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Infodumping: Wie man Fakten im Roman vermittelt

Jede Autorin hat ein Problem: Sie muss Fakten vermitteln, obwohl der Leser keine Lust auf Fakten hat. Etwa, dass es 5:45 Uhr ist. Oder dass das Klima in Beverly Hills für den Protagonisten kaum auszuhalten ist, da er in Grönland geboren wurde. Doch wenn sie es einfach so mitteilt, ist der Leser beleidigt. Er fühlt sich an den letzten Wikipedia-Artikel erinnert, über dem er gestern Nacht eingeschlafen ist. Wenn die Autorin Glück hat, schläft er nun ebenfalls ein. Hat sie Pech, legt er das Buch weg. Und kehrt nie mehr zurück. Die Folge des gefürchteten Infodumpings.

Definition des Infodumpings

Die Kunst des Erzählens beinhaltet also immer auch die Vermittlung von Fakten, ohne es den Leser merken zu lassen. Wäre das nicht der Fall, würde sich die Odyssee so lesen, wie ihre Wikipedia-Zusammenfassung: Odysseus trifft den Riesen. Der Riese fragt wer sie sind. Odysseus antwortet „Niemand“. Zum Einschlafen.

Auf den Punkt gebracht, lässt sich Infodumping folgendermaßen definieren: Wenn der Zweck der Information allein im Informieren des Leser besteht, ist es Infodump.

Wenn du also drei Absätze lang ein Auto beschreibst, weil der Leser für die spätere Auflösung des Mordes genau wissen muss, wie dieses Auto aussieht, bist du schuldig im Sinne der Anklage. Beschreibst du hingegen drei Absätze lang dasselbe Auto, um die Bessesenheit des Protagonisten von Autos und Motoren darzustellen, idealerweise mit einem personalen Erzähler, dann ist es kein Infodump. Weitere Zwecke sind: Humor, Atmosphäre, Spannung, was man ebenso braucht und was einen unterhält. Aber niemals dürfen dem Leser Informationen um der Information willen mitgeteilt werden.

Das Problem erkennen

Als Autor leidet man dummerweise an einem Phänomen, das einen besonders anfällig für Infodumping macht: Man weiß ja alles. Über die Figuren, die kommende Handlung, die Vergangenheit, die Räume und Gegenstände, die Biografien. Und wenn man etwas noch nicht weiß, weiß man es im nächsten Moment. Das Autorenhirn schwappt also über vor Informationen. Da muss dringend Druck abgelassen werden. Ventile öffnen. Und los:

Maria schwieg. Schon früher hatte sie in solchen Situation geschwiegen, wenn es zu heikel wurde. Wenn etwas auf dem Spiel stand. Dann hatte sie zu Boden gesehen, ihre nackten Zehen gezählt. Auf einen göttlichen Eingriff gewartet. So auch diesmal. Maria schwieg und zählte die Zehen.

(fiktives Beispiel)

Keine Katastrophe. Ist noch okay. Es gibt immerhin einen Zusammenhang zwischen akuter Handlung und Infodumping. Aber optimal ist er nicht, dieser Exkurs in die Vergangenheit. Streichen wir ihn:

Maria schwieg und zählte ihre nackten Zehen.

(fiktives Beispiel)

Jetzt fehlt natürlich die Info, dass Maria dieses Verhalten schon länger an den Tag legt. Und womöglich ist dem Leser nicht hunderprozentig klar, dass die Situation gerade heikel ist. Aber wir glauben an unsere Leser. Und an unsere Erzählkünste. Und deshalb schweigen wir hier. Und zählen unsere vielen tollen Einfälle, die nicht gut genug sind, um aufgeschrieben zu werden. Es sind mehr als zehn.

Sollte es unabdingbar sein, dem Leser mitzuteilen, dass Maria früher schon ihre Zehen gezählt hat, tun wir das an anderer Stelle. Das ist auch hohe Erzählkunst, aber ein anderes Thema.

Infodumping erkennen

Das Problem ist somit erkannt. Wie aber erkennt man Infodumping? Die Schwierigkeit liegt dabei darin, dass man die vermittelten Fakten selbst nicht unbedingt als Fakten wahrnimmt. Denn man kennt sie ja bereits. Keine Neuigkeiten. Man liest so drüber weg.

Ein gutes Mittel ist es daher, die Passagen zu markieren, die nicht unmittelbar szenisch geschrieben sind.

Szenisch:

Ich kotzte den Eimer bis oben hin voll. Musste also zehn Kilo leichter sein. Hinzu kam noch der Schweiß, der mir in Sturzbächen von der Stirn rann. Hätte jemand die Tür aufgerissen, hätte mich der Luftstoß fortgetragen. Aber es kam niemand. Ich blieb allein mit dem Eimer und dem gekachelten Boden meiner Zelle.

(fiktives Beispiel)

Anti-szenisch:

In der Nacht erbrach ich mich mehrfach. Keiner kam nachsehen.

(fiktives Beispiel)

Das Schöne an den Beispielen oben ist, dass sie beide funktionieren. Denn das anti-szenische Beispiel ist kein Beispiel für Infodumping. Hier wird zwar streng genommen nicht erzählt bzw. gezeigt („show“), sondern nur mitgeteilt („tell“). Aber das heißt nicht automatisch, dass Infodumping betrieben wird. Allerdings ist anti-szenisches Schreiben die Voraussetzung für Infodumping.

Wenn du also die Passagen markiert hast, die anti-szenisch geschrieben sind, folgt der nächste Schritt.

Exkurse erzeugen Infodump

Innerhalb der anti-szenischen Passagen gibt es Stellen, in denen du abschweifst. Von der Handlung, der gegenwärtigen Situation, den gerade empfundenen Emotionen. Das nenne ich „Exkurs”. Etwa so:

Ilsebill dachte nach. Sie zählte die Schritte, die an den Steinwänden widerhallten. Wenn die Wache ihr den Rücken zu kehrte, dauerte es zwölf Schritte, bis sie sich wieder umdrehte. Das könnte genügen, um bis zur stählernen Treppe zu gelangen. Aber dort hing das Licht und Ilsebills weißes Gesicht würde in die Dunkelheit des Ganges hineinleuchten. Die vornehme Blässe hatte sie von ihrer Mutter geerbt. Einem Vorfahre von ihr sagte man blaues Blut nach, aber das konnte ebensogut eine Legende sein. Ilsebill hatte nie gefragt. Es war ihr nebensächlich vorgekommen. Wen interessiert schon die Farbe des eigenen Blutes? Ebenso gut hätte sie ihren Schädel vermessen können. Auch da gab es eine Legende. Diese aber flüsterte man hinter vorgehaltener Hand und hielt sie vor den Kindern geheim.
Sie griff mit beiden Händen in den Schlamm.

(fiktives Beispiel)

Der kursivierte Teil ist anti-szenisch und ein Exkurs. Das macht ihn zu einem aussichtsreichen Kandidaten für die Diagnose Infodump. Lassen wir ihn weg, entsteht eine schönere, bessere Passage:

Ilsebill dachte nach. Sie zählte die Schritte, die an den Steinwänden widerhallten. Wenn die Wache ihr den Rücken zu kehrte, dauerte es zwölf Schritte, bis sie sich wieder umdrehte. Das könnte genügen, um bis zur stählernen Treppe zu gelangen. Aber dort hing das Licht und Ilsebills weißes Gesicht würde in die Dunkelheit des Ganges hineinleuchten.
Sie griff mit beiden Händen in den Schlamm.

(fiktives Beispiel)

Der Leser wird nun nicht mehr abschalten. Er kriegt, wofür er bezahlt: Erzähltes. Keine Wikipedia-Abschweifung über Details der biografischen Vergangenheit.

Infodumping auflösen

Allerdings hat den fiktiven Autor sein Instinkt hier nicht betrogen: Zwischen der Feststellung, dass Ilsebills Gesicht sie verraten könnte und der Lösung des Problems, dem Schlamm, muss ein gewisser Abstand liegen. Zu diesem Zweck kann der Infodump angepasst werden. Dazu muss er motiviert werden. Das erreicht man, indem man ihn anschlussfähig macht.

Der erste Satz des Infodumpings ist bereits motiviert, denn er schließt an Ilsebills weißes Gesicht an und diskutiert die Ursache für diese Blässe. Alles, was danach kommt, ist unmotiviert, führt zu weit weg von der Situation. Ist also ein Exkurs. Doch Abhilfe ist möglich:

Ilsebill dachte nach. Sie zählte die Schritte, die an den Steinwänden widerhallten. Wenn die Wache ihr den Rücken zu kehrte, dauerte es zwölf Schritte, bis sie sich wieder umdrehte. Das könnte genügen, um bis zur stählernen Treppe zu gelangen. Aber dort hing das Licht und Ilsebills weißes Gesicht würde in die Dunkelheit des Ganges hineinleuchten. Die vornehme Blässe hatte sie von ihrer Mutter geerbt. Einem Vorfahre von ihr sagte man blaues Blut nach, aber das konnte ebensogut eine Legende sein. Ilsebill hatte nie gefragt. Doch vielleicht würde sie es noch herausfinden, wenn sie erst wie die anderen am Stadttor hing, mit abgeschlagenem Kopf, allen Blutes verlustig gegangen.
Sie griff mit beiden Händen in den Schlamm.

(fiktives Beispiel)

Neben der notwendigen Kürzung ist hier nun auch der zweite Teil motiviert, weil er nun zurück in die Situation führt. Die Herkunft von Ilsebills Vorfahren liegt im Dunkeln, aber es droht ja die Enthauptung, vielleicht klärt diese auf.

Entfallen ist der Teil mit der Schädelvermessung. Es gab schlicht keine Möglichkeit, ihn sinnvoll zu motivieren. Sollte diese Info wichtig sein, muss sie an anderer Stelle untergebracht werden. Das ist jedoch erst noch zu beweisen.

Der Kontext entscheidet

Du merkst also: Der Kontext entscheidet. Infodump heißt nicht, dass Informationen verboten sind. Es kommt auf die Art ihrer Vermittlung an und auf den Zweck der Vermittlung.

Wenn du deinem Leser eine Baggerladung Müll vor die Füße kippst, wird er es als Müll wahrnehmen. Lockst du denselben Leser in ein Museum und betritt dort einen Raum, in dem derselbe Haufen Müll liegt, wird er sagen: Wow, das ist Kunst. Letzteres ist deine Aufgabe als Autor.

