Kategorien
Ein sehr guter Text Prosa

Der erste Plot Point: Plötzlich gefesselt

Wendepunkte spielen eine entscheidende Rolle dabei, das Interesse der Leser oder Zuschauer aufrechtzuerhalten und die Handlung einer Geschichte voranzutreiben. Der wichtigste Wendepunkt einer Geschichte ist der erste sogenannte Plot Point. Mit ihm verrätst du deinen Lesern bereits sehr viel über die Qualität deiner Handlung. Denn wer schon den ersten Plot Point handwerklich in den Sand setzt, wird auch am Ende nicht mit einer konsistenten Geschichte oder überraschenden Lösung punkten. In diesem Artikel werden wir das Konzept des Plot Points 1 daher genauer betrachten und ich erkläre dir, wie du diesen wichtigen Wendepunkt in deinen eigenen Geschichten am besten gestalten kannst.

Was ist der erste Plot Point?

Der erste Plot Point bringt eine grundlegende Veränderung in der Geschichte mit sich und stellt so die Weichen für das weitere Geschehen. Meist ereignet er sich am Ende des ersten Viertels einer Handlung, auch wenn Romanautorinnen hier flexibler sein dürfen. Gab es nach 30 Minuten Film noch keinen ersten Plot Point, schaut man allerdings entweder einen sehr unkonventionellen Streifen oder schaltet ab.

Der erste Plot Point markiert dabei den Übergang vom Einführungsteil der Handlung, also dem ersten Akt, hin zum eigentlichen Konflikt, der im zweiten Akt bearbeitet wird. Dabei sind einige Dinge entscheidend für dessen Funktionalität:

a) der erste Plot Point betrifft immer deinen Protagonisten, nicht irgendwen. Sonst ist dieser Irgendwen dein Protagonist.

b) der erste Plot Point ist ein schnelles, in sich abgeschlossenes Ereignis, kein Prozess: eine Enthüllung, Entdeckung, ein alles verändernder Knall.

c) der erste Plot Point macht deutlich, wie die weitere Handlung verlaufen wird, und zwar sehr spezifisch: X muss getan werden, um Z zu erreichen.

d) der Protagonist und die Leser/Zuschauer werden vom ersten Plot Point überrascht und sind unter Umständen schockiert. Er ist also unvorhersehbar.

Welche Folgen hat der erste Plot Point?

Infolge des ersten Plot Points ist nicht nur klar, was im weiteren Verlauf der Handlung geschehen wird. Der Protagonist ist nun auch gezwungen zu handeln. Nicht sofort, denn das fällt dem Held womöglich schwer aufgrund seiner Unzulänglichkeiten, aber früher oder später wird ihm nichts anderes übrigbleiben. Er sitzt quasi in der Falle.

Damit verbunden ist die Konkretisierung des Ziels – und der negativen Folgen eines möglichen Versagens. Der erste Plot Point macht also auch klar, was auf dem Spiel steht.

Die normale Welt, die du durch die Exposition etabliert hast, ist nach dem ersten Plot Point nicht mehr dieselbe.

Beispiele für erste Plot Points

Okay, das war viel Theorie. Um besser zu verstehen, was ein erster Plot Point sein kann und was nicht, wollen wir uns einige berühmte und fiktive Beispiele ansehen.

Eine Gruppe Wissenschaftler wird eingeladen, um den neuen Vergnügungspark eines Multimilliardärs auf seine Sicherheit zu prüfen. So richtig Lust haben sie nicht. Dort angekommen, entdecken sie, dass dort echte lebende Saurier gehalten werden.

Jurassic Park (1993)

Jurassic Park ist ein Musterbeispiel für hervorragendes Plotting. Zunächst wird die Welt etabliert und die Protagonisten eingeführt. Sie haben auch ein erstes Ziel, nämlich die Sicherheit des Parks zu bestätigen (die Investoren sind aufgrund eines kleinen Zwischenfalls nervös geworden).

So richtig motiviert sind sie nicht. Aber dann stellt ein Ereignis ihre Welt auf den Kopf: Es gibt hier echte Dinos!

Zugegeben, so wirklich unvorhersehbar ist das rein inhaltlich nicht. Aber die Szene, in der zum ersten Mal der Brachiosaurus auf der Leinwand erscheint, ist ein echter Wow-Moment. Und dieser erste Plot Point ist dennoch ein plötzliches Ereignis, das die Protagonisten in eine völlig andere Lage bringt und eine klare Zielvorgabe für den Rest der Geschichte macht: Sie wollen sich den Park nun wirklich ganz genau ansehen und alles über die Technologie erfahren. Was sie nicht ahnen: Das wird nicht ganz so reibungslos von statten gehen, wie sie denken.

An diesem Beispiel erkennen wir auch den richtigen Zeitpunkt für den Plot Point 1: Die Geschichte ist bereits in Gang gekommen, denn die Wissenschaftler sind ja schon auf der Insel, haben sich schon breitschlagen lassen und es gibt bereits eine Aufgabe für sie. Erst dann ergibt es Sinn, der Geschichte eine andere Wendung zu geben.

Ein weiteres Beispiel:

Bilbo Beutlin wird auf seiner 111. Geburtstagsfeier plötzlich unsichtbar. Gandalf ahnt, dass etwas nicht stimmt. Jahre später erkennt er: Bilbo besitzt den Ring der Macht, ein Gegenstand von unvorstellbarer Kraft, aber auch Quelle des Bösen. Er bittet Frodo, Bilbos Cousin, den Ring an sich zu nehmen und an einen sicheren Ort zu bringen, zu den Elben.

Der Herr der Ringe – Die Gefährten (2001 bzw. 1954)

Auch hier wirkt der erste Plot Point nicht sonderlich überraschend, aber das liegt daran, dass wir die Geschichte hundertmal gehört bzw. gesehen haben. Stellt man sich einmal vor, nichts darüber zu wissen, ist es in der Tat ein Schock: Der Ring der Macht? Hier, im Auenland? Und Frodo soll ihn fortbringen? Er ist doch nur ein Hobbit?

Dementsprechend wird auch die Welt des Protagonisten auf den Kopf gestellt. Mit dem beschaulichen Leben im Auenland ist es nun vorbei. Frodo muss es hinter sich lassen, weil ihn das Schicksal ereilt hat. Schlimmer noch: Wenn seine Mission nicht gelingt, ist das Auenland an sich bedroht. Außerdem wird klar, wovon die nächsten 8 Stunden bzw. 1000 Seiten handeln werden: Vom Versuch, den Ring in Sicherheit zu bringen. Erst bei den Elben erfahren wir: Sicher, ist er nur im Feuer des Schicksalsberges.

Plot Point 1 vs. Inciting Incident

Nun zu einem wahren Meisterwerk der Plotkunst:

Die aufgebrezelte Mode-Liebhaberin Elle wird von ihrem Freund sitzen gelassen. Er will nach Harvard, um Jura zu studieren, und Elle ist ihm dafür zu unseriös. Elle beschließt, ihm nach Harvard zu folgen und ebenfalls Jura zu studieren. Dort erfährt sie, dass er inzwischen verlobt ist. Doch davon lässt sie sich nicht abbringen: Sie will ihn mit exzellenten Leistungen beeindrucken und so zurückerobern.

Natürlich blond (2001)

Hier lohnt es sich genauer hinzugucken, denn auf den ersten Blick scheint es hier zwei Plot Points zu geben: Die Trennung und wenn Elle erfährt, dass ihr Ex bereits verlobt ist. Beides geschieht plötzlich und unerwartet, stellt die Welt der Protagonistin auf den Kopf und macht eine klare Zielvorgabe: Kämpfen um den Herzbuben!

Aber die Trennung ist nur der sogenannte Inciting Incident. Das ist das Ereignis, das die Geschichte in Gang setzt. So auch hier: Ohne die Trennung gäbe es keinen Grund für Elle, überhaupt nach Harvard zu gehen und es gäbe auch kein Ziel. Und streng genommen verändert der Inciting Incident von „Natürlich blond“ Elles Welt auch nicht so radikal wie der erste Plot Point: Sie denkt, sie müsse ihrem Freund nur hinterherlaufen, um ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Erst als sie erfährt, dass er verlobt ist, begreift sie, dass sich die Trennung gegen sie als Person richtet, dass er sie nicht für fähig und geeignet genug hält, um sie zu seiner Frau zu nehmen. Das ändert Elles Welt nachhaltig, denn die modeverrückte Vorstadt-Barbie wühlt sich plötzlich durch Paragrafen und Gesetzestexte.

Wie auch bei Jurassic Park ist im ersten Plot Point bereits das erste Scheitern der Protagonistin angelegt: Elle wird bald merken, dass sie gegen die Vorurteile ihr gegenüber nicht ankommt, nur weil sie sich verstellt und unterordnet. Die Wissenschaftler im Jurassic Park werden bald merken, dass man mit der Natur besser nicht leichtfertig umgehen sollte und das Staunen schnell in Entsetzen umschlagen kann. Frodo wird merken, dass seine Bürde viel größer ist als ursprünglich angenommen. In der Folge werden alle ihre Strategie wechseln müssen, um sich der neuen, wahren Aufgabe anzunehmen. Es ist diese Abfolge von Enttäuschungen, Versuchen und Erkenntnissen, die den Kern jeder großen Geschichte ausmacht. Der erste Plot Point nimmt dabei eine besonders prominente Stellung ein, weil in ihm alles weitere bereits angelegt ist.

Und nun schreiben wir selbst eine Exposition, einen Inciting Incident und einen ersten Plot Point:

Fiktives Beispiel

Eine Maus lebt ein abgeschiedenes Leben in Armut und ohne soziale Kontakte, als sie eines Morgens einen Brief erhält, der sie auffordert, ihr Erbe anzutreten: Großonkel Cheesy McCrust hat ihr seinen Reichtum vermacht. Um das Erben anzutreten, muss sie in die Hauptstadt Mouse Town reisen.

fiktives Beispiel

Okay, wir haben einen Protagonisten, die gewöhnliche Welt und einen Inciting Incident. Von hier aus betrachtet hat die Geschichte noch keine rechte Form angenommen, was soll schon passieren, wo ist das Problem? Das unterstreicht die Bedeutung des ersten Plot Points: erst danach geht es richtig los. Wir müssen uns also einen überlegen.

In Mouse Town besucht die Maus den Notar, der ihr zu verstehen gibt, dass ihr Erbe eine Schuldenlast von 3.000 Käsetalern ist. Die Maus ist ruiniert. Aber der Notar kennt einen Ausweg: Vielleicht ist in der verfallenen Villa des Onkels ja noch etwas von Wert zu holen.

fiktives Beispiel

Schockschwere Not: Das Erbe ist ein Haufen Schulden! Alles, was jetzt noch bleibt, ist im Abrisshaus des Onkels nach einem Schatz zu suchen. Einen Weg zurück gibt es nicht mehr: dort wartet nur der Ruin. Die nächsten 200 Seiten werden davon handeln, ob und wie die Maus es schaffen wird, diesen Ruin abzuwenden.

