samsa in den Raum: Was, wenn ihn jemand so sieht? Die Familie? Die Haushälterin? Der Briefträger? Noch schützt Samsa der Schlaf der Umgebung, aber Unheil droht.

In dieselbe Kerbe schlägt das Bett als Ortsangabe. Im Bett schläft man allein, sofern man nicht verheiratet ist. Außerdem muss man das Bett verlassen, irgendwann. Aber kann das Samsa als Ungeziefer überhaupt? Oder ist er ans Bett gefesselt? Dieses Ausgeliefertsein unterstreichen die Verben „erwachte“ und „fand er sich“: Wer erwacht, kann nichts für seinen momentanen Zustand (etwa die Frisur) und wer sich findet, der hat damit nichts zu tun. Samsa erstrahlt so in einer Passivität, die das Beklemmende der Verwandlung unterstreicht und gleichzeitig die Bedrohung des Entdecktwerdens zuspitzt. Der Kontext verhilft Kafkas ersten Satz also erst zu seiner vollen Wirkmacht. Ohne diesen Kontext regt er kaum zum Weiterlesen an:

Gregor Samsa verwandelte sich eines Tages in ein ungeheures Ungeziefer.

fiktives Beispiel

David Hume wiederum nutzt den Kontext, um seine Opposition gegen den Common Sense zu unterstreichen und so die entschiedene Stoßrichtung (Bewegung) seines Essays anzudeuten: „einige Philosophen“, die „sich einbilden“ etwas zu wissen. Heute noch kennen wir die Formulierung: „einige Personen in diesem Raum halten das wohl für falsch“, die gerade durch den Verzicht auf die Nennung von Namen intensiv wirkt. Dass sich Philosophen etwas „einbilden“ sollen, obwohl diese Spezies doch naturgemäß höchst rational vorgeht, demonstriert die Angriffslust und die Selbstsicherheit Humes. Das macht Lust auf mehr. Ohne diesen Kontext wirkt auch dieser Satz halbgar:

Wir sind uns unseres Ichs nicht in jedem Augenblick aufs unmittelbarste bewusst.

fiktives Beispiel

Ein Beispiel verdeutlicht die Arbeit, die hinter einem perfekten ersten Satz steckt. Angenommen, deine Geschichte soll davon handeln, dass sich zwei Menschen unsterblich ineinander verlieben, diese Liebe aber aufgrund der äußeren Umstände nicht leben können. Dein erster Satz lautet daher in der ersten Version wie folgt:

Ben liebt Anna.

fiktives Beispiel

Dieser Satz stellt die Protagonisten und das Motiv der Geschichte vor. Aber nicht vollständig, denn zum einen sind nur zwei Namen zu lesen, aber keinerlei weitergehende Charakterisierung und zum anderen ist die Liebe ja gar nicht das Motiv der Geschichte. Also überarbeitst du den Satz:

Ben war zwar erst 10, aber hatte sich unsterblich in Annas schwarze Locken verguckt, die sie auf dem Werbeplakat offen trug.

fiktives Beispiel

Nun weiß der Leser, das Ben eigentlich noch zu jung für die Liebe ist, aber offenbar so aufgeweckt, dass es in seinem Herzen schon rumort. Anna wiederum ist eine dunkelhaarige Schönheit, die für Ben jedoch nicht erreichbar scheint: Sie entstammt einem Werbeplakat. Wird er einen Weg finden, Anna zu erreichen?

Erster Satz

Allerdings fehlt noch ein Rätsel. Im Moment ist das bloß die Geschichte eines Jungen, der sich zum ersten Mal verliebt und noch nicht weiß, dass Werbeplakate dafür nicht die beste Adresse sind. Version 3 lautet daher:

Ben war zwar erst 10, aber hatte sich unsterblich in Annas schwarze Locken verguckt, die sie auf dem zerissenenen Werbeplakat offen trug.

fiktives Beispiel

Der kleine Zusatz durch das Adjektiv verkompliziert die Angelegenheit: Wieso ist das Werbeplakat zerissen? Und wie kann man sich in ein wohl nur schlecht sichtbares Foto verlieben? Lebt Ben in einem armen Bezirk? Lebt er dort womöglich allein auf der Straße? Das kleine Wort lädt den Satz magisch auf.

Beim Wort „zerissenen“ verschwimmt die Grenze zwischen Rätsel und Kontext. Dieser erste Satz ist natürlich noch nicht perfekt. „Unsterblich“ etwa ist eine abgegriffene Beschreibung für die Intensität der Liebe, die Satzkonstruktion ließe sich überarbeiten usw. Aber im Vergleich zum plumpen „Ben liebt Anna“ tut sich hier für den Leser eine Welt auf – eine ganze Geschichte dröhnt aus diesen ersten Worten. Mit einigen weiteren Überarbeitungen, die ich auch im Lektorat vorschlagen würde, schließen wir dieses Kapitel:

Ben war 10, als er sich unsterblich in Annas schwarze Locken verguckte, die ihr auf einem zerissenen Werbeplakat ins Gesicht wehten.

fiktives Beispiel

Wie du vielleicht gemerkt hast, steckt in einem ersten Satz mitunter schon eine ganze Geschichte. Insbesondere bei Kafka stoßen wir immer wieder auf dieses Phänomen. Das hat Methode: Er bringt das auslösende Ereignis der Geschichte gleich im ersten Satz unter. Mitunter sind der erste Satz und die sogenannte Log Line sogar nahezu identisch (siehe etwa auch Der Prozess). Die Log Line gibt die Geschichte in aller Kürze wieder und ist sowohl beim Schreiben als auch nach dem ersten Draft ein nützliches Tool, um deine Story auf ihre Tauglichkeit zu prüfen. Dazu habe ich einen ausführlichen Artikel verfasst: Hast du eine Log Line?

Hast du einen Text geschrieben, der von einem Lektorat profitieren könnte? Informiere dich über alles, was du über das Lektorat eines Romans wissen musst. Oder denkst du an ein wissenschaftliches Lektorat? Oder hast du vielleicht sogar ein Sachbuch-Lektorat im Auge?

Dann schicke deinen Text jetzt an kontakt@lektorat-bauer.de und erhalte ein kostenloses Probelektorat samt unverbindlichem Angebot.
Deine Daten werden vertraulich behandelt.