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Prosa

Sag nicht die Wahrheit: Reale Ereignisse erzählen

An jenem Morgen ging die Sonne um 4:44 auf. Ich kochte vier Spiegeleier und weckte meine vier Kinder. Als sie fertig waren, kochte ich mir den vierten Kaffee des Monats. Einen pro Woche, Eier waren teuer.

(fiktives Beispiel)

Dieses Zitat könnte dem realen Leben eines Alleinerziehenden entstammen. Nur die Sache mit der Ziffer 4 kommt uns allzu fantastisch vor. Soll es sich hier um eine möglichst realistische Geschichte handeln, die vielleicht sogar Wahres erzählt, sind wir geneigt, dem Verfasser die Streichung der Ziffer zu empfehlen – es ist zu unrealistisch.

Aber gerade die Ziffer 4 lädt die banalen Sätze mit einer Bedeutung auf, die über das Geschilderte hinausreicht. Eine Dimension von Schicksal schleicht sich zwischen die Zeilen, die vier Kinder wirken nicht mehr wie zufällig auf diesen Planeten beförderte Entitäten. Sie werden zu einer von oben zugeteilten Aufgabe, erhalten gar etwas Biblisches. Und der kurze Text wird zu dem, was er sein soll: eine Erzählung.

Fakten allein ergeben keine Geschichte

Wenn Filme oder Romane über wahre Begebenheiten erscheinen, liest man in den einschlägigen „Kritiken“ gerne, dass es die Macher „mit der Historie nicht so genau nehmen“. Aber ist natürlich trotzdem ein toller Film und auch Schweighöfer spielt wieder mal klasse. Es mit den bekannten Tatsachen nicht allzu genau zu nehmen, wird also als legitimer Kritikpunkt verstanden. Doch wieso eigentlich?

Eine Geschichte ist mehr als die Aneinanderreihung von Fakten, klar. Doch es gilt ein noch radikalerer Grundsatz: Sie darf und muss Fakten zurechtbiegen, um zu einer Geschichte zu werden. Ihr das als Makel auszulegen, bedeutet, ihr das Erzähltsein anzukreiden. Ein Beispiel:

Der Film Catch me if you can handelt vom Leben des realen Hochstaplers Frank Abagnale, gespielt von Leonardo DiCaprio. Gejagt wird er von Tom Hanks, aber dessen Charakter ist frei erfunden. Denn in Wahrheit suchten mehrere Beamte nach ihm, je nachdem, wo er sich gerade aufhielt. Allerdings lässt sich daraus keine rechte Geschichte formen: Sie braucht den singulären Jäger und den Gejagten.

Auch eine reale Story braucht Struktur

Auch einige Details sind frei erfunden. Abagnale stand etwa nie auf der Top-Ten-Liste der meistgesuchten Flüchtigen des FBIs. Diese künstlerischen Freiheiten sind aber keine Verfehlung, sondern zeugen davon, dass die Beteiligten ihr Handwerk verstehen. Man stelle sich den Elevator Pitch vor (du hast eine Aufzugfahrt Zeit, um einer wichtigen Person deine Idee zu präsentieren), hätten sich die Macher an die Wahrheit und nichts als die Wahrheit gehalten:

„Okay also da ist so ein Kerl ja, der betrügt alle, der gaukelt vor, er sei Pilot, Anwalt, Arzt und keiner merkt’s! Also außer dem FBI. Und je nachdem, wo er ist, wird er dann halt von verschiedenen Beamten verfolgt. Genial, oder?“

(fiktives Beispiel)

Man vergleiche:

„Okay also da ist dieser Kerl, der betrügt alle, der macht ihnen weiß, er sei Pilot, Anwalt, Arzt, und keiner merkt’s! Außer einem FBI-Beamten, der sich ihm an die Fersen heftet! Aber immer ist der Typ ihm einen Schritt voraus! Wahnsinn, oder?“

(fiktives Beispiel)

Welches Drehbuch würdest du kaufen?

Beim Erzählen geht es um andere Wahrheiten

Von derlei storytechnischen Gründen abgesehen, gibt es noch einen zweiten Grund für die Abkehr von den reinen Fakten in der Kunst. Die Wahrheit, nach der die Kunst und damit auch das Schreiben trachtet, ist von anderer Herkunft als jene, die empirische Studien und historische Quellen präsentieren (wollen). Werner Herzog nennt sie die ekstatische Wahrheit, sie lässt sich auch als tiefere oder höhere Wahrheit verstehen, je nach Standpunkt. Gemeint ist eine Erkenntnis über den Menschen, die Welt, das Gefüge der Dinge, die real ist, weil sie uns berührt, aber irreal, weil sie nicht mit der Welt der Fakten übereinstimmt.

Simple Beispiele dafür sind Märchen. Sie handeln nicht von realen Ereignissen, erfinden Fantasiegestalten und sprechende Tiere, aber haben einen direkten Rückbezug auf die reale Welt. Das tapfere Schneiderlein handelt von einem Narzissten, der sich etwas darauf einbildet, sieben Fliegen auf einmal erlegt zu haben, und am Ende durch allerlei List und Lügen ein Königreich samt Königstochter erhält. Die tiefere Wahrheit lautet: Der schöne Schein entscheidet weitaus stärker über unser Schicksal als das Sein.

Verfasse kein Dokument

Komplexer und mit einem nachdrücklicheren Wahrheitsanspruch versehen, sind Mythen und Sagen. Natürlich ist das Felsenmeer, das den Horizont säumt, nicht entstanden, weilein Riese einen Berg nach Thor warf und dieser ihm seinen Hammer entgegenschleuderte, worauf kleine Teile des Berges in die Landschaft hinabfielen und eben jenes Felsenmeer bildeten. Aber doch liegt in diesem Mythos eine Wahrheit verborgen: Eine natürliche Entstehung übersteigt unsere Vorstellungskraft, wie überhaupt der Fakt, dass etwas ist und nicht nichts.

Aber diese Wahrheit lässt sich nicht dokumentieren – sie ist ja nicht da, nicht zugänglich für Sensoren, Messinstrumente und Sinne. Sie lässt sich nur erzählen.

Wahres Erzählen bedarf der Freiheit

Ich behaupte: Jede gute Geschichte enthält oder dreht sich um eine solche nur erzählbare Wahrheit. Alles andere sind nur Dokumente. Man kann sie ordnen, sortieren, sichten. Aber man kann sie nicht lesen.

Wenn du also eine Geschichte schreibst, die von realen Ereignissen handelt, sei es aus der Historie oder deinem eigenen Leben, dann nimm dir eine Freiheit raus. Erst sie wird dich der Wahrheit befähigen, dazu, zu erzählen, was ist. Weil du nun mal nicht um 4:32 aufgestanden bist, weil du nicht 3 Spiegeleier gebraten hast, für deine Kinder. Sondern weil es sich so anfühlte, als sei es 4:44 Uhr gewesen, wie jeden Morgen, als wären es vier Kinder gewesen, die vier Spiegeleier brauchten. Und das ging vier Jahre so.

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4 Übungen für kreatives Schreiben

Kreatives Schreiben bedarf der Übung – Meister fallen nicht vom Himmel. Daher findest du in diesem Artikel vier Schreibübungen, die deiner Kreativität langfristig auf die Sprünge helfen.

Am wichtigsten ist dabei: Lass dir Zeit und setz dich nicht unter Druck. Du musst nicht morgen zum Bestsellerautor werden, der in Parataxen und Ellipsen die ganz großen Sterne vom Himmel schreibt. Was? Eben.

Deshalb sind auch die hier versammelten Übungen für kreatives Schreiben keine grammatischen Exkurse, sondern orientieren sich an der Praxis. Diese Praxis des kreativen Schreibens beginnt meist mit einer Idee.

1. Schreibübung für kreative Ideen

Denn ohne Idee ist alles Schreiben ziellos. Je nach Genre gibt es verschiedene Regeln und Ansätze, um passende Ideen zu formulieren. Etwa bei den Ideen für eine Kurzgeschichte. Doch um irgendwann mühelos kreative Ideen zu generieren und im Alltag zu erkennen, musst du zuerst üben – also schreiben. Was wie ein Teufelskreis klingt, lässt sich durch die folgende Übung leicht erlernen.

Die Seele einer Idee (oder vielleicht des Schreibens an sich) ist immer die Reibung mit dem Common Sense. Also mit dem, was im Alltag für selbstverständlich gehalten wird oder für wahr. Denken wir an Es von Stephen King: Normalerweise sind Clowns nette Gestalten, die Kinder belustigen. In Kings gleichnamigem Roman frisst ein Clown die Kinder. Das lässt sich noch weiterspinnen. Normalerweise stellen wir uns als Kinder unseren Ängsten nicht. Doch in der Kleinstadt Derry, in der der Clown sein Unwesen treibt, hat genau diese Weigerung zu Erwachsenen geführt, die ihre Ängste unbewusst und ungefiltert an ihre Kinder weitergeben und dem Clown damit in die Arme treiben. Soll dies ein Ende haben, müssen die Kinder lernen, sich ihren Ängsten zu stellen.

Wie also kannst du üben, Ideen für dein kreatives Schreiben zu erkennen? Indem du eine Alltagssituation, eine Alltagswahrheit oder etwas sehr Herkömmliches in einem Satz auf ein Blatt Papier schreibst. So zum Beispiel:

Alle Schwäne sind weiß.

Dann hast du den Rest des Blattes Platz und Zeit und die heilige Pflicht, diesen Satz in sein absolutes und höchst absurdes Gegenteil zu verkehren.

„Alle Schwäne sind weiß.“

Wenn alle Schwäne weiß waren, dann musste ich geträumt haben. Ich war mir sicher, letzte Nacht einen goldenen gesehen zu haben, einen goldenen Schwan mit schwarzem Schnabel, und er schnatterte. „Gibt es nicht auch goldene?“, fragte ich. Ihre mich belächelnden Mundwinkel hatten überhaupt nichts goldenes. „Hat dir deine Mutter wieder Rotwein ins Fläschchen getan?“ Rotwein, Fläschchen – wer wusste das schon mit Sicherheit. Sicher war nur, dass sie log. In meiner Fantasie gab es alles. Sogar Privatlehrerinnen ohne Rabengesicht.

fiktives Beispiel

Spontan, ohne es zu beabsichtigen, habe ich innerhalb von 3 Minuten ein ganzes Panorama aufgetan, nur um die ursprüngliche Aussage zu widerlegen. Einen Protagonisten, eine Antagonistin, deren jeweilige Charakterisierung und ihre Beziehung zueinander. Auch ein Konflikt klingt schon an: Der Protagonist hat eine blühende Fantasie, die im seine Lehrerin austreiben will.