So viel sei verraten: Sie wird einen Schatz finden, aber einen ganz anderen als gedacht. Und der wird ihrem einsamen Leben ein Ende bereiten, weil sie dadurch einsehen wird, dass die Menschen bzw. Mäuse nicht alle schlecht sind und dass nicht sie das Problem ist. Und dann wird die Sache mit dem Ruin auch noch gelöst.

All das ist bereits im ersten Plot Point angelegt. Denn ohne ihn wäre die Maus nie in diese missliche Lage geraten und wäre nie gezwungen worden, ihr altes Leben zu hinterfragen.

Plot Point 1 und Figurenentwicklung

Dabei klingt bereits eine weitere Wahrheit guten Plottings an: Ein guter erster Plot Point wird immer auch die Figurenentwicklung in Gang setzen. Als Luke Skywalker zu den Sternen aufbricht, weil seine Zieheltern ermodert und seine Farm niedergebrannt wurde, ist das der erste Plot Point von Krieg der Sterne. Gleichzeitig beginnt damit seine Reise in sein Inneres, wo er sich dem Problem wird stellen müssen, ein Zauderer zu sein, ohne Glaube an sich selbst. Nur dann kann er ein Jedi werden (und den Todesstern zerstören. Gleiches gilt für Frodo, für Elle und für die Wissenschaftler von Jurassic Park.

Ich hoffe, dieser Artikel hat dir geholfen, zu verstehen, wie der erste Plot Point einer Geschichte funktioniert und worauf man dabei achten muss.

Hast du einen Text geschrieben, der von einem Lektorat profitieren könnte? Informiere dich über alles, was du über das Lektorat eines Romans wissen musst. Oder schicke ihn an kontakt@lektorat-bauer.de und erhalte ein kostenloses Probelektorat samt unverbindlichem Angebot. Deine Daten werden vertraulich behandelt.

Kategorien
Ein sehr guter Text Prosa

Dialoge schreiben

Manche Dinge müssen einfach gesagt werden. Das macht es dir als Autorin mitunter leichter. Aber manchmal auch verdammt schwer. Denn gute Dialoge zu schreiben, will gelernt sein. In diesem Artikel erfährst du alles über die größten Fallstricke beim Verfassen deiner Dialogszenen – und wie du es richtig machst.

1. Realistisch bleiben!

Sich an der Realität zu orientieren, ist auch beim Schreiben von Dialogen ein guter erster Rat. Aber was heißt das konkret? Zunächst einmal solltest du deine Figuren nicht so sprechen lassen, wie du denkst, dass Menschen oder genauer, Menschen ihres Schlages, sprechen. Was das bedeutet? Stell dir vor, wie Stefan Raab sich über Rapper lustig macht: „Ey yo, Bruder, was geht ab, alter! Fetter Scheiß, yo!“ Genau so solltest du deine Rapper nicht sprechen lassen. Das ist klischeebeladen, aber vor allem ist es: unrealistisch. Es reißt den Leser aus der Geschichte.

Stattdessen solltest du dir erstmal Interviews mit Rappern anschauen, Kool Savas hören und ein Rap-Battle auf YouTube anschauen. Dann wirst du schnell merken, dass diese Leute durchaus eine eigene Sprache sprechen. Aber eben keine Stefan-Raab-Fantasiesprache. Sondern ihre, seit Jahrzehnten gewachsene, mit ihrer Kultur verwobene Sprache. Gleiches gilt für jedes andere Milieu: Die Bankentürme in Frankfurt Main, den tiefen Pott der Backsteinsiedlungen oder das Bundeskanzleramt.

Von der generellen Sprache deiner Figuren abgesehen, gibt es noch einen weiteren, sehr beliebten, unrealistischen Fehler beim Dialoge schreiben:

„Hallo Max, wie geht es dir?“
„Ganz gut, Timo, danke.“
„Gehst du heute noch raus, Max?“
„Mal sehen, was Mama sagt, Timo.“

fiktives Beispiel

Du hast es bereits erraten: Lass deine Figuren nicht dauernd ihre Namen sagen. Wir tun das nicht. Im Gegenteil: Psychologen haben herausgefunden, dass wir es sehr mögen und unser Gegenüber sympathisch finden, wenn es oft unseren Namen sagt. Weil es eben nicht der Normalfall ist.

2. Unrealistisch bleiben!

Ha, erwischt! Du dachtest wohl, Dialoge zu verfassen, sei eine einfache, widerspruchslose Angelegenheit. Weit gefehlt. Denn so sehr wir Realismus benötigen, um den Äußerungen unserer Figuren das nötige Maß an Authentizität und Glaubwürdigkeit zu verleihen, so sehr benötigen wir Unrealismus um die Leser zu interessieren:

„Ja, manchmal ist mir, als ob ich selber hinter mir herliefe. Ich will davon! Vor mir selber davonlaufen. Aber ich kann nicht! Kann mir nicht entkommen. Muss … muss den Weg gehen, den es es mich jagt! Und rennen … rennen, endlose Straßen! Ich will weg, ich will weg! Und mit mir rennen die Gespenster … von Müttern, von Kindern. Die gehen nie mehr weg.

Fritz Lang – „M – Eine Stadt sucht ihren Mörder“

Natürlich würden wir nie so reden. Die Sprache ist hier dem Milieu entsprechend (ein mittelloser Mörder) einfach gehalten, aber deswegen nicht weniger gemacht. Sie bedient sich eines eindrücklichen Bildes, das sie mit betörender Effektivität ausführt. Aber wann reden wir schon in Bildern? Doch erst recht nicht vor einem wütendem Mob. Und überhaupt, wer sollte uns dabei zuhören?

Aber das ist ja gerade der Trick: Der Leser hört zu. Das verschafft dir als Autor die Freiheit, auszuholen. Und nimmt dich in die Pflicht, nicht bei der Realität stehenzubleiben, sondern zu konstruieren, zu modellieren, zu erschaffen.

Der Gradmesser für eine gesunde Portion Unrealismus sind die mitgehörten, halböffentlichen Gespräche im Café, in der S-Bahn oder auf dem Büroflur: Selbst wenn jemand bei einer solchen Gelegenheit etwas wirklich Spannendes erzählt, würden wir das so nicht drucken wollen. Es ist zu inkonsistent, zu wirr, zu sehr Rohmaterial.

Was nicht heißt, dass gute Dialoge nicht wirr und roh sein können. Durchaus. Aber eben an den richtigen Stellen, im richtigen Maß, mit gutem Grund – also weil du als Autorin sie so konstruiert hast.

3. Figuren spracclich unterscheiden

„Voll krass.“
„Ja, mega.“
„Shit, da hinten kommt Herr Opitz!“
„Na, Kids? Mega Wetter, oder?“

fiktives Beispiel

Es gibt sie nicht nur im Dialog, aber hier tritt sie direkt und schonungslos zutage: die Stimme deiner Figuren. Je nach Alter, Milieu, Geschlecht, Träumen, Ängsten und vielem mehr sprechen sie mit einer anderen Stimme. Und zwar ausnahmslos, jede einzelne Figur. Denn auch wenn die Kassiererin an der gottverlassenen Tankstelle irgendwo im ausgedörrten Hinterland nur eine Zeile Text hat, ist sie ein Individuum mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Sie kann nicht so sprechen wie der Mathematik-Professor, der sich zu ihr an die Theke verirrt hat.

Gleiches gilt für Herrn Opitz. Der offenbar deutlich älter als die beiden Jugendlichen ist, und in irgendeinem Sinne eine Autoritätsperson. Der einzige plausible Grund, ihn hier so sprechen zu lassen, wie die ihm unterstellten Kinder, ist eine ausgeprägte Midlife Crisis. Das wäre dann guter Dialog. Sonst ist es falsch.

4. Bescheidene Inquits verwenden

Ein Inquit, das ist eine die wörtliche Rede begleitende Formel. Bei Dialogen sind Inquits also gezwungenermaßen allgegenwärtig. Etwa bei: „Du spinnst doch“, sagte er. Doch Autoren lieben das Ausschweifende. Das Üppige. Deshalb lassen sie sich oft dazu verleiten, auf den schmalen Schultern der Inquits tonnenweise Ballast abzuwerfen. Das sieht dann schnell so aus:

„Ich kann nicht glauben, dass du das gerade gesagt hast“, stellte sie mit hochrotem Kopf fest.
„Hab ich aber!“, donnerte Hans trotzig.
„Du machst es nicht besser“, jaulte sie beinahe wehleidig.

fiktives Beispiel

Überfrachtete Inquits in jeder Zeile. Das Tückische an diesen Inquits ist, dass sie dem Gesagten die Kraft nehmen. Sie ziehen die Aufmerksamkeit des Lesers auf sich. Und sind, in all ihrer Deutlichkeit, dabei streng genommen Fälle von Infodump und/oder des berühmten „Show, don’t tell“. Denn dass Jack hier trotzig donnert, hat der Dialog schon gezeigt – „Hab ich aber!“ ist eine wunderbar kindisch-trotzige Zeile. Die wird hier nun aber einkassiert, beschnitten, für nebensächlich erklärt.

Dabei verstoßen diese Inquits auch gegen ein Grundgebot des Erzählens: Überfrachte den Leser nicht mit Eindrücken. Er kommt sonst nicht mit. Und, noch schlimmer: Es entstehen keine Bilder in seinem Kopf. Wie es anders geht, zeigt die redigierte Version des Dialogs:

„Ich kann nicht glauben, dass du das gerade gesagt hast.“ Ihr Gesicht lief rot an.
„Hab ich aber!“, brüllte Hans. Die kleinen Arme hatte er in die Hüften gestemmt.
„Du machst es nicht besser.“

fiktives Beispiel

Das ist natürlich keine Hochliteratur, aber auf einmal doch Literatur. Durch das Kürzen der Inquits kriegt der Dialog Platz zum Atmen. Verloren geht dabei nichts. Und du als Autor gewinnst Raum zur Entfaltung: die kleinen, in die Hüften gestemmten Arme – das ist ein Bild! Der trotzig donnernde Hans ist keins.

Es gibt noch eine weitere Besonderheit bei Inquits. In ihrer guten, bescheidenen Form (sagte sie, flüsterte er, wurde er gefragt) können sie trotzdem noch grundfalsch daherkommen. Nämlich dann, wenn du als Autorin allzu kreativ wirst. Also den durch die Kürzung gewonnenen Platz gleich wieder breitbeinig mit den Inquits besetzen willst: donnerte Hans, lachte sie, ließ er sie wissen.

Hier werden Verben benutzt, die die Handlung (jemand sagt etwas) allzu blümerant ausdrücken, also ebenfalls ganz viel Bedeutung mitbringen, die a) stört, siehe oben oder b) keinen Sinn ergibt. Oder hast du schon mal einen Satz gelacht? Eine Antwort genickt („Das geht“, nickte sie)? Ich fürchte nein.