2. Übung für kreative Beschreibungen

Die beste Charakterisierung und der schönste Konflikt verfangen nicht, wenn Jedermannsbeschreibungen alles Individuelle aus deinem Manuskript tilgen. Ein Beispiel:

Die Sonne brannte. Er war schweißnass. Er sehnte sich nach einer kalten Dusche, nach einem Sprung ins kühle Nass. Vergeblich.

fiktives Beispiel

In dieser kurzen Schilderung tummeln sich Jedermannsbeschreibungen und geflügelte Wörter: die Sonne brennt, er ist schweißnass, das kühle Nass. Ich nenne das lazy writing, weil der Autor nicht die eigene Kreativität bemüht, sondern quasi abschreibt. Bei Redensarten, tausendfach gehörten Formulierungen usw. Ein guter Autor wird das vermeiden:

Die Sonne schien ihn auszulachen. Seine Augenbrauen hatten Mühe, die Schweißperlen aufzuhalten, die seine hohe Stirn hinunterrasselten. Für eine kalte Dusche hätte er alles getan, sogar mit dem Bates Motel vorlieb genommen.

fiktives Beispiel

Man kann es auch übertreiben (im Beispiel ist es an der Grenze), aber dennoch: Die zweite Version erweckt eine Figur zum Leben, der Leser gewinnt eine Vorstellung des Protagonisten. Deshalb sind eigenwillige, individuelle Beschreibungen und Schilderungen so wichtig.

Doch auch das muss man üben. Das geht so:

Schreibe einen Satz auf ein Blatt Papier, der zwei gewöhnliche, altbekannte Beschreibungen enthält. Dann formuliere ihn so um, dass er nichts mehr mit der ursprünglichen Version gemein hat. Stattdessen sollten die beiden Kernaussagen erhalten bleiben, aber auf absurde Weise umschrieben werden:

Der See lag still vor ihm, von Fischen keine Spur.

fiktives Beispiel

Gemäß der Aufgabe wird daraus:

Der See lag so ruhig, dass er begann, die Rotation der Erde anzuzweifeln – dass das Leben aus dem Wasser gekommen war, schien ihm ebenfalls eine Lüge, vernahm er doch nicht einmal die Verwirbelungen eines emsigen Einzellers.

fiktives Beispiel

3. Übung, um kreative Plots zu schreiben

Grundlegende Ideen und schillernde Beschreibungen allein machen noch keine Geschichte. Dazu braucht es Plot. Ein Plot besteht grob betrachtet aus einem Protagonisten (P), einem auslösenden Ereignis (X), einem Ziel (Z), einem Hindernis (Y) und einem Mittel zur Erreichung des Ziels (M).

Ganz schön viel Konstrukteurs-Arbeit. Etwa, wenn du mit der ersten Schreibübung tatsächlich eine Idee gefunden hast, die du zu einer Geschichte ausbauen willst. Auch das will gelernt sein. Folgende Übung hilft dir dabei:

Schreibe eine profane Aufgabe in der Ich-Form auf ein Blatt Papier. Dann zerpflücke sie, indem du sie mit den genannten Plot-Elementen anreicherst. Ein Beispiel:

Ich muss Druckertoner besorgen.

fiktives Beispiel

Ich, notorisch klamm (P), muss Drucktertoner besorgen (Z), als er mir beim Drucken meiner Bewerbung ausgeht (X). Also lenke ich meinen Nachbar (Y) ab, und versuche, den Toner aus seinem Drucker zu klauen (M).

fiktives Beispiel

So machst du dich mit den grundsätzlichen Anforderungen des Plottings vertraut. Nach ein paar Durchgängen kannst du die Schwierigkeit erhöhen. Anstatt einer profanen Alltagsaufgabe, notierst du eine absurde, ungewöhnliche Aufgabe:

Ich muss noch den Porno in die Videothek zurückbringen.

fiktives Beispiel

Ich, sexuell verklemmt (P), muss den Porno ungesehen in die Videothek zurückbringen (Z), da die Ausleihfrist heute abend abläuft (X). Dafür will ich mich durch den Kurpark schleichen (M), doch es ist Dorffest und Alina hat ein Auge auf mich geworfen (Y).

fiktives Beispiel

Indem du die Aufgabe abwandelst, zwingst du dich gleichzeitig, interessantere Plots zu entwerfen. Falls du dich intensiver mit Plottheorie beschäftigen willst, lohnt sich ein Blick auf meinen Artikel über die sogenannte Log Line, die all die hier genannten Elemente enthalten muss und ohne die keine Geschichte funktioniert.

4. Schreibübung für interessante Figuren

Gut: Wir haben einen Plot, individuelle Beschreibungen und eine grundsätzliche Idee. Was fehlt? Richtig, interessante Figuren.

Wie werden Figuren interessant? Durch Besonderheiten, Schwächen, Stärken, alte Verletzungen und Lektionen, die sie zu lernen haben, wenn sie an ihr Ziel kommen wollen.

Eine Figur zu entwerfen, ist daher eine Mammutaufgabe. Um nicht von ihr überwältigt zu werden, kannst du das im Kleinen üben.

Notiere den Namen des für dich langweiligsten realen Prominenten auf ein Blatt Papier, samt seines Berufs. Dann beginne, ihn interessant zu machen, in dem du ihm ein Ziel, eine Schwäche, eine Stärke, eine alte Verletzung und eine zu lernende Lektion unterjubelst.

K. Franzmeier* ist Politiker.

*Name von der Redaktion geändert

K. Franzmeier ist ein Politiker, der sich gekonnt für die Einführung einer Klößchensteuer einsetzt, obwohl er selbst an einer ungesunden Schwäche für Klößchen leidet. Diese Schwäche geht darauf zurück, dass er für gute Noten früher keine Zuneigung bekam, sondern eine Belohnung in Form von Klößchen. Doch um den Chef-Lobbyist der Klößchenvereinigung auszustechen, der ihn mit lebenslangen Klößchenvorräten becirct, muss er lernen, dass es andere Wege der Belohnung gibt: die Zuneigung der vor zu viel Klößchenkonsum bewahrten Bürger.

fiktives Beispiel

Zugegeben, das Beispiel ist absurd. Aber es zeigt die Dynamik, die man einem Charakter andichten muss, um ihn interessant zu machen. Gleichzeitig entsteht schon eine Art Plot, denn so sollte es sein: Deine Figuren bzw. dein Protagonist und dein Antagonist ergeben den Plot deiner Geschichte.

5. Zusammenfassung

Mit diesen vier einfachen Übungen für kreatives Schreiben kannst du dich für größere Aufgaben rüsten. Bei allen Übungen geht es darum, Profanes, Alltägliches in etwas Interessantes zu verwandeln. Denn genau das ist das Wesen der Kreativität und des Storytellings: Die Realität so abwandeln, dass sie interessant wird.

Anbei noch einmal die einzelnen Übungen:

  1. Ideenfindung: Schreibe eine Alltagssituation, eine Alltagswahrheit oder etwas sehr Herkömmliches in einem Satz auf ein Blatt Papier. Dann nutze den restlichen Platz, um diesen Satz in sein absolutes und höchst absurdes Gegenteil zu verkehren.
  2. Kreative Beschreibungen: Schreibe einen Satz auf ein Blatt Papier, der zwei gewöhnliche, altbekannte Beschreibungen enthält. Dann formuliere ihn so um, dass er nichts mehr mit der ursprünglichen Version gemein hat, sondern absurde, eigenwillige Beschreibungen der Kernaussagen enthält.
  3. Plot: Schreibe eine profane Aufgabe in der Ich-Form auf ein Blatt Papier. Dann zerpflücke sie, indem du sie mit den Plot-Elementen anreicherst: Protagonist, auslösendes Ereignis, Ziel, Mittel, Hindernis.
  4. Figuren: Notiere den Namen des für dich langweiligsten realen Prominenten auf ein Blatt Papier, samt seines Berufs. Dann beginne, ihn interessant zu machen, in dem du ihm ein Ziel, eine Schwäche, eine Stärke, eine alte Verletzung und eine zu lernende Lektion unterjubelst.

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Antagonist und Protagonist: Wie du ein Traumpaar daraus machst

Antagonist und Protagonist sind Gegner, Feinde, das Schicksal des jeweils anderen. Aber in erster Linie sind sie ein Paar. Ein entzückendes, wenn dir deine Geschichte gelungen ist. Ein Traumpaar, wenn du Ikonisches geleistet hast. Daher ist es unvermeidlich, sich als Autor damit zu befassen, woraus die Beziehung zwischen Antagonist und Protagonist besteht und wie sie strukturiert ist. Beginnen wir ganz am Anfang.

1. Der Antagonist begründet die Geschichte

Wer über Antagonist und Protagonist reden will, muss über Gott und den Teufel reden. Zunächst ganz simpel: Wer würde die Bibel lesen, wenn es keinen Teufel darin gäbe? Die Schöpfungsgeschichte ist ohne Schlange nur ein nettes Gemälde. Kain und Abel, Jesus in der Wüste, die 10 Gebote, Hiob – in all diesen wirklich großen, archetypischen Geschichten schwingt die Kraft des Bösen mit. Des Verführtwerdens, des Zweifelns. Des Chaos und des drohenden Untergangs. Von der Apokalypse noch gar nicht gesprochen.

Einmal geht es also um die Geschichte(n), die die Bibel erzählt. Sie ergeben ohne den Teufel als Antagonisten wenig Sinn. Es geht aber auch um die Geschichte, die wir uns unabhängig davon selbst über die Welt erzählen oder erzählt haben. Dass es einen Gott gibt, der all das erschaffen hat. Der sagt, wie ein gutes Leben aussieht. Dass es aber nicht leicht ist, diesem Weg zu folgen. Weil es etwas gibt, das dem entgegenwirkt. Auch für die Plausibilität dieser Geschichten ist ein Antagonist erforderlich.

Ganz grundsätzlich zeigt sich in der Beziehung zwischen Gott und Teufel also die Funktion des Antagonisten: Er macht dem Protagonisten das Leben schwer. Er zwingt ihn zum Handeln (Jesus auf die Erde schicken, Adam und Eva aus dem Paradies verbannen etc.). Und er rechtfertigt und erklärt die Existenz des Protagonisten und der Geschichte selbst.

Klar: Die Frage nach einem Schöpfer schließt die Existenz eines Widersachers (bibelgriechisch: „diabolos“) noch nicht zwingend mit ein. Aber sobald man beginnt, sich diesen Schöpfer als gütigen, allmächtigen Gott vorzustellen, wird ein böser Gegenpart zwingend. Denn wie sonst kommt das Leid in die Welt?

2. Antagonist und Protagonist spiegeln sich

Das führt uns zur ersten Definition der Beziehung zwischen Protagonist und Antagonist: In ihren Eigenschaften folgen sie oftmals einem entgegengesetzten Dualismus. Gott ist gut, der Teufel böse. Gott nennt allgemeingültige Regeln, der Teufel schmiedet Pakte mit ihm verfallenen Individuen. Der Teufel wohnt in der Hölle, Gott im Himmel. Dort droht die ewige Qual, da lockt das ewige Leben. Gott erscheint nicht, der Teufel hat Hörner, einen Ziegenfuß und einen Dreizack.

Im Fall von Gott und Teufel liegt die Sache noch komplexer. Gott verspricht uns eine simple, allzumenschliche Kausalität: Tue X (ein frommes Leben) und du erhältst Z (ewiges Leben). Darüber hinaus ist er eine Personifikation der Kausalität. Wo kommt das Universum her, woher das Leben? Gott hat es erschaffen. Warum geschehen unerklärliche Dinge, wieso werden wir von der Natur scheinbar belohnt und bestraft? Gott steckt dahinter.

Mit dieser Kausalität räumt der Teufel auf. Er verkörpert das Chaos und sorgt für das Unerwartete im Universum. Er verursacht Leid und Sünde. Zeichnet verantwortlich für Tragödien und sät Zwietracht unter den Menschen.

Folgt man diesem Pfad der entgegengesetzten Eigenschaften an sein Ende, führt er uns zurück zur Auflösung der ganzen Religionssache. Vollkommene Kausalität, wie sie Gott repräsentiert, lässt keinen Platz für einen freien Willen übrig. Erst durch den Teufel, der den Menschen widerspenstig und ungehorsam macht, bricht Freiheit in die Kausalkette hinein. Ergibt es Sinn, die Frage danach zu stellen, wie man es mit der Religion hält. Beginnt der Mensch darüber nachzudenken, was man tun könnte, um das Chaos des Universums zu ordnen. Vielleicht einen Gott erfinden?

So wird es ja auch gewesen sein: Das Leid war in der Welt, lange bevor die Menschen anfingen, über Gott nachzudenken. Volkssagen über die Entstehung der Welt folgen einem ganz ähnlichen Muster. Die Berge Kamtschatkas erklärte die Sage eines mit Schneeschuhen umherwandernden Gottes, unter dessen Füßen der Boden nachgab.¹ Auch beim Schreiben kann es sinnvoll sein, mit dem Antagonisten zu beginnen. Denken wir an Der Herr der Ringe: Gab es in Tolkiens Vorstellung wirklich zuerst Frodo (bzw. Bilbo) und dann erst die Sache mit dem Ring und Sauron? Ruft die Figur des dunklen Herrschers Sauron nicht geradezu nach dem kleinwüchsigen Auenlandbewohner reinen Herzens?

Das Problem mit der Theodizee gründet ironisch betrachtet demnach auf der grundlegenden Beziehung zwischen Antangonist und Protagonist. Wieso lässt Gott die teuflischen Schandtaten zu, wenn er doch allmächtig und gütig ist? Ganz einfach: Die beiden brauchen einander.

3. Der Antagonist ist die Übermacht

Erzählen könnte man die Geschichte jedoch nicht mit Gott als Protagonisten. Deshalb tauchen in der Bibel die Menschen auf, die mit und gegen den Teufel kämpfen, während Gott sich vornehm zurückhält. Seit den ersten Bibellesungen gilt daher noch ein elftes Gebot: Mache deinen Protagonisten nicht allmächtig. Lass den Antagonisten übermächtig erscheinen. Beinahe allmächtig.

Und dann lass deinen Protagonisten heranreifen, sich verändern, häuten. Bis er schließlich dem Antagonist gegenübertreten und ihn herausfordern kann (Luke Skywalker, Jimmy McGill gegen seinen Bruder in Better Call Saul, jedes Final Girl in jedem Horrorfilm). Ob der Antagonist wirklich übermächtig ist oder nicht, wird sich dann zeigen. Manchmal verliert der Held. Oder erringt nur einen Pyrrhussieg. Wenn er gewinnt, dann weil er sich verändert hat und die Übermacht des Antagonisten so gebrochen werden konnte.

Umgekehrt bedeutet das: Dein Protagonist muss Schwächen haben. Schwächen, die mit den Stärken und Eigenschaften des Antagonisten korrelieren. In Funny Games sind die Psychopathen distinguiert bürgerlich, aber voller Gewalt, während ihre Opfer so bürgerlich geprägt sind, dass sie Gewalt vollständig sublimiert haben und zu mehr als einer lauen Ohrfeige nicht imstande sind. Können die Opfer ihrer gesellschaftlichen Herkunft entkommen, in der Gewalt zwar zum guten Ton des Samstagvormittag-Cartoons gehört, in der realen Welt aber keine gesunde Entsprechung mehr hat?

Im hypnotischen Mandy ist der Täter ein gekränktes männliches Ego, das Nicolas Cage‘ (oscarreife Leistung) Figur eine ähnliche männliche Kränkung zufügt: Seine Geliebte kann er nicht beschützen. Das bereitet den Boden für ein finales Aufeinandertreffen mythischer Sorte, wenn Cage aufgrund seines Verlusts längst zum Halbgott geworden ist.

Wenn du also die Geschichte einer Maus erzählst, die nicht genug Käse bekommen kann, dann lass den Antagonisten nicht einen Käseliebhaber sein, der seine Schätze hütet. Lass ihn allen Käse vernichten wollen, um dem von ihm massenhaft produzierten Analogkäse zum Durchbruch zu verhelfen. Und dann lass die Maus in der Käsevernichtungsfabrik unter die Räder kommen, ehe sie aufgrund ihrer genauen Kenntnisse käsischen Verhaltens doch noch den Häckslern entkommt. Aber was kann eine Maus schon gegen einen Kapitalisten ausrichten, fragst du dich. Die Antwort liegt irgendwo in der Beziehung von Antagonist und Protagonist. Es wird kein Komet einschlagen, der die Fabriken zerstört.

4. Die antagonistische Kraft

Allerdings ist der Antagonist nicht per se eine Person. Vielmehr sollte man sich den Antagonisten als die negative Kraft in deiner Geschichte vorstellen, die sich auf unterschiedliche Weise manifestieren kann. Klar, der Joker ist ein grandioser personifizierter Antagonist (alle Comic-Helden leben davon, außergewöhnlichen, personifizierten Antagonist gegenüberzustehen, siehe Lex Luthor, Loki oder Sandman). Doch was ist mit dem Antagonisten in Dunkirk? In Once Upon a Time In… Hollywood? In weiten Teilen von The Revenant? In Cast Away?

Hier ist der Antagonist entpersonalisiert. In Dunkirk bekommt man nicht einen deutschen Soldaten zu Gesicht. In The Revenant kämpft DiCaprio gegen die Natur. Und in Once Upon a Time In… Hollywood ist der eigentliche Antagonist Charles Manson kaum präsent, sodass die Historie selbst in den Fokus rückt: sehr schlimme Dinge werden geschehen und es gibt nichts, was man dagegen tun kann. Natürlich hat DiCaprios Figur hier noch einen weiteren Antagonisten, nämlich seine eigene Unzulänglichkeit, sein Mangel an Selbstvertrauen und sein Übermaß an Selbstmitleid. Doch auch das sind negative Kräfte am Werk.

Eine dritte Möglichkeit sind personifizierte Wesen, die eine quasi-menschliche Qualität erhalten, weil gegen sie gekämpft wird und ihnen eine Agenda unterstellt wird. Also etwa der weiße Hai in Jaws oder Hal 9000 in 2001: A Space Odyssey.

5. Der Antagonist und die persönliche Hölle

Ein wirkliches Traumpaar erschaffst du nur, wenn der Antagonist deinen Protagonisten bis vor die Tore seiner persönlichen Hölle treibt. Was ist damit gemeint?

Darth Vader hat nicht nur Lukes Vater getötet, wie in Episode 4 behauptet wird. Er ist Lukes Vater oder das, was von ihm übrig ist. Also muss Luke seinen Vater töten, will er den Imperator stoppen. So kommt es nicht, wie wir alle wissen, und dennoch: Darth Vader ist nicht einfach nur ein Sith. Er verkörpert Lukes Zukunft, wenn dieser dem Imperator nicht widerstehen kann. Ohne diesen wohl größten Plottwist aller Zeiten wäre Darth Vader nicht halb so ikonisch geworden wie er es wurde.

Denn damit schickt Vader Luke in die tiefsten Tiefen. In die Verzweiflung. Erinner dich an das Ende von The Empire Strikes Back: Luke hat eine Hand verloren, erfahren, dass sein Vater der dunkle Lord ist und Han Solo wurde in Carbonit eingefroren. Näher kommt ein Held der Hölle nicht.

Nicht immer fällt es leicht, diese persönliche Hölle für den Helden zu identifizieren. Ein Polizist, der um die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung bemüht ist, wird in einem Verbrecher mitsamt dessen Unrecht und Unordnung einen netten Antagonisten finden. Aber das genügt nicht.

Das bloße Gegenteil ist zu naheliegend, zu gewöhnlich. Ein solcher Antagonist bringt den Protagonisten niemals vor die Tore seiner persönlichen Hölle. Jemand, der etwas Illegales tut, ist noch lang kein Verbrecher. Jemand, der ein Verbrecher ist, ist noch lange nicht das personifizierte Böse. Denn was wäre das für unseren rechtschaffenen Polizisten? Jemand, der Recht und Ordnung nicht nur verletzt, sondern abschafft, ad adsurdum führt. Also ein korrupter Richter oder Politiker. Jemand, mit Macht. Jemand, der das, wofür der Polizist kämpft, nicht nur bedroht, sondern aufzulösen vermag.

6. Zusammenfassung

  • Ohne Antagonist keine Geschichte
  • Antagonist und Protagonist müssen einander brauchen, sich gegenseitig rechtfertigen
  • Ihre Eigenschaften sind oft einander entgegengesetzt, passen wie Schloß und Schlüssel, stehen zueinander in Beziehung
  • Übermächtig ist stets nur der Antagonist, der Protagonist hat Schwächen, die mit dem Antagonisten in Verbindung stehen
  • Der Antagonist ist eine Kraft, die viele Formen annehmen kann
  • Der Antagonist ist und will nicht bloß das Gegenteil des Protagonisten, sondern führt ihn direkt zu dessen persönlicher Hölle

[1] Joseph Campbell (1949). The Hero with a Thousand Faces.