Wie aber soll man das dann machen, die Sache mit den Inquits? Ganz einfach, zum Beispiel so:

Dann hörte der Motor auf zu brummen, und draußen schrie eine Stimme: „Die Toten hierhin, habt ihr Tote dabei?“
„Verflucht“, rief der Fahrer zurück, „verdunkelt ihr schon nicht mehr?“
„Da nützt kein Verdunkeln mehr, wenn die ganze Stadt wie eine Fackel brennt“, schrie die fremde Stimme. „Ob ihr Tote habt, habe ich gefragt!“
„Weiß nicht.“
„Die Toten hierhin, hörst du? Und die anderen die Treppen hinauf in den Zeichensaal, verstehst du?“
„Ja, ja.“
Aber ich war noch nicht tot, ich gehörte zu den anderen, und sie trugen mich die Treppe hinauf.

Heinrich Böll – „Wanderer, kommst du nach Spa …“

Rief, schrie, und oftmals auch einfach gar kein Inquit. So einfach kann es sein. Und doch so gehaltvoll. Der Trick ist: Vertraue deinen Worten und vertraue deinen Lesern. Wenn es gut geschrieben ist, wird es verstanden werden. Wenn es nicht gut geschrieben ist, werden aufgeschwemmte Inquits es nicht retten.

5. Nutze Beschreibungen

Dialoge können ein Feuerwerk sein. Knall, Boom, Peng! Dann braucht es kaum mehr als die Dialogzeilen selbst. Doch dafür bedarf es bestimmter Voraussetzungen. Vor allem muss hinreichend klar sein, wer spricht. Und wer bedeutet in dem Fall nicht nur, welche Figur, sondern auch, wer diese Figur ist. Ist das noch nicht etabliert, sind Beschreibungen zwischen den Dialogzeilen eine hervorragende Möglichkeit, die Figur zu charakterisieren:

„Und ihre Mutter, was tat ihre Mutter in solchen Situationen?“
Da war eine Macke im Linoleum-Boden, eine dicke, schwarze Macke, Jürgen konnte sie von seinem Platz aus deutlich sehen.
„Sie weinte.“
„Machte es das schlimmer?“
„Lauter. Es war ein lautes Weinen.“ Am liebsten hätte er eine Walnuss darin verrieben, farblich hätte das gepasst und sich mit der Zeit festgetreten. Vielleicht sollte er nächstes Mal eine mitbringen.
„Gibt es etwas, das Sie sich in diesen Momenten von ihr gewünscht hätten?“ Jürgen sah auf.
„Ja, ich … das Küchenmesser.“

fiktives Beispiel

Das könnte der Anfang eines Romans sein. Natürlich trägt hier der Dialog, vor allem die Fragen des Gegenübers, die inhaltliche Hauptlast. Aber die Beschreibungen charakterisieren Jürgen, etwas, das die Dialogzeilen selbst nicht leisten können. Und so beginnt der Leser sich für Jürgen zu interessieren. Nicht allein deshalb, weil er offenbar eine schlimme Kindheit hatte. Schlimme Kindheiten gibt es viele. Aber diese eine hier, Jürgens schlimme Kindheit, die Kindheit des Mannes, der sich Gedanken über eine Macke im Linoleum macht, während er darüber ausgefragt wird – die ist interessant.

Was für Figuren gilt, gilt natürlich auch für die Welt deiner Geschichte. Auch sie kann in eingeschobenen Beschreibungen beiläufig während deines Dialogs charakterisiert werden.

Hast du einen Text geschrieben, der von einem Lektorat profitieren könnte? Informiere dich über alles, was du über das Lektorat literarischer Texte wissen musst. Oder schicke deinen Text an kontakt@lektorat-bauer.de und erhalte ein kostenloses Probelektorat samt unverbindlichem Angebot.
Deine Daten werden vertraulich behandelt.

Kategorien
Ein sehr guter Text Prosa

Infodumping: Wie man Fakten im Roman vermittelt

Jede Autorin hat ein Problem: Sie muss Fakten vermitteln, obwohl der Leser keine Lust auf Fakten hat. Etwa, dass es 5:45 Uhr ist. Oder dass das Klima in Beverly Hills für den Protagonisten kaum auszuhalten ist, da er in Grönland geboren wurde. Doch wenn sie es einfach so mitteilt, ist der Leser beleidigt. Er fühlt sich an den letzten Wikipedia-Artikel erinnert, über dem er gestern Nacht eingeschlafen ist. Wenn die Autorin Glück hat, schläft er nun ebenfalls ein. Hat sie Pech, legt er das Buch weg. Und kehrt nie mehr zurück. Die Folge des gefürchteten Infodumpings.

Definition des Infodumpings

Die Kunst des Erzählens beinhaltet also immer auch die Vermittlung von Fakten, ohne es den Leser merken zu lassen. Wäre das nicht der Fall, würde sich die Odyssee so lesen, wie ihre Wikipedia-Zusammenfassung: Odysseus trifft den Riesen. Der Riese fragt wer sie sind. Odysseus antwortet „Niemand“. Zum Einschlafen.

Auf den Punkt gebracht, lässt sich Infodumping folgendermaßen definieren: Wenn der Zweck der Information allein im Informieren des Leser besteht, ist es Infodump.

Wenn du also drei Absätze lang ein Auto beschreibst, weil der Leser für die spätere Auflösung des Mordes genau wissen muss, wie dieses Auto aussieht, bist du schuldig im Sinne der Anklage. Beschreibst du hingegen drei Absätze lang dasselbe Auto, um die Bessesenheit des Protagonisten von Autos und Motoren darzustellen, idealerweise mit einem personalen Erzähler, dann ist es kein Infodump. Weitere Zwecke sind: Humor, Atmosphäre, Spannung, was man ebenso braucht und was einen unterhält. Aber niemals dürfen dem Leser Informationen um der Information willen mitgeteilt werden.

Das Problem erkennen

Als Autor leidet man dummerweise an einem Phänomen, das einen besonders anfällig für Infodumping macht: Man weiß ja alles. Über die Figuren, die kommende Handlung, die Vergangenheit, die Räume und Gegenstände, die Biografien. Und wenn man etwas noch nicht weiß, weiß man es im nächsten Moment. Das Autorenhirn schwappt also über vor Informationen. Da muss dringend Druck abgelassen werden. Ventile öffnen. Und los:

Maria schwieg. Schon früher hatte sie in solchen Situation geschwiegen, wenn es zu heikel wurde. Wenn etwas auf dem Spiel stand. Dann hatte sie zu Boden gesehen, ihre nackten Zehen gezählt. Auf einen göttlichen Eingriff gewartet. So auch diesmal. Maria schwieg und zählte die Zehen.

(fiktives Beispiel)

Keine Katastrophe. Ist noch okay. Es gibt immerhin einen Zusammenhang zwischen akuter Handlung und Infodumping. Aber optimal ist er nicht, dieser Exkurs in die Vergangenheit. Streichen wir ihn:

Maria schwieg und zählte ihre nackten Zehen.

(fiktives Beispiel)

Jetzt fehlt natürlich die Info, dass Maria dieses Verhalten schon länger an den Tag legt. Und womöglich ist dem Leser nicht hunderprozentig klar, dass die Situation gerade heikel ist. Aber wir glauben an unsere Leser. Und an unsere Erzählkünste. Und deshalb schweigen wir hier. Und zählen unsere vielen tollen Einfälle, die nicht gut genug sind, um aufgeschrieben zu werden. Es sind mehr als zehn.

Sollte es unabdingbar sein, dem Leser mitzuteilen, dass Maria früher schon ihre Zehen gezählt hat, tun wir das an anderer Stelle. Das ist auch hohe Erzählkunst, aber ein anderes Thema.

Infodumping erkennen

Das Problem ist somit erkannt. Wie aber erkennt man Infodumping? Die Schwierigkeit liegt dabei darin, dass man die vermittelten Fakten selbst nicht unbedingt als Fakten wahrnimmt. Denn man kennt sie ja bereits. Keine Neuigkeiten. Man liest so drüber weg.

Ein gutes Mittel ist es daher, die Passagen zu markieren, die nicht unmittelbar szenisch geschrieben sind.

Szenisch:

Ich kotzte den Eimer bis oben hin voll. Musste also zehn Kilo leichter sein. Hinzu kam noch der Schweiß, der mir in Sturzbächen von der Stirn rann. Hätte jemand die Tür aufgerissen, hätte mich der Luftstoß fortgetragen. Aber es kam niemand. Ich blieb allein mit dem Eimer und dem gekachelten Boden meiner Zelle.

(fiktives Beispiel)

Anti-szenisch:

In der Nacht erbrach ich mich mehrfach. Keiner kam nachsehen.

(fiktives Beispiel)

Das Schöne an den Beispielen oben ist, dass sie beide funktionieren. Denn das anti-szenische Beispiel ist kein Beispiel für Infodumping. Hier wird zwar streng genommen nicht erzählt bzw. gezeigt („show“), sondern nur mitgeteilt („tell“). Aber das heißt nicht automatisch, dass Infodumping betrieben wird. Allerdings ist anti-szenisches Schreiben die Voraussetzung für Infodumping.

Wenn du also die Passagen markiert hast, die anti-szenisch geschrieben sind, folgt der nächste Schritt.

Exkurse erzeugen Infodump

Innerhalb der anti-szenischen Passagen gibt es Stellen, in denen du abschweifst. Von der Handlung, der gegenwärtigen Situation, den gerade empfundenen Emotionen. Das nenne ich „Exkurs”. Etwa so:

Ilsebill dachte nach. Sie zählte die Schritte, die an den Steinwänden widerhallten. Wenn die Wache ihr den Rücken zu kehrte, dauerte es zwölf Schritte, bis sie sich wieder umdrehte. Das könnte genügen, um bis zur stählernen Treppe zu gelangen. Aber dort hing das Licht und Ilsebills weißes Gesicht würde in die Dunkelheit des Ganges hineinleuchten. Die vornehme Blässe hatte sie von ihrer Mutter geerbt. Einem Vorfahre von ihr sagte man blaues Blut nach, aber das konnte ebensogut eine Legende sein. Ilsebill hatte nie gefragt. Es war ihr nebensächlich vorgekommen. Wen interessiert schon die Farbe des eigenen Blutes? Ebenso gut hätte sie ihren Schädel vermessen können. Auch da gab es eine Legende. Diese aber flüsterte man hinter vorgehaltener Hand und hielt sie vor den Kindern geheim.
Sie griff mit beiden Händen in den Schlamm.

(fiktives Beispiel)

Der kursivierte Teil ist anti-szenisch und ein Exkurs. Das macht ihn zu einem aussichtsreichen Kandidaten für die Diagnose Infodump. Lassen wir ihn weg, entsteht eine schönere, bessere Passage:

Ilsebill dachte nach. Sie zählte die Schritte, die an den Steinwänden widerhallten. Wenn die Wache ihr den Rücken zu kehrte, dauerte es zwölf Schritte, bis sie sich wieder umdrehte. Das könnte genügen, um bis zur stählernen Treppe zu gelangen. Aber dort hing das Licht und Ilsebills weißes Gesicht würde in die Dunkelheit des Ganges hineinleuchten.
Sie griff mit beiden Händen in den Schlamm.