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Wie man eine weibliche Figur schreibt

Die Welt der Geschichten ist voll von starken Männern und verletzlichen Träumern, kindischen Helden und großväterlichen Sturköpfen. Vielleicht weil Männer gerne männliche Charaktere schreiben, vielleicht weil man Frauen nicht mal in der Fiktion zutraut, ein Schwert zu schwingen. Das hat zur Folge, dass dem angehenden Schriftsteller im Rahmen seiner Ausbildung kaum gelungene Beispiele für das Schreiben einer weiblichen Figur begegnen.

Denn seine Ausbildung besteht vor allem aus Lesen, dem Lesen der Klassiker. Damit nicht schon wieder eine Generation von Autoren heranreift, die dem Entwurf weiblicher Figuren reserviert entgegentritt, verrät dieser Artikel das wohlbehütete Geheimnis, um mühelos grandiose weibliche Figuren zu entwickeln. Doch zunächst ein Blick auf einige absolute No-Gos.

1. Bestehst du den Bechdel-Test?

Der sogenannte Bechdel-Test funktioniert folgendermaßen: Reden in deiner Geschichte zwei Frauen miteinander? Sehr gut. Reden sie über etwas anderes als einen Mann und ist die Unterhaltung trotzdem relevant? Dann hast du ihn bestanden, Glückwunsch! Leider ist das selten der Fall. Denken wir an Der Herr der Ringe. Dort gibt es zwar starke (und gut geschriebene) weibliche Figuren. Galadriel, Arwen, Eowyn – doch diese Figuren reden nie miteinander und auch nicht mit anderen Frauen. Wenn sie es täten, würden sie wahrscheinlich über Aragorn, Frodo oder Sauron reden.

Ist Der Herr der Ringe deshalb ein schlechter Film? Nein. Ist es eine moralisch fragwürdige Geschichte? Nein. Sollte Tolkien nachträglich gecancelt werden? Gewiss nicht. Der Bechdel-Test funktioniert nicht auf der Ebene des einzelnen Films oder Buchs. Es gibt Geschichten, in denen nur eine einzige Frau vorkommt, diese aber die Hauptfigur ist – laut Bechdel-Test würde eine solche Story durchfallen. Und wenn man nun mal eine Geschichte über die Rekrutenausbildung im Japan zur Zeit des Kaiserreichs schreibt, werden in der Kaserne keine Frauen zugegen sein.

Aber auf Makroebene ergibt der Bechdel-Test durchaus Sinn. Hier zeigt er an, wie wenig Geschichten erzählt werden, in denen die Perspektive von Frauen relevant ist. Wenn 15 von 20 oscargekrönten Filmen durchfallen, könnte man im 21. Jahrhundert schon mal die Frage stellen, wieso eigentlich.

Für dich spielt der Bechdel-Test beim Schreiben einer weiblichen Figur oder deiner Geschichte an sich also nur insofern eine Rolle, als du mit ihm hinterfragen kannst, ob du unbewusst alten Vorstellungen gefolgt bist oder eine gewisse Vermeidungstaktik fährst, wenn es um weibliche Figuren geht. Wichtiger für die einzelne Geschichte ist der sogenannte Bauer-Test (hehe).

2. Der Bauer-Test

Um den Bauer-Test zu bestehen, muss deine Geschichte folgende Frage mit einem herzhaften Nein beantworten: Gerät dein Held im Laufe der Geschichte mit einer ihm nahestehenden weiblichen Person in Konflikt, die in der Folge ein Hindernis für das Erreichen seines Ziels darstellt? Ich hoffe nicht. Denn falls doch: Klischeealarm. Und Gähn. Und vermutlich auch: Sexismus.

Wie du als aufmerksamer Leser meines Blogs sicher weißt, hat Moral beim Schreiben für mich nichts verloren. Aber der Bauer-Test hat durchaus moralische Relevanz. Warum zur Hölle können sich Autoren die Frau, Mutter oder Tochter des Helden nur als emotionale, moralisch sensible Mahnerin und Nörglerin vorstellen, die die Probleme des Helden verschärft? Snowden, Breaking Bad (Skylar White), Sicario (hier gibt es keine emotionale Verbindung, aber natürlich ist die moralische Instanz eine Frau), Werk ohne Autor, The Mule, Batman (alle) – man muss nicht einmal ins 20. Jahrhundert ins zurückreisen, um dauernd mit dieser Beziehung zwischen Held und weiblicher Figur konfrontiert zu werden. Sind Frauen für uns immer noch Brutstätte der Hysterie? Verhinderer männlicher Größe?

Doch lassen wir die Moral beiseite. Es macht nicht einmal Spaß! Ab einem gewissen Punkt wurde jede Szene mit Skylar White nervtötend (grandios gespielt von Anna Gunn). Streicht man Emily Blunts Figur aus Sicario ändert das nichts an der Geschichte. Kein einziges Mal tut sie etwas von Belang. Sie versucht, mahnt, will eingreifen, aber wird nur zur Seite geschoben. Bis man selbst als Zuschauer denkt: Genug von dem Moralgesülze, lasst uns Kartellleute killen.

Der Bauer-Test ist also auch auf der Mikroebene relevant und damit für dich als Autorin. Denn er bewahrt dich vor einem der ältesten und langweiligsten Klischees des Storytellings. Mach eine ihm nahestehende Frau nicht zum Hindernis deines Helden. Lass vor allem ihre emotionalen Bedürfnisse nicht zu seinem Problem werden.

Wie immer gilt: Es gibt Ausnahmen. Schreibst du ein Drama über eine Beziehung zwischen Drogensüchtigen, sind sich die beiden natürlich gegenseitig ein Hindernis. Aber auch dann: Lass nicht die Frau das Hindernis sein. Lass die mangelnde Einsicht der beiden, dass ihre Beziehung sie daran hindert, clean zu werden, das Hindernis sein. Kurzum: Gib dir Mühe. Sei kein fauler Autor. Davon gibt es genug.

3. Das Geheimnis, um eine grandiose weibliche Figur zu schreiben

Nun aber zum versprochenen Geheimnis. Hast du es einmal verstanden, wirst du nie wieder Schwierigkeiten haben. Also: Wie schreibt man eine grandiose weibliche Figur?

In dem man es nicht tut.

Schreibe eine Figur. Entscheide anschließend, welches Geschlecht sie haben soll.

Legst du zuerst das Geschlecht fest, wirst du Klischees und Vorurteilen in die Falle gehen. Und warum sollte man sich festlegen? Weil der Held auf jeden Fall heterosexuell ist? Weil man unbedingt eine weibliche Figur braucht oder noch eine (siehe Bechdel-Test)? Das ist alles Unsinn. Schreib grandiose Figuren. Mit Verletzungen, beispiellosen Charaktereinführungen, die alle etwas riskieren. Dann wirst du währenddessen auf Eigenschaften treffen, die mit dem einen oder dem anderen Geschlecht mehr Sinn ergeben oder reizvoller sind. Aber setz dich niemals an den Schreibtisch, um einen weiblichen Charakter an sich zu schreiben.

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Eine Liebesszene schreiben

Delikate Details, Körperbeschreibungen, Fantasien – in einer literarischen Liebesszene werden Grenzen gesprengt. Dafür ist Literatur ja auch da: Das Leben heranzoomen, ein anderes imaginieren. Doch als Autor lauern gerade hier etliche Fallstricke! Deshalb habe ich in diesem Artikel die wichtigsten Tipps für eine gelungene Liebesszene zusammengetragen.

1. Der Unterschied zwischen Porno und Erotik

Schauwerte sind nichts ohne Kontext. Versteh mich nicht falsch: Natürlich fasziniert mich der Anblick Stonehenges. Aber doch nicht, weil da Steine aufeinander stehen. Sondern weil absurd große Steine von absurd kleinen Menschen vor absurd vielen Jahren dorthin verfrachtet wurden. Und es irgendetwas bedeutet. Menschen, deren Realität nichts mit der unseren gemein hatte, hatten einen Grund für diese Plackerei. Der vielleicht doch etwas über uns verrät. Über die conditio humana. Wow.

Schauwerte plus Kontext sind magisch. Im Grunde gilt für Liebesszenen also dasselbe wie für alles andere: Bedeutung hebt die Dinge vom grauen Hintergrund ab. So entsteht Erotik. Oder ein guter Actionfilm, der ja auch auf Schauwerten basieren zu scheint. Und das tut er. Aber ein wirklich guter Actionfilm erzählt nicht von Explosionen und Verfolgungsjagden. Er erzählt von einem Helden, von einem Motiv, handelt im Subtext von einer Frage. The Matrix war ein visueller Triumph. Aber gesprochen hat man über die Geschichte, die Prämisse. Zum Vergleich: Jurassic World 2 hat Dinos – und trotzdem spricht niemand darüber.

Schreibst du eine Liebesszene, musst du also Kontext herstellen und dem Gezeigten Bedeutung verleihen. Du kannst nicht einfach von Körperteilen sprechen. Bedeutung liegt in deinen Figuren, im Plot und in dem Motiv.

Schreibst du also einen Roman über einen an Alzheimer erkrankten Mann, dann lass ihn Sex haben mit irgendjemandem, aber beschreibe, wie er sich nur an seine verstorbene Frau erinnert und glaubt, noch einmal mit ihr zu schlafen. Schreibst du einen wilden Actionkracher, lass deinen Helden schwer verletzt von seiner Angebeteten pflegen, lass sie die Führung übernehmen, ihm ein Geschenk machen, in der Befürchtung, er müsse sterben.

2. Vergiss deine Figuren nicht

Wie beschreibt man aber einen Liebesakt möglichst gekonnt? Die oberste Regel lautet: Folge deinen Figuren. Ein schüchterner Junge, der sich gegen seinen übermächtigen Vater nicht behaupten kann, wird im Bett nicht zu einem selbstbewussten Casanova. Und ein Kriegsheld wird sich von einem zusammenstürzenden Bett nicht aus der Ruhe bringen lassen.

Oder gerade er? Unsere Figuren schreiben uns nicht vor, was wir zu schreiben haben. Aber sie definieren Möglichkeiten. Ihnen musst du folgen. Damit triffst du Entscheidungen: Ist dein Kriegsheld traumatisiert? Dann wird er eine Panikattacke kriegen, mitten im Akt, als das Bett zusammenbricht. Wie damals, in der Kaserne, als die Bomben fielen.

Hast du deinen schüchternen Jungen als übergewichtigen Fleischklops beschrieben? Dann stelle etwas mit seinem Fleisch an. Lass es wallen. Oder seine Geliebte umschließen wie Wackelpudding, den sie als kleines Kind liebte.

Hat deine Figur einen Mangel, eine alte Narbe (das sollte sie)? Wie wirkt sich das auf ihren Sex aus? Ist sie trotz dieses Mangels in irgendetwas verdammt gut, etwa wie die Protagonisten in Better Call Saul? Lässt sich diese Fähigkeit auf interessante Weise auf den Sex übertragen? Oder zeigt sich in einer Sexszene erst der Wandel deines Charakters: Der schüchterne Junge packt seine Geliebte, wirft sie aufs Bett und macht Liebe mit ihr, nachdem er seinen Mobbern endlich die Grenzen aufgezeigt hat (Achtung: Klischee).

Du schreibst nicht einfach eine Liebesszene. Du schreibst eine Liebesszene zwischen Figur A und Figur B (und womöglich Figur C-Z). Vergiss das nie.

3. Eine Liebesszene hat einen Ort

So wichtig die Figuren auch sind, solltest du als Autorin nicht vergessen, dass sie sich nicht im Vakuum lieben. Um sie herum passieren Dinge. Stehen Gegenstände. Laufen andere Menschen vorbei. Mach dir das zu nutze. Bette deine Liebenden im wahrsten Sinne des Wortes ein in ihrem Ort.

Oder tue das Gegenteil: Die Bomben fallen auf die belagerte Stadt, die Seiten sind voll von ihrem Lärm. Dann die Liebesszene – und Stille. Das heißt aber nicht, dass die Bomben plötzlich fort sind. Ihr Schweigen verstärkt die Liebesszene nur noch.

Natürlich gilt Punkt 2 auch beim Setting: Was du beschreibst, entspricht der Wahrnehmung deiner Protagonisten. Fallen deiner Figur die Narben an seinen Beinen auf? Gut. Aber auch die Staubkörner auf den Dielen? Das sagt entweder etwas über sie (Charakterisierung) oder ist Ausdruck ihres bereits bekannten Charakters.

4. Schreibe, was du kennst

Du kennst den alten Spruch: Write what you know. Nun, in Liebesdingen wissen wir beileibe nicht alles und können uns auch nicht alles anlesen. Irgendwie bleibt heterosexueller Sex für einen Homosexuellen etwas Abstraktes. Oder SM für den Blümchensex-Liebhaber. Das heißt aber nicht, dass du nicht darüber schreiben kannst.

Wichtiger als Praktiken sind die Gefühle und das Verlangen. Darum dreht sich jede gute Liebesszene. Um das, was sich zwischen den Figuren abspielt: in ihren Köpfen und Herzen. Wenn du also eine tragische Episode schreibst, etwa die letzte Liebesnacht vor der notwendigen Trennung, dann erforsche deine Gefühle. Und erinnere dich, wie es sich angefühlt hat, damals. Würge es hoch. Kotz es aus. Bring es etwas in Form, du weißt schon: Figuren, Narben, Ort, Bedeutung. Et voilà: Deine SM-Szene wird überzeugend sein, obwohl dein krassestes sexuelles Abenteuer die Verwechslung der Damen- mit der Herrentoilette war.

5. Schreibe deine Liebesszenen, als seien deine Eltern bereits tot

Wenn wir schreiben, offenbaren wir uns. Das heißt jedoch nicht, dass wir die Meinungen und Vorlieben unserer Protagonisten teilen. Außenstehende, Freunde, Familie, Feuilleton verwechseln das dennoch gerne. Das kann uns hemmen.

Allein schon „Pimmel“ zu schreiben, mag manchen von uns peinlich sein. Pimmel, Pimmel, Pimmel.

Philip Roth gab dem jungen Ian McEwan daher einmal den Rat, so zu schreiben, als seien seine Eltern bereits tot. Dadurch erreichst du drei Dinge. Erstens verringert es die Scham, die du beim Schreiben verspürst (nicht nur bei Liebesszenen). Zweitens befreit es dich von dem schädlichen Impuls, gefallen zu wollen. Und drittens kannst du dein Manuskript anhand dieses Gedankens selbst lektorieren. Hast du diesen Satz so geschrieben, weil du dich vor den Reaktionen deiner Eltern fürchtetest? Hast du deshalb etwas weggelassen?

Heutzutage muss man diesen Satz vielleicht erweitern. Schreibe so, als sei Twitter nicht existent. Als gäbe es keine Empörungsmaschinerie (wie etwa im Fall von Werk ohne Autor). Moral ist eine gute Sache, meistens. Als Autorin darf sie dich nicht interessieren.

Der Inhalt deiner Texte ist ohnehin per sé amoralisch. Was dein Protagonist tut, ist weder gut noch schlecht in einem realen Sinn. Es passiert ja nicht wirklich. Stirbt deine Heldin, weil sie an das Gute glaubt? Weil sie ihre Liebe frei auslebt? Okay, so what? Das bedeutet nicht, dass du der Meinung bist, man solle das nicht tun. Wer dir etwas anderes erzählt, sollte eine besondere Behandlung deinerseits erfahren: Schreibe, als sei auch er bereits tot.

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Der Inciting Incident

Star Wars erzählt die Geschichte von Luke Skywalker, der ein Jedi-Ritter werden will und sich der Rebellion anschließt, um das böse Imperium zu bekämpfen. Nicht wahr? Ja, aber ganz so einfach ist es nicht. Luke müssen erst einige Dinge widerfahren, bevor sich diese Geschichte entspinnt. Dazu gehört vor allem das auslösende Ereignis seiner Story, der sogenannte Inciting Incident (auch auslösendes Moment genannt).

1. Definition des Inciting Incident

Der Inciting Incident setzt die Geschichte in Gang. Um dies richtig zu verstehen, muss die Geschichte vom Medium unterschieden werden. Ein Buch beginnt auf Seite 1, ein Film mit dem ersten Bild, ein Drehbuch mit der ersten Zeile. Aber die Geschichte, die all diese Medien erzählen, beginnt streng genommen erst ein wenig später. Nämlich mit dem Inciting Incident. Bis dahin ist alles nur Vorgeplänkel, also Exposition. Der Protagonist wird vorgestellt, sein Umfeld, die Gegebenheiten seiner Welt und Zeit, womöglich auch schon der Antagonist. Aber all diese Dinge bilden noch keine Geschichte.

2. Unterschied zur Exposition

Denn dafür fehlen Ziele, Hindernisse, ein Konflikt. Dass Frodo im Auenland lebt und Bilbo seinen Geburtstag feiert, ist eine schöne Sache. Sogar Gandalf ist gekommen. Wir haben auch erfahren, dass der dunkle Herrscher Sauron zu Kräften kommt. Doch noch gibt es nichts zu tun. Nur vage Bedrohungen, einige Fragen, Schauwerte, Witz und etwas Grusel. Dann vermacht Bilbo Frodo seinen Zauberring. Und während Gandalf sich auf Recherche begibt, überqueren Nazguls die Grenze des Auenlands. Das ist der Inciting Incident: Frodo wird zum Ringträger.

3. Inciting Incident und der Protagonist

Wenn ein Ereignis in deiner Geschichte hingegen nichts mit dem Protagonisten zu tun hat, ist es auch nicht der Inciting Incident. Denn das auslösende Moment setzt genau diese eine Geschichte in Gang – keine andere. Und hat daher deinen Helden zum Ziel. Wenn Bilbo also den Ring auf seinen Finger steckt und verschwindet, verrät das etwas über die Macht des Ringes und legt Gandalfs Stirn in Falten. Aber es es nicht der Inciting Incident. Es ist auch nicht Frodos Wiedersehen mit Gandalf, denn zu diesem Zeitpunkt könnten die beiden noch ein aufregendes Angelabenteuer erleben, wenn am nächsten Tag die Einladung zum alle 100 Jahre stattfindenden Großen Angelturnier eintrifft (auch ein Inciting Incident).

Darüber hinaus muss dein Protagonist auf den Inciting Incident reagieren. Frodo lehnt zunächst ab, will den Ring Gandalf überlassen. Doch selbst für Gandalf wäre die Versuchung zu groß. Im Auenland kann der Ring allerdings nicht bleiben, der Feind ist auf dem Weg. Und so kommt es zur endgültigen Reaktion des Protagonisten auf den Inciting Incident: Frodo akzeptiert sein Schicksal. Es gibt sogar ein einzelnes Bild, das diese Reaktion repräsentiert. Frodos Faust umschließt den Ring.

Hier zeigt sich die Sogwirkung des Inciting Incident auf deinen Protagonisten: Er will jetzt X erreichen. Macht sich die Aufgabe zu eigen.

4. Auslösendes Ereignis und der Rest der Story

Der Inciting Incident durchbricht dabei eine Harmonie und verlangt dem Protagonisten alles ab, um diese (wenngleich eine veränderte) Harmonie wiederherzustellen. Natürlich ist Harmonie, vor allem die herrschende, nicht als Lilalauneland zu verstehen. Gut, bei Frodo schon. Es ist Herr der Ringe, also gibt es das absolut Gute und das absolut Böse. Ansonsten aber nicht.

Was ist mit Luke Skywalker? Er lebt ein karges, bedeutungsloses Leben in der Wüste und träumt von großen Abenteuern, die er nie erleben wird. Aber er kommt zurecht. Auftritt R2-D2, samt Videobotschaft. Plötzlich ist der junge Farmer mit dem großen Krieg in der Galaxis verknüpft. Und jemand braucht seine Hilfe. Er kann nicht zurück zu seinem Farmleben, nicht ohne seine Träume zu verraten. Diese Harmonie ist dahin.

Mit dem Inciting Incident betreteten zwei weitere Storybestandteile die Bühne. Zum einen wird die Hauptfrage der Handlung aufgeworfen: Wird Luke Leia retten (und ein großer Jedi wie sein Vater vor ihm werden) können? Wird Frodo den Ring vor dem Feind beschützen können? Überleben die Teenies den Horrorstreifen? Diese Frage kann im weiteren Verlauf natürlich noch verfeinert werden. Frodo weiß noch nicht, dass er den Ring im Feuer des Schicksalsberg zerstören muss (das wäre auch ein bisschen viel verlangt für den Anfang).

Zum anderen wird eine obligatorische Szene¹ vorweggenommen. Frodo wird den Ring in ein sicheres Versteck bringen müssen (und da es keines gibt, zerstören). Luke wird gegen Vader kämpfen, der, wie wir schon bald erfahren, seinen Vater getötet hat (und den wir in der Exposition schon kennenlernten).