(fiktives Beispiel)

Der Leser wird nun nicht mehr abschalten. Er kriegt, wofür er bezahlt: Erzähltes. Keine Wikipedia-Abschweifung über Details der biografischen Vergangenheit.

Infodumping auflösen

Allerdings hat den fiktiven Autor sein Instinkt hier nicht betrogen: Zwischen der Feststellung, dass Ilsebills Gesicht sie verraten könnte und der Lösung des Problems, dem Schlamm, muss ein gewisser Abstand liegen. Zu diesem Zweck kann der Infodump angepasst werden. Dazu muss er motiviert werden. Das erreicht man, indem man ihn anschlussfähig macht.

Der erste Satz des Infodumpings ist bereits motiviert, denn er schließt an Ilsebills weißes Gesicht an und diskutiert die Ursache für diese Blässe. Alles, was danach kommt, ist unmotiviert, führt zu weit weg von der Situation. Ist also ein Exkurs. Doch Abhilfe ist möglich:

Ilsebill dachte nach. Sie zählte die Schritte, die an den Steinwänden widerhallten. Wenn die Wache ihr den Rücken zu kehrte, dauerte es zwölf Schritte, bis sie sich wieder umdrehte. Das könnte genügen, um bis zur stählernen Treppe zu gelangen. Aber dort hing das Licht und Ilsebills weißes Gesicht würde in die Dunkelheit des Ganges hineinleuchten. Die vornehme Blässe hatte sie von ihrer Mutter geerbt. Einem Vorfahre von ihr sagte man blaues Blut nach, aber das konnte ebensogut eine Legende sein. Ilsebill hatte nie gefragt. Doch vielleicht würde sie es noch herausfinden, wenn sie erst wie die anderen am Stadttor hing, mit abgeschlagenem Kopf, allen Blutes verlustig gegangen.
Sie griff mit beiden Händen in den Schlamm.

(fiktives Beispiel)

Neben der notwendigen Kürzung ist hier nun auch der zweite Teil motiviert, weil er nun zurück in die Situation führt. Die Herkunft von Ilsebills Vorfahren liegt im Dunkeln, aber es droht ja die Enthauptung, vielleicht klärt diese auf.

Entfallen ist der Teil mit der Schädelvermessung. Es gab schlicht keine Möglichkeit, ihn sinnvoll zu motivieren. Sollte diese Info wichtig sein, muss sie an anderer Stelle untergebracht werden. Das ist jedoch erst noch zu beweisen.

Der Kontext entscheidet

Du merkst also: Der Kontext entscheidet. Infodump heißt nicht, dass Informationen verboten sind. Es kommt auf die Art ihrer Vermittlung an und auf den Zweck der Vermittlung.

Wenn du deinem Leser eine Baggerladung Müll vor die Füße kippst, wird er es als Müll wahrnehmen. Lockst du denselben Leser in ein Museum und betritt dort einen Raum, in dem derselbe Haufen Müll liegt, wird er sagen: Wow, das ist Kunst. Letzteres ist deine Aufgabe als Autor.

Hast du einen Text geschrieben, der von einem Lektorat profitieren könnte? Informiere dich über alles, was du über das Lektorat literarischer Texte wissen musst. Oder schicke deinen Text an kontakt@lektorat-bauer.de und erhalte ein kostenloses Probelektorat samt unverbindlichem Angebot.
Deine Daten werden vertraulich behandelt.

Kategorien
Prosa

Sag nicht die Wahrheit: Reale Ereignisse erzählen

An jenem Morgen ging die Sonne um 4:44 auf. Ich kochte vier Spiegeleier und weckte meine vier Kinder. Als sie fertig waren, kochte ich mir den vierten Kaffee des Monats. Einen pro Woche, Eier waren teuer.

(fiktives Beispiel)

Dieses Zitat könnte dem realen Leben eines Alleinerziehenden entstammen. Nur die Sache mit der Ziffer 4 kommt uns allzu fantastisch vor. Soll es sich hier um eine möglichst realistische Geschichte handeln, die vielleicht sogar Wahres erzählt, sind wir geneigt, dem Verfasser die Streichung der Ziffer zu empfehlen – es ist zu unrealistisch.

Aber gerade die Ziffer 4 lädt die banalen Sätze mit einer Bedeutung auf, die über das Geschilderte hinausreicht. Eine Dimension von Schicksal schleicht sich zwischen die Zeilen, die vier Kinder wirken nicht mehr wie zufällig auf diesen Planeten beförderte Entitäten. Sie werden zu einer von oben zugeteilten Aufgabe, erhalten gar etwas Biblisches. Und der kurze Text wird zu dem, was er sein soll: eine Erzählung.

Fakten allein ergeben keine Geschichte

Wenn Filme oder Romane über wahre Begebenheiten erscheinen, liest man in den einschlägigen „Kritiken“ gerne, dass es die Macher „mit der Historie nicht so genau nehmen“. Aber ist natürlich trotzdem ein toller Film und auch Schweighöfer spielt wieder mal klasse. Es mit den bekannten Tatsachen nicht allzu genau zu nehmen, wird also als legitimer Kritikpunkt verstanden. Doch wieso eigentlich?

Eine Geschichte ist mehr als die Aneinanderreihung von Fakten, klar. Doch es gilt ein noch radikalerer Grundsatz: Sie darf und muss Fakten zurechtbiegen, um zu einer Geschichte zu werden. Ihr das als Makel auszulegen, bedeutet, ihr das Erzähltsein anzukreiden. Ein Beispiel:

Der Film Catch me if you can handelt vom Leben des realen Hochstaplers Frank Abagnale, gespielt von Leonardo DiCaprio. Gejagt wird er von Tom Hanks, aber dessen Charakter ist frei erfunden. Denn in Wahrheit suchten mehrere Beamte nach ihm, je nachdem, wo er sich gerade aufhielt. Allerdings lässt sich daraus keine rechte Geschichte formen: Sie braucht den singulären Jäger und den Gejagten.

Auch eine reale Story braucht Struktur

Auch einige Details sind frei erfunden. Abagnale stand etwa nie auf der Top-Ten-Liste der meistgesuchten Flüchtigen des FBIs. Diese künstlerischen Freiheiten sind aber keine Verfehlung, sondern zeugen davon, dass die Beteiligten ihr Handwerk verstehen. Man stelle sich den Elevator Pitch vor (du hast eine Aufzugfahrt Zeit, um einer wichtigen Person deine Idee zu präsentieren), hätten sich die Macher an die Wahrheit und nichts als die Wahrheit gehalten:

„Okay also da ist so ein Kerl ja, der betrügt alle, der gaukelt vor, er sei Pilot, Anwalt, Arzt und keiner merkt’s! Also außer dem FBI. Und je nachdem, wo er ist, wird er dann halt von verschiedenen Beamten verfolgt. Genial, oder?“

(fiktives Beispiel)

Man vergleiche:

„Okay also da ist dieser Kerl, der betrügt alle, der macht ihnen weiß, er sei Pilot, Anwalt, Arzt, und keiner merkt’s! Außer einem FBI-Beamten, der sich ihm an die Fersen heftet! Aber immer ist der Typ ihm einen Schritt voraus! Wahnsinn, oder?“

(fiktives Beispiel)

Welches Drehbuch würdest du kaufen?

Beim Erzählen geht es um andere Wahrheiten

Von derlei storytechnischen Gründen abgesehen, gibt es noch einen zweiten Grund für die Abkehr von den reinen Fakten in der Kunst. Die Wahrheit, nach der die Kunst und damit auch das Schreiben trachtet, ist von anderer Herkunft als jene, die empirische Studien und historische Quellen präsentieren (wollen). Werner Herzog nennt sie die ekstatische Wahrheit, sie lässt sich auch als tiefere oder höhere Wahrheit verstehen, je nach Standpunkt. Gemeint ist eine Erkenntnis über den Menschen, die Welt, das Gefüge der Dinge, die real ist, weil sie uns berührt, aber irreal, weil sie nicht mit der Welt der Fakten übereinstimmt.

Simple Beispiele dafür sind Märchen. Sie handeln nicht von realen Ereignissen, erfinden Fantasiegestalten und sprechende Tiere, aber haben einen direkten Rückbezug auf die reale Welt. Das tapfere Schneiderlein handelt von einem Narzissten, der sich etwas darauf einbildet, sieben Fliegen auf einmal erlegt zu haben, und am Ende durch allerlei List und Lügen ein Königreich samt Königstochter erhält. Die tiefere Wahrheit lautet: Der schöne Schein entscheidet weitaus stärker über unser Schicksal als das Sein.

Verfasse kein Dokument

Komplexer und mit einem nachdrücklicheren Wahrheitsanspruch versehen, sind Mythen und Sagen. Natürlich ist das Felsenmeer, das den Horizont säumt, nicht entstanden, weilein Riese einen Berg nach Thor warf und dieser ihm seinen Hammer entgegenschleuderte, worauf kleine Teile des Berges in die Landschaft hinabfielen und eben jenes Felsenmeer bildeten. Aber doch liegt in diesem Mythos eine Wahrheit verborgen: Eine natürliche Entstehung übersteigt unsere Vorstellungskraft, wie überhaupt der Fakt, dass etwas ist und nicht nichts.

Aber diese Wahrheit lässt sich nicht dokumentieren – sie ist ja nicht da, nicht zugänglich für Sensoren, Messinstrumente und Sinne. Sie lässt sich nur erzählen.

Wahres Erzählen bedarf der Freiheit

Ich behaupte: Jede gute Geschichte enthält oder dreht sich um eine solche nur erzählbare Wahrheit. Alles andere sind nur Dokumente. Man kann sie ordnen, sortieren, sichten. Aber man kann sie nicht lesen.

Wenn du also eine Geschichte schreibst, die von realen Ereignissen handelt, sei es aus der Historie oder deinem eigenen Leben, dann nimm dir eine Freiheit raus. Erst sie wird dich der Wahrheit befähigen, dazu, zu erzählen, was ist. Weil du nun mal nicht um 4:32 aufgestanden bist, weil du nicht 3 Spiegeleier gebraten hast, für deine Kinder. Sondern weil es sich so anfühlte, als sei es 4:44 Uhr gewesen, wie jeden Morgen, als wären es vier Kinder gewesen, die vier Spiegeleier brauchten. Und das ging vier Jahre so.

Hast du einen Text geschrieben, der von einem Lektorat profitieren könnte? Informiere dich über alles, was du über das Lektorat literarischer Texte wissen musst. Oder schicke deinen Text an kontakt@lektorat-bauer.de und erhalte ein kostenloses Probelektorat samt unverbindlichem Angebot.
Deine Daten werden vertraulich behandelt.

Kategorien
Ein sehr guter Text Prosa

4 Übungen für kreatives Schreiben

Kreatives Schreiben bedarf der Übung – Meister fallen nicht vom Himmel. Daher findest du in diesem Artikel vier Schreibübungen, die deiner Kreativität langfristig auf die Sprünge helfen.