Der perfekte Zeitpunkt für das auslösende Ereignis ergibt sich aus dem bisher Gesagten. Nur in Ausnahmefällen beginnt eine Geschichte mit dem auslösenden Moment. Denn das kostet die Exposition. Fast nie dauert es bis zur Hälfte der Story, ehe er eintritt. Denn das garantiert Langeweile. Irgendwo im ersten Viertel der Geschichte ist er bestens untergebracht.

In der folgenden Grafik findest du einige weitere Beispiele:

Inciting Incidents Beispiele

5. Dein eigener Inciting Incident

All das mag auf den ersten Blick verwirrend sein. Du wolltest doch einfach deine Geschichte beginnen und jetzt musst du dich mit Fremdwörtern herumschlagen und sollst irgendwelche Regeln befolgen. Doch tatsächlich ist der Inciting Incident eines der wichtigsten dramatischen Elemente überhaupt. Mach den Selbstest! Erzähle deiner Schwester, deinem Freund, die aufregendste Geschichte, die du selbst erlebt hast (möglichst knapp). Du wirst unter anderem von einem auslösenden Ereignis erzählen, das garantierte ich dir. Oder deine Schwester wird dich anschauen und fragen: Ja, aber wieso?

Deshalb kommt auch in jeder guten Log Line ein Inciting Incident vor. Selbst wissenschaftliche Texte haben streng genommen ein auslösendes Ereignis, nämlich ein Problem, dass eine darauf aufbauende Fragestellung motiviert.

Also brich alle Regeln, die du kennst. Aber vergiss nicht den Inciting Incident.

[1] Robert McKee (1997). Story – Substance, Structure, Style and the Principles of Screenwriting.

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Beginne mit einer Verletzung

Jede große und kleine Geschichte ist im Kern auf eine Verletzung des Helden zurückzuführen.

Der Drachentöter Siegfried! Die Ferse Achilles!

Große Helden haben eine Schwäche, einen Mangel. Dieser Mangel ist die Folge einer Verletzung: Achilles ist das Kind einer Göttin und eines Sterblichen. Deshalb taucht ihn seine Mutter in den Styx, ihn von der Sterblichkeit zu befreien. Hält ihn dabei an der Ferse fest.

Aber in der Verletzung liegt meist auch eine Chance: zu wachsen, zu reifen, oder ihren Effekt gar als Waffe einzusetzen (Siegfried ist quasi unverwundbar).

Eine gelungene Story wird daher eine solche Verletzung beinhalten und daraus den Charakter ihres Helden bestimmen: Nemos Vater hat seine Frau und all seine Kinder verloren, 999. Das ist seine Verletzung. Deshalb ist er ein Helikopter-Vater (das ist der Effekt). Deshalb wagt sich Nemo zu weit raus und wird entführt (da beginnt der Plot).

Wäre er einfach nur ein Helikopter-Vater – wen würde das interessieren? Aber die Verletzung erklärt sein Verhalten und macht die Sache für uns Zuschauer relevant.

Ein Beispiel:

Luke Skywalker träumt von großen Abenteuern, davon Pilot zu werden, aber muss mit seinen Zieheltern leben und auf deren Farm nach dem Rechten sehen (denkt er). Was fehlt ihm? Glaube an sich selbst! An Möglichkeiten, die es gibt, die es für ihn gibt.
Wir wissen nicht genau, was der Grund für diesen Mangel ist. Das ist nicht immer wichtig, oft genügen Andeutungen, aber irgendetwas hat ihm diese Überzeugung genommen.

Er trifft schließlich Obi-Wan, seine Zieheltern werden ermordet und das Abenteuer ruft nach ihm. So brutal das klingt: Seine Zieheltern mussten sterben, denn andernfalls wäre er dem Ruf des Abenteuers nie gefolgt. Zu störrisch, zu verbohrt, zu ungläubig ist er.
Dann erfährt er von seinem Vater, lernt erste Dinge bezüglich der Macht, bleibt aber recht distanziert dazu.
Und was passiert, als er im großen Finale den Todesstern zerstört? Er verzichtet auf den Computer, mit dem alle Piloten vor ihm gescheitert sind, und vertraut auf die Macht. Boom!

Die Macht des Star-Wars-Universums ist am Ende Lukes eigener, im Vergleich winziger Charakterbogen ins Große projiziert: Luke fehlt der Glaube an sich und die Welt. Allerdings gibt es etwas in ihm, mit dem er alle seine Träume von Abenteuern und Bedeutung erfüllen kann. Der Haken: Um es einzusetzen, muss er, naja, daran glauben und von sich überzeugt sein.

Was ist die dunkle Seite der Macht? Nicht daran glauben, nicht an sich, an das Gute, und daher den einfachen, schnellen Weg wählen. Letztlich lässt sich also die gesamte Story von Krieg der Sterne auf die Verletzung, und den daraus resultierenden Mangel des Helden Luke Skywalker zurückführen – das ist grandios geplottet.

Wenn eine Geschichte nicht recht funktioniert, frage dich daher, ob folgendes darin enthalten ist: Ein Held, der eine Verletzung hat, die ihn von seinem Ziel abhält, weil er sich aufgrund dieser Verletzung so und so verhält, der diese Verletzung aber heilen kann im Laufe des Abenteuers, und dann, deshalb!, auch sein Ziel erreicht.

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Charaktereinführung: Wie Figuren überlebensgroß werden

Die Charaktereinführung entscheidet darüber, wie der Leser auf die entsprechende Figur reagiert: der erste Eindruck ist ein bleibender. Umso wichtiger ist es, deine Charaktere so einzuführen, dass sie die von dir beabsichtigte Wirkung erzielen und nicht auf Seite 100 plötzlich zur Bedrohung werden, obwohl du sie drei Kapitel lang als liebevolle Familienväter vorgestellt hast, die keiner Mücke etwas antun könnten.

Je nach Rolle der Figur verfolgt die Charaktereinführung unterschiedliche Ziele. Bei einem klassischen Antagonisten sind die wesentlichen Funktionen der Figur einleuchtend: Er sollte auf irgendeine Weise bedrohlich wirken, ein Überzeugungstäter sein und die Schwäche deines Protagonisten auszunutzen wissen. All das kannst du binnen weniger Seiten etablieren. Aber wie macht man das?

Beispiel 1: Captain Hook

Er fragte, ob gerade viele Piraten auf der Insel wären, und Peter sagte, er habe noch nie soviele gekannt.
“Wer ist gerade Kapitän?”
“Hook,” antwortete Peter, und sein Gesicht wurde sehr ernst als er dieses verhasste Wort aussprach.
“Ohje! Hook?”
“Ay.”
Dann fing Michael tatsächlich an zu weinen, und selbst John konnte nur in Schlucklauten sprechen, denn sie kannten Hooks Ruf.
“Er war Blackbarts Bootsmann” flüsterte John heiser. “Er ist der schlimmste von allen. Der einzige Mann den Long John Silver fürchtete.”
“Das ist er”, sagte Peter.
“Wie ist er so? Ist er groß?”
“Nicht so groß wie er war.”
“Wie meinst du das?”
“Ich habe ein Stück von ihm abgeschnitten.”
“Du!”
“Ja, ich”, sagte Peter scharf.
“Ich wollte nicht respektlos sein.”
“Oh, schon gut.”
“Aber, welches Stück?”
“Seine rechte Hand.”
“Dann kann er nicht mehr kämpfen?”
“Oh, das kann er!”
“Linkshänder?”
“Er hat einen eisernen Haken statt der rechten Hand, und damit haut er zu!”
“Haut!”
“Sag mal, John,” sagte Peter.
“Ja.”
“Sag, ‚Ay, ay, sir.’”
“Ay, ay, sir.”
“Es gibt eine Sache”, fuhrt Peter fort, “die mir jeder Junge, der unter mir dient versprechen muss, also auch du.”
John erblasste.
“Und zwar das: Wenn wir Hook in einem offenen Kampf treffen, musst du ihn mir überlassen.”

J. M. Barrie, Peter Pan (eigene Übersetzung)

Peter Pans Erzfeind Captain Hook wird in dieser kurzen Szene eingeführt, ohne auf der Bildfläche zu erscheinen. Der kleine John wirkt hierbei als Verstärker der von Peter berichteten Einzelheiten zu Hook: er erschrickt, erblasst, wiederholt einzelne Wörter. So werden die Informationen emotionalisiert und Hook erscheint bedrohlicher als ohnehin schon – schließlich fürchtete ihn sogar Long John Silver.

Bereits die allererste Information – wer ist Kapitän? – wird auf diese Weise aufgeladen. Die Kinder reagieren allein auf diesen Namen mit Entsetzen, “sie kannten Hooks Ruf“. Als Leser will man zwangsläufig mehr erfahren über diesen Piraten und entwickelt gleichzeitig selbst eine gewisse Furcht: Hoffentlich kann Pan diesem Schurken das Handwerk legen.

Aber ein Schurke ist nichts ohne den Protagonisten und umgekehrt. Deshalb hat der Autor J. M. Barrie auch an die Beziehung der beiden gedacht. Und wie hätte er diese eindrucksvoller bebildern können als durch den Ausruf Peters: “Ich habe ein Stück von ihm abgeschnitten.“

Das etabliert einerseits eine enge, persönliche Beziehung zwischen den beiden, fast wie zwischen Captain Ahab und Moby Dick. Hier geht es nicht nur um Gut gegen Böse. Die Angelegenheit ist privat. Andererseits ist sonnenklar: dieser Kampf geht bis aufs Blut.

Dieser Eindruck wird durch die geniale Schlusshandlung der Szene abermals verstärkt: John muss Peter versprechen, Hook in jedem Fall Peter zu überlassen, wenn es zum Kampf kommt. Das wiederum ist selbst ein Versprechen: Dieser Kampf wird kommen.

Eine gelungene Charaktereinführung präsentiert also den Charakter selbst, die Beziehung des Charakters zum Rest der Geschichte und ein Versprechen, d. h. ein Spannungselement. All dies geschieht natürlich via Informationen, die dem Leser übermittelt werden. Aber niemals werden einfach nur Informationen aneinandergereiht und erst recht nicht alle erdenklichen. Im zitierten Beispiel weiß der Leser bisher nicht besonders viel über Hook: Er ist Kapitän, hat einen Haken als Hand, sein Ruf eilt ihm voraus und er und Peter sind Erzfeinde. Dass er schwarze Locken hat, einen treuen Freund Smie und dass er die Kinder entführen will – davon ahnt der Leser nichts.

Beispiel 2: Alice im Wunderland

Alice was beginning to get very tired of sitting by her sister on the bank, and of having nothing to do: once or twice she had peeped into the book her sister was reading, but it had no pictures or conversations in it, “and what is the use of a book,” thought Alice, “without pictures or conversations ?”

Lewis Caroll, Alice im Wunderland

Mit diesem Absatz beginnt Lewis Caroll seine Geschichte über Alice und ihre Abenteuer im Wunderland. Gleichzeitig beginnt damit auch die Charaktereinführung seiner Protagonistin Alice. Der Protagonist sollte in der Regel sympathisch sein, eine Schwäche sein Eigen nennen und einen Wunsch haben. All das etabliert Caroll in diesem kleinen Absatz: Der Leser kann nachempfinden, wie langweilig so ein Buch ohne Bilder sein muss, so ging es ihm auch oft als er klein war. Zudem ist Alice herzhaft unbedarft. Allerdings könnte das auch eine verhängnisvolle Schwäche sein. Und was machen kleine Kinder, die der Langeweile entkommen möchten? Nun, mitunter laufen sie dem nächstbesten Kaninchen hinterher.

Ein paar Absätze und Meter unter der Erde weiter kommt es zum ersten Pay-Off der gezeigten Charaktereinführung:

[T]his time she founda little bottle on it […] and tied round the neck of the bottle was a paper label with the words “DRINK ME” beautifully printed on it in large letters. It was all very well to say “Drink me,” but the wise little Alice was not going to do that in a hurry: “no, I’ll look first,” she said, “and see whether it ’s marked ‘poison’ or not.”

Lewis Caroll, Alice im Wunderland

Alice‘ Unbedarftheit verführt sie dazu, das Fläschchen auszutrinken – gleichzeitig bleibt sie dabei herzhaft sympathisch und ihr Ziel, die Langeweile loszuwerden, rückt näher. Caroll beweist hierbei sein komödiantisches Talent (und nicht nur hier): das Wörtchen „wise“ bereitetet den Leser darauf vor, dass Alice doch wohl nicht so dumm sein wird, diese Tinktur zu trinken. Allerdings entpuppt sich Alice‘ Weisheit als blindes Vertrauen in den Hersteller des Tranks – urkomisch. Caroll folgt dabei dem Dreischritt der Komik – Erwartung, Enttäuschung, Gelächter – und heftet einen weiteren Sympathiepunkt an seine Protagonistin.

Beispielhafte Charaktereinführung:

Für die Einführung deiner Figuren sind also nicht viele Worte nötig. Es kommt auf die Effektivität der wenigen Worte an, die du verwendest. Effektivität wiederum ist das Produkt aus Relevanz und Charme. Was bedeutet das jenseits des Genius von Jahrhundertautoren? Sehen wir uns ein fiktives Beispiel an:

Max malte gerne mit Wachsmalstiften, am liebsten Tiere. Haare malte er als kleine Dreiecke. Füße als Klumpen. Zähne sahen wie Haare aus, nur ragten sie aus den Mäulern. Gegen 13 Uhr war der Kindergarten aus. Schade.

fiktives Beispiel

Hier sind bereits einige Motive angelegt: Max‘ mangelnde Malkunst versprüht etwas von dem Charme, der von Alice‘ Unbedarftheit ausgeht. Offenbar geht er in den Kindergarten. Er mag den Kindergarten – aber all das genügt nicht, um den Charakter wirklich effektiv einzuführen. Die Relevanz der Informationen bleibt zu diffus und der Charme könnte noch deutlicher hervortreten:

Haare malte Max als kleine Dreiecke. Füße als Klumpen. Deshalb besuchten alle Tiere in Max‘ Wachsmalzoo den Orthopäden, sogar die zierlichen Antilopen. Zähne sahen wie Haare aus, nur im Mund drin. Um 13 Uhr stand Max‘ Mutter vor dem Kindergarten. Die hatte Haare auf den Zähnen.

fiktives Beispiel

Weit entfernt von Perfektion gelingt dieser zweiten Version etwas entscheidendes für eine gelungene Charaktereinführung: die vermittelten Informationen (Max kann nicht malen, geht in den Kindergarten, mag den Kindergarten) werden indirekt vermittelt, also mit Charme. Sollte später in der Geschichte auf Wachsmalstifte, 13 Uhr oder Haare und Zähne und deren Verwandschaft zurückgegriffen werden, dann wird das elegant anmuten, nicht konstruiert. Denn all diese Dinge wurden beiläufig mitgeteilt, als Teil eines größeren Bildes, bisweilen gar als erster Pay-Off (das mit den Haaren auf den Zähnen).

Außerdem mag der Leser Max. Wir mögen das Unperfekte und wir mögen nachvollziehbare Wünsche. Über beides verfügt Max. Das wissen wir bereits nach einem Absatz. So hat unbemerkt auch die Relevanz Einzug gehalten: Max will lieber nicht nach draußen zu seiner Mutter, er will weiter Tiere mit Dreiecken auf dem Kopf malen. Vielleicht ist das Verhältnis der beiden schwierig. Und hat Max zuhause etwa keine Wachsmalstifte?

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Allgemeine Schreibtipps Ein sehr guter Text Prosa

Figurenentwicklung: Alle Figuren müssen etwas riskieren

Figuren verfolgen Ziele. Luke Skywalker will den Todesstern zerstören, Will Smith will die Welt retten, Sigourney Weaver will dem Alien entkommen. Aber ein Ziel allein macht noch keinen Plot. Wäre der Todesstern unbewacht und unbewaffnet, würde Luke einfach hinfliegen, seine Raketen abfeuern und niemand hätte uns je davon erzählt. Für eine gelungene Figurenentwicklung ist es daher unerlässlich, das Verfolgen des Ziels mit einem Risiko aufzuladen. Luke droht im Kampf um den Todesstern der Tod und damit das Scheitern der Rebellion – gleichbedeutend mit ewiger imperialischer Tyrannei. Versagt Luke, lässt er seine Freunde im Stich, die auf ihn und die Macht zählen. Sigourney Weaver hat es da einfacher: Sie riskiert bloß ihr Leben, ganz genregetreu.

Die große Kunst der Figurenentwicklung ist es jedoch, sich dabei nicht nur auf den Protagonisten zu konzentrieren. Für jede deiner Figuren sollte etwas auf dem Spiel stehen. Auch für die Bösen unter ihnen. Sie alle müssen ihre Haut zu Markte tragen.

Ein formvollendetes Beispiel für diesen Teil der Figurenentwicklung liefert das 2016 mit dem Oscar für den besten Film ausgezeichnete Journalistendrama Spotlight (leichte Spoiler im weiteren Verlauf).

Die investigative Abteilung des Boston Globe besteht aus vier Journalisten: Michael Keaton als deren Chef, Mark Ruffalo als ehrgeiziger Schreiberling, Rachel McAdams als einfühlsame Reporterin und Brian d’Arcy James als Mann für die Recherche. Alle vier Figuren verfolgen dasselbe Ziel. Sie wollen den Missbrauchskandal aufdecken, der die katholischen Priester in Boston zu betreffen scheint. Und alle vier Figuren nehmen dabei ganz persönliche Risiken in Kauf.

Persönliches Risiko > Allgemeines Risiko

Keatons Figur muss sich von alten Freunden abwenden und wird als Verantwortlicher seitens der Kirche unter Druck gesetzt. Ruffalos Charakter stammt selbst aus dem Milieu, in dem die Priester auf Beutefang gingen und riskiert die eigene Integrität. McAdams Figur hat den von ihr aufgespürten Opfern versprochen, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Und d’Arcy James Figur wohnt mit seinen Kindern gegenüber einem Haus für auffällig gewordene Priester. Über allen schwebt zudem der drohende Jobverlust. Die Verleger haben einen neuen Herausgeber eingesetzt, der alles auf den Prüfstand stellen soll. Auch den Luxus, sich eine eigene Investigativ-Abteilung zu leisten.

Die Figurenentwicklung in Spotlight ist sogar so formvollendet, dass eben jener neue Herausgeber (Liev Schreiber) als einziger Charakter kein Risiko trägt. Er stammt nicht aus Boston, ist ohnehin gut situiert und zudem Jude. Oder birgt gerade das ein Risiko für ihn?

Nimmt man den Figuren ihre persönlichen Einsätze, erhält man austauschbare Schablonen, die einfach gewinnen wollen, der guten Sache wegen. Aber das reicht nicht, um den Leser zu fesseln. Erst durch den Kniff, alle Figuren mit hohen Einsätzen spielen zu lassen, steht auch in jeder Szene etwas auf dem Spiel. Ruffalo kommt nicht an die geheimen Unterlagen – aber er darf seine Leute nicht im Stich lassen. McAdams muss die Recherchen einstellen – hat aber doch den traumatisierten Opfern ihr Wort gegeben. D’arcy James muss Stillschweigen bewahren – aber in seiner Nachbarschaft leben pädophile Priester.

Auch wissenschaftliche Arbeiten kennen Risiko

In nicht-fiktiven Texten haben wir es zwar selten mit ausgedachten Figuren zu tun, aber selbst hier hilft es, die Risiken der Beteiligten (die Protagonisten eines Artikels, einer Debatte, historische Persönlichkeiten) zu verdeutlichen. Deine Arbeit über Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft kann einfach dessen Ziel darstellen (Was können wir wissen?) und wird damit dem Forschungsinteresse genügen. Wenn es dir aber gelingt, einzufangen, was dabei auf dem Spiel steht (Kann es überhaupt Metaphysik geben? Hat David Hume etwa Recht mit seinem Skeptizismus? Lassen sich Empirismus und Rationalismus miteinander versöhnen?), wird auch der Leser Interesse zeigen. Oft bietet das einen Ansatzpunkt für einen grandiosen ersten Satz deiner Arbeit. Zudem schult es dein kritisches Denken, dir die Frage nach den persönlichen Einsätzen der Beteiligten zu stellen.

Robert McKee verwendet diesen Trick in der Einleitung zu seinem Klassiker Story über das Drehbuschreiben. Er beendet den Abschnitt mit der Erläuterung seiner Motivation, dieses Buch zu schreiben: Sein unstillbarer Hunger nach großartigen Filmen. Wenn es ihm gelingt, sein Wissen an seine Leser zu vermitteln und seine Leser daraus die richtigen Lehren ziehen, wird es weiterhin einzigartige Filme geben. McKee ist also auf einer Mission – und wir als seine Leser sind zu seinen Komplizen geworden. Und etwas steht auf dem Spiel: Wohl und Wehe des Kinos. Spannend.

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