Am wichtigsten ist dabei: Lass dir Zeit und setz dich nicht unter Druck. Du musst nicht morgen zum Bestsellerautor werden, der in Parataxen und Ellipsen die ganz großen Sterne vom Himmel schreibt. Was? Eben.

Deshalb sind auch die hier versammelten Übungen für kreatives Schreiben keine grammatischen Exkurse, sondern orientieren sich an der Praxis. Diese Praxis des kreativen Schreibens beginnt meist mit einer Idee.

1. Schreibübung für kreative Ideen

Denn ohne Idee ist alles Schreiben ziellos. Je nach Genre gibt es verschiedene Regeln und Ansätze, um passende Ideen zu formulieren. Etwa bei den Ideen für eine Kurzgeschichte. Doch um irgendwann mühelos kreative Ideen zu generieren und im Alltag zu erkennen, musst du zuerst üben – also schreiben. Was wie ein Teufelskreis klingt, lässt sich durch die folgende Übung leicht erlernen.

Die Seele einer Idee (oder vielleicht des Schreibens an sich) ist immer die Reibung mit dem Common Sense. Also mit dem, was im Alltag für selbstverständlich gehalten wird oder für wahr. Denken wir an Es von Stephen King: Normalerweise sind Clowns nette Gestalten, die Kinder belustigen. In Kings gleichnamigem Roman frisst ein Clown die Kinder. Das lässt sich noch weiterspinnen. Normalerweise stellen wir uns als Kinder unseren Ängsten nicht. Doch in der Kleinstadt Derry, in der der Clown sein Unwesen treibt, hat genau diese Weigerung zu Erwachsenen geführt, die ihre Ängste unbewusst und ungefiltert an ihre Kinder weitergeben und dem Clown damit in die Arme treiben. Soll dies ein Ende haben, müssen die Kinder lernen, sich ihren Ängsten zu stellen.

Wie also kannst du üben, Ideen für dein kreatives Schreiben zu erkennen? Indem du eine Alltagssituation, eine Alltagswahrheit oder etwas sehr Herkömmliches in einem Satz auf ein Blatt Papier schreibst. So zum Beispiel:

Alle Schwäne sind weiß.

Dann hast du den Rest des Blattes Platz und Zeit und die heilige Pflicht, diesen Satz in sein absolutes und höchst absurdes Gegenteil zu verkehren.

„Alle Schwäne sind weiß.“

Wenn alle Schwäne weiß waren, dann musste ich geträumt haben. Ich war mir sicher, letzte Nacht einen goldenen gesehen zu haben, einen goldenen Schwan mit schwarzem Schnabel, und er schnatterte. „Gibt es nicht auch goldene?“, fragte ich. Ihre mich belächelnden Mundwinkel hatten überhaupt nichts goldenes. „Hat dir deine Mutter wieder Rotwein ins Fläschchen getan?“ Rotwein, Fläschchen – wer wusste das schon mit Sicherheit. Sicher war nur, dass sie log. In meiner Fantasie gab es alles. Sogar Privatlehrerinnen ohne Rabengesicht.

fiktives Beispiel

Spontan, ohne es zu beabsichtigen, habe ich innerhalb von 3 Minuten ein ganzes Panorama aufgetan, nur um die ursprüngliche Aussage zu widerlegen. Einen Protagonisten, eine Antagonistin, deren jeweilige Charakterisierung und ihre Beziehung zueinander. Auch ein Konflikt klingt schon an: Der Protagonist hat eine blühende Fantasie, die im seine Lehrerin austreiben will.

2. Übung für kreative Beschreibungen

Die beste Charakterisierung und der schönste Konflikt verfangen nicht, wenn Jedermannsbeschreibungen alles Individuelle aus deinem Manuskript tilgen. Ein Beispiel:

Die Sonne brannte. Er war schweißnass. Er sehnte sich nach einer kalten Dusche, nach einem Sprung ins kühle Nass. Vergeblich.

fiktives Beispiel

In dieser kurzen Schilderung tummeln sich Jedermannsbeschreibungen und geflügelte Wörter: die Sonne brennt, er ist schweißnass, das kühle Nass. Ich nenne das lazy writing, weil der Autor nicht die eigene Kreativität bemüht, sondern quasi abschreibt. Bei Redensarten, tausendfach gehörten Formulierungen usw. Ein guter Autor wird das vermeiden:

Die Sonne schien ihn auszulachen. Seine Augenbrauen hatten Mühe, die Schweißperlen aufzuhalten, die seine hohe Stirn hinunterrasselten. Für eine kalte Dusche hätte er alles getan, sogar mit dem Bates Motel vorlieb genommen.

fiktives Beispiel

Man kann es auch übertreiben (im Beispiel ist es an der Grenze), aber dennoch: Die zweite Version erweckt eine Figur zum Leben, der Leser gewinnt eine Vorstellung des Protagonisten. Deshalb sind eigenwillige, individuelle Beschreibungen und Schilderungen so wichtig.

Doch auch das muss man üben. Das geht so:

Schreibe einen Satz auf ein Blatt Papier, der zwei gewöhnliche, altbekannte Beschreibungen enthält. Dann formuliere ihn so um, dass er nichts mehr mit der ursprünglichen Version gemein hat. Stattdessen sollten die beiden Kernaussagen erhalten bleiben, aber auf absurde Weise umschrieben werden:

Der See lag still vor ihm, von Fischen keine Spur.

fiktives Beispiel

Gemäß der Aufgabe wird daraus:

Der See lag so ruhig, dass er begann, die Rotation der Erde anzuzweifeln – dass das Leben aus dem Wasser gekommen war, schien ihm ebenfalls eine Lüge, vernahm er doch nicht einmal die Verwirbelungen eines emsigen Einzellers.

fiktives Beispiel

3. Übung, um kreative Plots zu schreiben

Grundlegende Ideen und schillernde Beschreibungen allein machen noch keine Geschichte. Dazu braucht es Plot. Ein Plot besteht grob betrachtet aus einem Protagonisten (P), einem auslösenden Ereignis (X), einem Ziel (Z), einem Hindernis (Y) und einem Mittel zur Erreichung des Ziels (M).

Ganz schön viel Konstrukteurs-Arbeit. Etwa, wenn du mit der ersten Schreibübung tatsächlich eine Idee gefunden hast, die du zu einer Geschichte ausbauen willst. Auch das will gelernt sein. Folgende Übung hilft dir dabei:

Schreibe eine profane Aufgabe in der Ich-Form auf ein Blatt Papier. Dann zerpflücke sie, indem du sie mit den genannten Plot-Elementen anreicherst. Ein Beispiel:

Ich muss Druckertoner besorgen.

fiktives Beispiel

Ich, notorisch klamm (P), muss Drucktertoner besorgen (Z), als er mir beim Drucken meiner Bewerbung ausgeht (X). Also lenke ich meinen Nachbar (Y) ab, und versuche, den Toner aus seinem Drucker zu klauen (M).

fiktives Beispiel

So machst du dich mit den grundsätzlichen Anforderungen des Plottings vertraut. Nach ein paar Durchgängen kannst du die Schwierigkeit erhöhen. Anstatt einer profanen Alltagsaufgabe, notierst du eine absurde, ungewöhnliche Aufgabe:

Ich muss noch den Porno in die Videothek zurückbringen.

fiktives Beispiel

Ich, sexuell verklemmt (P), muss den Porno ungesehen in die Videothek zurückbringen (Z), da die Ausleihfrist heute abend abläuft (X). Dafür will ich mich durch den Kurpark schleichen (M), doch es ist Dorffest und Alina hat ein Auge auf mich geworfen (Y).

fiktives Beispiel

Indem du die Aufgabe abwandelst, zwingst du dich gleichzeitig, interessantere Plots zu entwerfen. Falls du dich intensiver mit Plottheorie beschäftigen willst, lohnt sich ein Blick auf meinen Artikel über die sogenannte Log Line, die all die hier genannten Elemente enthalten muss und ohne die keine Geschichte funktioniert.

4. Schreibübung für interessante Figuren

Gut: Wir haben einen Plot, individuelle Beschreibungen und eine grundsätzliche Idee. Was fehlt? Richtig, interessante Figuren.

Wie werden Figuren interessant? Durch Besonderheiten, Schwächen, Stärken, alte Verletzungen und Lektionen, die sie zu lernen haben, wenn sie an ihr Ziel kommen wollen.

Eine Figur zu entwerfen, ist daher eine Mammutaufgabe. Um nicht von ihr überwältigt zu werden, kannst du das im Kleinen üben.

Notiere den Namen des für dich langweiligsten realen Prominenten auf ein Blatt Papier, samt seines Berufs. Dann beginne, ihn interessant zu machen, in dem du ihm ein Ziel, eine Schwäche, eine Stärke, eine alte Verletzung und eine zu lernende Lektion unterjubelst.

K. Franzmeier* ist Politiker.

*Name von der Redaktion geändert

K. Franzmeier ist ein Politiker, der sich gekonnt für die Einführung einer Klößchensteuer einsetzt, obwohl er selbst an einer ungesunden Schwäche für Klößchen leidet. Diese Schwäche geht darauf zurück, dass er für gute Noten früher keine Zuneigung bekam, sondern eine Belohnung in Form von Klößchen. Doch um den Chef-Lobbyist der Klößchenvereinigung auszustechen, der ihn mit lebenslangen Klößchenvorräten becirct, muss er lernen, dass es andere Wege der Belohnung gibt: die Zuneigung der vor zu viel Klößchenkonsum bewahrten Bürger.

fiktives Beispiel

Zugegeben, das Beispiel ist absurd. Aber es zeigt die Dynamik, die man einem Charakter andichten muss, um ihn interessant zu machen. Gleichzeitig entsteht schon eine Art Plot, denn so sollte es sein: Deine Figuren bzw. dein Protagonist und dein Antagonist ergeben den Plot deiner Geschichte.

5. Zusammenfassung

Mit diesen vier einfachen Übungen für kreatives Schreiben kannst du dich für größere Aufgaben rüsten. Bei allen Übungen geht es darum, Profanes, Alltägliches in etwas Interessantes zu verwandeln. Denn genau das ist das Wesen der Kreativität und des Storytellings: Die Realität so abwandeln, dass sie interessant wird.

Anbei noch einmal die einzelnen Übungen:

  1. Ideenfindung: Schreibe eine Alltagssituation, eine Alltagswahrheit oder etwas sehr Herkömmliches in einem Satz auf ein Blatt Papier. Dann nutze den restlichen Platz, um diesen Satz in sein absolutes und höchst absurdes Gegenteil zu verkehren.
  2. Kreative Beschreibungen: Schreibe einen Satz auf ein Blatt Papier, der zwei gewöhnliche, altbekannte Beschreibungen enthält. Dann formuliere ihn so um, dass er nichts mehr mit der ursprünglichen Version gemein hat, sondern absurde, eigenwillige Beschreibungen der Kernaussagen enthält.
  3. Plot: Schreibe eine profane Aufgabe in der Ich-Form auf ein Blatt Papier. Dann zerpflücke sie, indem du sie mit den Plot-Elementen anreicherst: Protagonist, auslösendes Ereignis, Ziel, Mittel, Hindernis.
  4. Figuren: Notiere den Namen des für dich langweiligsten realen Prominenten auf ein Blatt Papier, samt seines Berufs. Dann beginne, ihn interessant zu machen, in dem du ihm ein Ziel, eine Schwäche, eine Stärke, eine alte Verletzung und eine zu lernende Lektion unterjubelst.

Hast du einen Text geschrieben, der von einem Lektorat profitieren könnte? Informiere dich über alles, was du über das Lektorat literarischer Texte wissen musst. Oder schicke deinen Text an kontakt@lektorat-bauer.de und erhalte ein kostenloses Probelektorat samt unverbindlichem Angebot.
Deine Daten werden vertraulich behandelt.

Kategorien
Ein sehr guter Text Prosa

Antagonist und Protagonist: Wie du ein Traumpaar daraus machst

Antagonist und Protagonist sind Gegner, Feinde, das Schicksal des jeweils anderen. Aber in erster Linie sind sie ein Paar. Ein entzückendes, wenn dir deine Geschichte gelungen ist. Ein Traumpaar, wenn du Ikonisches geleistet hast. Daher ist es unvermeidlich, sich als Autor damit zu befassen, woraus die Beziehung zwischen Antagonist und Protagonist besteht und wie sie strukturiert ist. Beginnen wir ganz am Anfang.

1. Der Antagonist begründet die Geschichte

Wer über Antagonist und Protagonist reden will, muss über Gott und den Teufel reden. Zunächst ganz simpel: Wer würde die Bibel lesen, wenn es keinen Teufel darin gäbe? Die Schöpfungsgeschichte ist ohne Schlange nur ein nettes Gemälde. Kain und Abel, Jesus in der Wüste, die 10 Gebote, Hiob – in all diesen wirklich großen, archetypischen Geschichten schwingt die Kraft des Bösen mit. Des Verführtwerdens, des Zweifelns. Des Chaos und des drohenden Untergangs. Von der Apokalypse noch gar nicht gesprochen.

Einmal geht es also um die Geschichte(n), die die Bibel erzählt. Sie ergeben ohne den Teufel als Antagonisten wenig Sinn. Es geht aber auch um die Geschichte, die wir uns unabhängig davon selbst über die Welt erzählen oder erzählt haben. Dass es einen Gott gibt, der all das erschaffen hat. Der sagt, wie ein gutes Leben aussieht. Dass es aber nicht leicht ist, diesem Weg zu folgen. Weil es etwas gibt, das dem entgegenwirkt. Auch für die Plausibilität dieser Geschichten ist ein Antagonist erforderlich.

Ganz grundsätzlich zeigt sich in der Beziehung zwischen Gott und Teufel also die Funktion des Antagonisten: Er macht dem Protagonisten das Leben schwer. Er zwingt ihn zum Handeln (Jesus auf die Erde schicken, Adam und Eva aus dem Paradies verbannen etc.). Und er rechtfertigt und erklärt die Existenz des Protagonisten und der Geschichte selbst.

Klar: Die Frage nach einem Schöpfer schließt die Existenz eines Widersachers (bibelgriechisch: „diabolos“) noch nicht zwingend mit ein. Aber sobald man beginnt, sich diesen Schöpfer als gütigen, allmächtigen Gott vorzustellen, wird ein böser Gegenpart zwingend. Denn wie sonst kommt das Leid in die Welt?

2. Antagonist und Protagonist spiegeln sich

Das führt uns zur ersten Definition der Beziehung zwischen Protagonist und Antagonist: In ihren Eigenschaften folgen sie oftmals einem entgegengesetzten Dualismus. Gott ist gut, der Teufel böse. Gott nennt allgemeingültige Regeln, der Teufel schmiedet Pakte mit ihm verfallenen Individuen. Der Teufel wohnt in der Hölle, Gott im Himmel. Dort droht die ewige Qual, da lockt das ewige Leben. Gott erscheint nicht, der Teufel hat Hörner, einen Ziegenfuß und einen Dreizack.

Im Fall von Gott und Teufel liegt die Sache noch komplexer. Gott verspricht uns eine simple, allzumenschliche Kausalität: Tue X (ein frommes Leben) und du erhältst Z (ewiges Leben). Darüber hinaus ist er eine Personifikation der Kausalität. Wo kommt das Universum her, woher das Leben? Gott hat es erschaffen. Warum geschehen unerklärliche Dinge, wieso werden wir von der Natur scheinbar belohnt und bestraft? Gott steckt dahinter.

Mit dieser Kausalität räumt der Teufel auf. Er verkörpert das Chaos und sorgt für das Unerwartete im Universum. Er verursacht Leid und Sünde. Zeichnet verantwortlich für Tragödien und sät Zwietracht unter den Menschen.

Folgt man diesem Pfad der entgegengesetzten Eigenschaften an sein Ende, führt er uns zurück zur Auflösung der ganzen Religionssache. Vollkommene Kausalität, wie sie Gott repräsentiert, lässt keinen Platz für einen freien Willen übrig. Erst durch den Teufel, der den Menschen widerspenstig und ungehorsam macht, bricht Freiheit in die Kausalkette hinein. Ergibt es Sinn, die Frage danach zu stellen, wie man es mit der Religion hält. Beginnt der Mensch darüber nachzudenken, was man tun könnte, um das Chaos des Universums zu ordnen. Vielleicht einen Gott erfinden?

So wird es ja auch gewesen sein: Das Leid war in der Welt, lange bevor die Menschen anfingen, über Gott nachzudenken. Volkssagen über die Entstehung der Welt folgen einem ganz ähnlichen Muster. Die Berge Kamtschatkas erklärte die Sage eines mit Schneeschuhen umherwandernden Gottes, unter dessen Füßen der Boden nachgab.¹ Auch beim Schreiben kann es sinnvoll sein, mit dem Antagonisten zu beginnen. Denken wir an Der Herr der Ringe: Gab es in Tolkiens Vorstellung wirklich zuerst Frodo (bzw. Bilbo) und dann erst die Sache mit dem Ring und Sauron? Ruft die Figur des dunklen Herrschers Sauron nicht geradezu nach dem kleinwüchsigen Auenlandbewohner reinen Herzens?

Das Problem mit der Theodizee gründet ironisch betrachtet demnach auf der grundlegenden Beziehung zwischen Antangonist und Protagonist. Wieso lässt Gott die teuflischen Schandtaten zu, wenn er doch allmächtig und gütig ist? Ganz einfach: Die beiden brauchen einander.

3. Der Antagonist ist die Übermacht

Erzählen könnte man die Geschichte jedoch nicht mit Gott als Protagonisten. Deshalb tauchen in der Bibel die Menschen auf, die mit und gegen den Teufel kämpfen, während Gott sich vornehm zurückhält. Seit den ersten Bibellesungen gilt daher noch ein elftes Gebot: Mache deinen Protagonisten nicht allmächtig. Lass den Antagonisten übermächtig erscheinen. Beinahe allmächtig.

Und dann lass deinen Protagonisten heranreifen, sich verändern, häuten. Bis er schließlich dem Antagonist gegenübertreten und ihn herausfordern kann (Luke Skywalker, Jimmy McGill gegen seinen Bruder in Better Call Saul, jedes Final Girl in jedem Horrorfilm). Ob der Antagonist wirklich übermächtig ist oder nicht, wird sich dann zeigen. Manchmal verliert der Held. Oder erringt nur einen Pyrrhussieg. Wenn er gewinnt, dann weil er sich verändert hat und die Übermacht des Antagonisten so gebrochen werden konnte.

Umgekehrt bedeutet das: Dein Protagonist muss Schwächen haben. Schwächen, die mit den Stärken und Eigenschaften des Antagonisten korrelieren. In Funny Games sind die Psychopathen distinguiert bürgerlich, aber voller Gewalt, während ihre Opfer so bürgerlich geprägt sind, dass sie Gewalt vollständig sublimiert haben und zu mehr als einer lauen Ohrfeige nicht imstande sind. Können die Opfer ihrer gesellschaftlichen Herkunft entkommen, in der Gewalt zwar zum guten Ton des Samstagvormittag-Cartoons gehört, in der realen Welt aber keine gesunde Entsprechung mehr hat?

Im hypnotischen Mandy ist der Täter ein gekränktes männliches Ego, das Nicolas Cage‘ (oscarreife Leistung) Figur eine ähnliche männliche Kränkung zufügt: Seine Geliebte kann er nicht beschützen. Das bereitet den Boden für ein finales Aufeinandertreffen mythischer Sorte, wenn Cage aufgrund seines Verlusts längst zum Halbgott geworden ist.

Wenn du also die Geschichte einer Maus erzählst, die nicht genug Käse bekommen kann, dann lass den Antagonisten nicht einen Käseliebhaber sein, der seine Schätze hütet. Lass ihn allen Käse vernichten wollen, um dem von ihm massenhaft produzierten Analogkäse zum Durchbruch zu verhelfen. Und dann lass die Maus in der Käsevernichtungsfabrik unter die Räder kommen, ehe sie aufgrund ihrer genauen Kenntnisse käsischen Verhaltens doch noch den Häckslern entkommt. Aber was kann eine Maus schon gegen einen Kapitalisten ausrichten, fragst du dich. Die Antwort liegt irgendwo in der Beziehung von Antagonist und Protagonist. Es wird kein Komet einschlagen, der die Fabriken zerstört.

4. Die antagonistische Kraft

Allerdings ist der Antagonist nicht per se eine Person. Vielmehr sollte man sich den Antagonisten als die negative Kraft in deiner Geschichte vorstellen, die sich auf unterschiedliche Weise manifestieren kann. Klar, der Joker ist ein grandioser personifizierter Antagonist (alle Comic-Helden leben davon, außergewöhnlichen, personifizierten Antagonist gegenüberzustehen, siehe Lex Luthor, Loki oder Sandman). Doch was ist mit dem Antagonisten in Dunkirk? In Once Upon a Time In… Hollywood? In weiten Teilen von The Revenant? In Cast Away?

Hier ist der Antagonist entpersonalisiert. In Dunkirk bekommt man nicht einen deutschen Soldaten zu Gesicht. In The Revenant kämpft DiCaprio gegen die Natur. Und in Once Upon a Time In… Hollywood ist der eigentliche Antagonist Charles Manson kaum präsent, sodass die Historie selbst in den Fokus rückt: sehr schlimme Dinge werden geschehen und es gibt nichts, was man dagegen tun kann. Natürlich hat DiCaprios Figur hier noch einen weiteren Antagonisten, nämlich seine eigene Unzulänglichkeit, sein Mangel an Selbstvertrauen und sein Übermaß an Selbstmitleid. Doch auch das sind negative Kräfte am Werk.

Eine dritte Möglichkeit sind personifizierte Wesen, die eine quasi-menschliche Qualität erhalten, weil gegen sie gekämpft wird und ihnen eine Agenda unterstellt wird. Also etwa der weiße Hai in Jaws oder Hal 9000 in 2001: A Space Odyssey.

5. Der Antagonist und die persönliche Hölle

Ein wirkliches Traumpaar erschaffst du nur, wenn der Antagonist deinen Protagonisten bis vor die Tore seiner persönlichen Hölle treibt. Was ist damit gemeint?

Darth Vader hat nicht nur Lukes Vater getötet, wie in Episode 4 behauptet wird. Er ist Lukes Vater oder das, was von ihm übrig ist. Also muss Luke seinen Vater töten, will er den Imperator stoppen. So kommt es nicht, wie wir alle wissen, und dennoch: Darth Vader ist nicht einfach nur ein Sith. Er verkörpert Lukes Zukunft, wenn dieser dem Imperator nicht widerstehen kann. Ohne diesen wohl größten Plottwist aller Zeiten wäre Darth Vader nicht halb so ikonisch geworden wie er es wurde.

Denn damit schickt Vader Luke in die tiefsten Tiefen. In die Verzweiflung. Erinner dich an das Ende von The Empire Strikes Back: Luke hat eine Hand verloren, erfahren, dass sein Vater der dunkle Lord ist und Han Solo wurde in Carbonit eingefroren. Näher kommt ein Held der Hölle nicht.

Nicht immer fällt es leicht, diese persönliche Hölle für den Helden zu identifizieren. Ein Polizist, der um die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung bemüht ist, wird in einem Verbrecher mitsamt dessen Unrecht und Unordnung einen netten Antagonisten finden. Aber das genügt nicht.

Das bloße Gegenteil ist zu naheliegend, zu gewöhnlich. Ein solcher Antagonist bringt den Protagonisten niemals vor die Tore seiner persönlichen Hölle. Jemand, der etwas Illegales tut, ist noch lang kein Verbrecher. Jemand, der ein Verbrecher ist, ist noch lange nicht das personifizierte Böse. Denn was wäre das für unseren rechtschaffenen Polizisten? Jemand, der Recht und Ordnung nicht nur verletzt, sondern abschafft, ad adsurdum führt. Also ein korrupter Richter oder Politiker. Jemand, mit Macht. Jemand, der das, wofür der Polizist kämpft, nicht nur bedroht, sondern aufzulösen vermag.

6. Zusammenfassung

  • Ohne Antagonist keine Geschichte
  • Antagonist und Protagonist müssen einander brauchen, sich gegenseitig rechtfertigen
  • Ihre Eigenschaften sind oft einander entgegengesetzt, passen wie Schloß und Schlüssel, stehen zueinander in Beziehung
  • Übermächtig ist stets nur der Antagonist, der Protagonist hat Schwächen, die mit dem Antagonisten in Verbindung stehen
  • Der Antagonist ist eine Kraft, die viele Formen annehmen kann
  • Der Antagonist ist und will nicht bloß das Gegenteil des Protagonisten, sondern führt ihn direkt zu dessen persönlicher Hölle

[1] Joseph Campbell (1949). The Hero with a Thousand Faces.

Hast du einen Text geschrieben, der von einem Lektorat profitieren könnte? Informiere dich über alles, was du über das Lektorat eines Romans wissen musst. Oder schicke ihn an kontakt@lektorat-bauer.de und erhalte ein kostenloses Probelektorat samt unverbindlichem Angebot.
Deine Daten werden vertraulich behandelt.

Kategorien
Ein sehr guter Text Prosa

Wie man eine weibliche Figur schreibt

Die Welt der Geschichten ist voll von starken Männern und verletzlichen Träumern, kindischen Helden und großväterlichen Sturköpfen. Vielleicht weil Männer gerne männliche Charaktere schreiben, vielleicht weil man Frauen nicht mal in der Fiktion zutraut, ein Schwert zu schwingen. Das hat zur Folge, dass dem angehenden Schriftsteller im Rahmen seiner Ausbildung kaum gelungene Beispiele für das Schreiben einer weiblichen Figur begegnen.

Denn seine Ausbildung besteht vor allem aus Lesen, dem Lesen der Klassiker. Damit nicht schon wieder eine Generation von Autoren heranreift, die dem Entwurf weiblicher Figuren reserviert entgegentritt, verrät dieser Artikel das wohlbehütete Geheimnis, um mühelos grandiose weibliche Figuren zu entwickeln. Doch zunächst ein Blick auf einige absolute No-Gos.

1. Bestehst du den Bechdel-Test?

Der sogenannte Bechdel-Test funktioniert folgendermaßen: Reden in deiner Geschichte zwei Frauen miteinander? Sehr gut. Reden sie über etwas anderes als einen Mann und ist die Unterhaltung trotzdem relevant? Dann hast du ihn bestanden, Glückwunsch! Leider ist das selten der Fall. Denken wir an Der Herr der Ringe. Dort gibt es zwar starke (und gut geschriebene) weibliche Figuren. Galadriel, Arwen, Eowyn – doch diese Figuren reden nie miteinander und auch nicht mit anderen Frauen. Wenn sie es täten, würden sie wahrscheinlich über Aragorn, Frodo oder Sauron reden.

Ist Der Herr der Ringe deshalb ein schlechter Film? Nein. Ist es eine moralisch fragwürdige Geschichte? Nein. Sollte Tolkien nachträglich gecancelt werden? Gewiss nicht. Der Bechdel-Test funktioniert nicht auf der Ebene des einzelnen Films oder Buchs. Es gibt Geschichten, in denen nur eine einzige Frau vorkommt, diese aber die Hauptfigur ist – laut Bechdel-Test würde eine solche Story durchfallen. Und wenn man nun mal eine Geschichte über die Rekrutenausbildung im Japan zur Zeit des Kaiserreichs schreibt, werden in der Kaserne keine Frauen zugegen sein.

Aber auf Makroebene ergibt der Bechdel-Test durchaus Sinn. Hier zeigt er an, wie wenig Geschichten erzählt werden, in denen die Perspektive von Frauen relevant ist. Wenn 15 von 20 oscargekrönten Filmen durchfallen, könnte man im 21. Jahrhundert schon mal die Frage stellen, wieso eigentlich.

Für dich spielt der Bechdel-Test beim Schreiben einer weiblichen Figur oder deiner Geschichte an sich also nur insofern eine Rolle, als du mit ihm hinterfragen kannst, ob du unbewusst alten Vorstellungen gefolgt bist oder eine gewisse Vermeidungstaktik fährst, wenn es um weibliche Figuren geht. Wichtiger für die einzelne Geschichte ist der sogenannte Bauer-Test (hehe).

2. Der Bauer-Test

Um den Bauer-Test zu bestehen, muss deine Geschichte folgende Frage mit einem herzhaften Nein beantworten: Gerät dein Held im Laufe der Geschichte mit einer ihm nahestehenden weiblichen Person in Konflikt, die in der Folge ein Hindernis für das Erreichen seines Ziels darstellt? Ich hoffe nicht. Denn falls doch: Klischeealarm. Und Gähn. Und vermutlich auch: Sexismus.

Wie du als aufmerksamer Leser meines Blogs sicher weißt, hat Moral beim Schreiben für mich nichts verloren. Aber der Bauer-Test hat durchaus moralische Relevanz. Warum zur Hölle können sich Autoren die Frau, Mutter oder Tochter des Helden nur als emotionale, moralisch sensible Mahnerin und Nörglerin vorstellen, die die Probleme des Helden verschärft? Snowden, Breaking Bad (Skylar White), Sicario (hier gibt es keine emotionale Verbindung, aber natürlich ist die moralische Instanz eine Frau), Werk ohne Autor, The Mule, Batman (alle) – man muss nicht einmal ins 20. Jahrhundert ins zurückreisen, um dauernd mit dieser Beziehung zwischen Held und weiblicher Figur konfrontiert zu werden. Sind Frauen für uns immer noch Brutstätte der Hysterie? Verhinderer männlicher Größe?

Doch lassen wir die Moral beiseite. Es macht nicht einmal Spaß! Ab einem gewissen Punkt wurde jede Szene mit Skylar White nervtötend (grandios gespielt von Anna Gunn). Streicht man Emily Blunts Figur aus Sicario ändert das nichts an der Geschichte. Kein einziges Mal tut sie etwas von Belang. Sie versucht, mahnt, will eingreifen, aber wird nur zur Seite geschoben. Bis man selbst als Zuschauer denkt: Genug von dem Moralgesülze, lasst uns Kartellleute killen.

Der Bauer-Test ist also auch auf der Mikroebene relevant und damit für dich als Autorin. Denn er bewahrt dich vor einem der ältesten und langweiligsten Klischees des Storytellings. Mach eine ihm nahestehende Frau nicht zum Hindernis deines Helden. Lass vor allem ihre emotionalen Bedürfnisse nicht zu seinem Problem werden.

Wie immer gilt: Es gibt Ausnahmen. Schreibst du ein Drama über eine Beziehung zwischen Drogensüchtigen, sind sich die beiden natürlich gegenseitig ein Hindernis. Aber auch dann: Lass nicht die Frau das Hindernis sein. Lass die mangelnde Einsicht der beiden, dass ihre Beziehung sie daran hindert, clean zu werden, das Hindernis sein. Kurzum: Gib dir Mühe. Sei kein fauler Autor. Davon gibt es genug.

3. Das Geheimnis, um eine grandiose weibliche Figur zu schreiben

Nun aber zum versprochenen Geheimnis. Hast du es einmal verstanden, wirst du nie wieder Schwierigkeiten haben. Also: Wie schreibt man eine grandiose weibliche Figur?

In dem man es nicht tut.

Schreibe eine Figur. Entscheide anschließend, welches Geschlecht sie haben soll.

Legst du zuerst das Geschlecht fest, wirst du Klischees und Vorurteilen in die Falle gehen. Und warum sollte man sich festlegen? Weil der Held auf jeden Fall heterosexuell ist? Weil man unbedingt eine weibliche Figur braucht oder noch eine (siehe Bechdel-Test)? Das ist alles Unsinn. Schreib grandiose Figuren. Mit Verletzungen, beispiellosen Charaktereinführungen, die alle etwas riskieren. Dann wirst du währenddessen auf Eigenschaften treffen, die mit dem einen oder dem anderen Geschlecht mehr Sinn ergeben oder reizvoller sind. Aber setz dich niemals an den Schreibtisch, um einen weiblichen Charakter an sich zu schreiben.

Hast du einen Text geschrieben, der von einem Lektorat profitieren könnte? Informiere dich über alles, was du über das Lektorat literarischer Texte wissen musst. Oder schicke deinen Text an kontakt@lektorat-bauer.de und erhalte ein kostenloses Probelektorat samt unverbindlichem Angebot.
Deine Daten werden vertraulich behandelt.

Kategorien
Ein sehr guter Text Prosa

Eine Liebesszene schreiben

Delikate Details, Körperbeschreibungen, Fantasien – in einer literarischen Liebesszene werden Grenzen gesprengt. Dafür ist Literatur ja auch da: Das Leben heranzoomen, ein anderes imaginieren. Doch als Autor lauern gerade hier etliche Fallstricke! Deshalb habe ich in diesem Artikel die wichtigsten Tipps für eine gelungene Liebesszene zusammengetragen.

1. Der Unterschied zwischen Porno und Erotik

Schauwerte sind nichts ohne Kontext. Versteh mich nicht falsch: Natürlich fasziniert mich der Anblick Stonehenges. Aber doch nicht, weil da Steine aufeinander stehen. Sondern weil absurd große Steine von absurd kleinen Menschen vor absurd vielen Jahren dorthin verfrachtet wurden. Und es irgendetwas bedeutet. Menschen, deren Realität nichts mit der unseren gemein hatte, hatten einen Grund für diese Plackerei. Der vielleicht doch etwas über uns verrät. Über die conditio humana. Wow.

Schauwerte plus Kontext sind magisch. Im Grunde gilt für Liebesszenen also dasselbe wie für alles andere: Bedeutung hebt die Dinge vom grauen Hintergrund ab. So entsteht Erotik. Oder ein guter Actionfilm, der ja auch auf Schauwerten basieren zu scheint. Und das tut er. Aber ein wirklich guter Actionfilm erzählt nicht von Explosionen und Verfolgungsjagden. Er erzählt von einem Helden, von einem Motiv, handelt im Subtext von einer Frage. The Matrix war ein visueller Triumph. Aber gesprochen hat man über die Geschichte, die Prämisse. Zum Vergleich: Jurassic World 2 hat Dinos – und trotzdem spricht niemand darüber.

Schreibst du eine Liebesszene, musst du also Kontext herstellen und dem Gezeigten Bedeutung verleihen. Du kannst nicht einfach von Körperteilen sprechen. Bedeutung liegt in deinen Figuren, im Plot und in dem Motiv.

Schreibst du also einen Roman über einen an Alzheimer erkrankten Mann, dann lass ihn Sex haben mit irgendjemandem, aber beschreibe, wie er sich nur an seine verstorbene Frau erinnert und glaubt, noch einmal mit ihr zu schlafen. Schreibst du einen wilden Actionkracher, lass deinen Helden schwer verletzt von seiner Angebeteten pflegen, lass sie die Führung übernehmen, ihm ein Geschenk machen, in der Befürchtung, er müsse sterben.

2. Vergiss deine Figuren nicht

Wie beschreibt man aber einen Liebesakt möglichst gekonnt? Die oberste Regel lautet: Folge deinen Figuren. Ein schüchterner Junge, der sich gegen seinen übermächtigen Vater nicht behaupten kann, wird im Bett nicht zu einem selbstbewussten Casanova. Und ein Kriegsheld wird sich von einem zusammenstürzenden Bett nicht aus der Ruhe bringen lassen.

Oder gerade er? Unsere Figuren schreiben uns nicht vor, was wir zu schreiben haben. Aber sie definieren Möglichkeiten. Ihnen musst du folgen. Damit triffst du Entscheidungen: Ist dein Kriegsheld traumatisiert? Dann wird er eine Panikattacke kriegen, mitten im Akt, als das Bett zusammenbricht. Wie damals, in der Kaserne, als die Bomben fielen.

Hast du deinen schüchternen Jungen als übergewichtigen Fleischklops beschrieben? Dann stelle etwas mit seinem Fleisch an. Lass es wallen. Oder seine Geliebte umschließen wie Wackelpudding, den sie als kleines Kind liebte.

Hat deine Figur einen Mangel, eine alte Narbe (das sollte sie)? Wie wirkt sich das auf ihren Sex aus? Ist sie trotz dieses Mangels in irgendetwas verdammt gut, etwa wie die Protagonisten in Better Call Saul? Lässt sich diese Fähigkeit auf interessante Weise auf den Sex übertragen? Oder zeigt sich in einer Sexszene erst der Wandel deines Charakters: Der schüchterne Junge packt seine Geliebte, wirft sie aufs Bett und macht Liebe mit ihr, nachdem er seinen Mobbern endlich die Grenzen aufgezeigt hat (Achtung: Klischee).

Du schreibst nicht einfach eine Liebesszene. Du schreibst eine Liebesszene zwischen Figur A und Figur B (und womöglich Figur C-Z). Vergiss das nie.

3. Eine Liebesszene hat einen Ort

So wichtig die Figuren auch sind, solltest du als Autorin nicht vergessen, dass sie sich nicht im Vakuum lieben. Um sie herum passieren Dinge. Stehen Gegenstände. Laufen andere Menschen vorbei. Mach dir das zu nutze. Bette deine Liebenden im wahrsten Sinne des Wortes ein in ihrem Ort.

Oder tue das Gegenteil: Die Bomben fallen auf die belagerte Stadt, die Seiten sind voll von ihrem Lärm. Dann die Liebesszene – und Stille. Das heißt aber nicht, dass die Bomben plötzlich fort sind. Ihr Schweigen verstärkt die Liebesszene nur noch.

Natürlich gilt Punkt 2 auch beim Setting: Was du beschreibst, entspricht der Wahrnehmung deiner Protagonisten. Fallen deiner Figur die Narben an seinen Beinen auf? Gut. Aber auch die Staubkörner auf den Dielen? Das sagt entweder etwas über sie (Charakterisierung) oder ist Ausdruck ihres bereits bekannten Charakters.

4. Schreibe, was du kennst

Du kennst den alten Spruch: Write what you know. Nun, in Liebesdingen wissen wir beileibe nicht alles und können uns auch nicht alles anlesen. Irgendwie bleibt heterosexueller Sex für einen Homosexuellen etwas Abstraktes. Oder SM für den Blümchensex-Liebhaber. Das heißt aber nicht, dass du nicht darüber schreiben kannst.

Wichtiger als Praktiken sind die Gefühle und das Verlangen. Darum dreht sich jede gute Liebesszene. Um das, was sich zwischen den Figuren abspielt: in ihren Köpfen und Herzen. Wenn du also eine tragische Episode schreibst, etwa die letzte Liebesnacht vor der notwendigen Trennung, dann erforsche deine Gefühle. Und erinnere dich, wie es sich angefühlt hat, damals. Würge es hoch. Kotz es aus. Bring es etwas in Form, du weißt schon: Figuren, Narben, Ort, Bedeutung. Et voilà: Deine SM-Szene wird überzeugend sein, obwohl dein krassestes sexuelles Abenteuer die Verwechslung der Damen- mit der Herrentoilette war.

5. Schreibe deine Liebesszenen, als seien deine Eltern bereits tot

Wenn wir schreiben, offenbaren wir uns. Das heißt jedoch nicht, dass wir die Meinungen und Vorlieben unserer Protagonisten teilen. Außenstehende, Freunde, Familie, Feuilleton verwechseln das dennoch gerne. Das kann uns hemmen.

Allein schon „Pimmel“ zu schreiben, mag manchen von uns peinlich sein. Pimmel, Pimmel, Pimmel.

Philip Roth gab dem jungen Ian McEwan daher einmal den Rat, so zu schreiben, als seien seine Eltern bereits tot. Dadurch erreichst du drei Dinge. Erstens verringert es die Scham, die du beim Schreiben verspürst (nicht nur bei Liebesszenen). Zweitens befreit es dich von dem schädlichen Impuls, gefallen zu wollen. Und drittens kannst du dein Manuskript anhand dieses Gedankens selbst lektorieren. Hast du diesen Satz so geschrieben, weil du dich vor den Reaktionen deiner Eltern fürchtetest? Hast du deshalb etwas weggelassen?

Heutzutage muss man diesen Satz vielleicht erweitern. Schreibe so, als sei Twitter nicht existent. Als gäbe es keine Empörungsmaschinerie (wie etwa im Fall von Werk ohne Autor). Moral ist eine gute Sache, meistens. Als Autorin darf sie dich nicht interessieren.

Der Inhalt deiner Texte ist ohnehin per sé amoralisch. Was dein Protagonist tut, ist weder gut noch schlecht in einem realen Sinn. Es passiert ja nicht wirklich. Stirbt deine Heldin, weil sie an das Gute glaubt? Weil sie ihre Liebe frei auslebt? Okay, so what? Das bedeutet nicht, dass du der Meinung bist, man solle das nicht tun. Wer dir etwas anderes erzählt, sollte eine besondere Behandlung deinerseits erfahren: Schreibe, als sei auch er bereits tot.

Hast du einen Text geschrieben, der von einem Lektorat profitieren könnte? Informiere dich über alles, was du über das Lektorat literarischer Texte wissen musst. Oder schicke deinen Text an kontakt@lektorat-bauer.de und erhalte ein kostenloses Probelektorat samt unverbindlichem Angebot.
Deine Daten werden vertraulich behandelt.

Kategorien
Ein sehr guter Text Prosa

Der Inciting Incident

Star Wars erzählt die Geschichte von Luke Skywalker, der ein Jedi-Ritter werden will und sich der Rebellion anschließt, um das böse Imperium zu bekämpfen. Nicht wahr? Ja, aber ganz so einfach ist es nicht. Luke müssen erst einige Dinge widerfahren, bevor sich diese Geschichte entspinnt. Dazu gehört vor allem das auslösende Ereignis seiner Story, der sogenannte Inciting Incident (auch auslösendes Moment genannt).

1. Definition des Inciting Incident

Der Inciting Incident setzt die Geschichte in Gang. Um dies richtig zu verstehen, muss die Geschichte vom Medium unterschieden werden. Ein Buch beginnt auf Seite 1, ein Film mit dem ersten Bild, ein Drehbuch mit der ersten Zeile. Aber die Geschichte, die all diese Medien erzählen, beginnt streng genommen erst ein wenig später. Nämlich mit dem Inciting Incident. Bis dahin ist alles nur Vorgeplänkel, also Exposition. Der Protagonist wird vorgestellt, sein Umfeld, die Gegebenheiten seiner Welt und Zeit, womöglich auch schon der Antagonist. Aber all diese Dinge bilden noch keine Geschichte.

2. Unterschied zur Exposition

Denn dafür fehlen Ziele, Hindernisse, ein Konflikt. Dass Frodo im Auenland lebt und Bilbo seinen Geburtstag feiert, ist eine schöne Sache. Sogar Gandalf ist gekommen. Wir haben auch erfahren, dass der dunkle Herrscher Sauron zu Kräften kommt. Doch noch gibt es nichts zu tun. Nur vage Bedrohungen, einige Fragen, Schauwerte, Witz und etwas Grusel. Dann steckt sich Bilbo einen Zauberring an und wird unsichtbar! Das ist der Inciting Incident: Es gibt einen seltsamen Ring in Bilbos Besitz! Und dank der historischen Rückblende zu Beginn weiß der Zuschauer bereits: Es ist der eine Ring! Gandalf kommt in der Folge ins Grübeln, ahnt Böses und begibt sich auf Recherche. Nazguls überqueren derweil die Grenze des Auenlands.

3. Inciting Incident und der Protagonist

Wenn ein Ereignis in deiner Geschichte nichts mit dem Protagonisten zu tun hat, ist es auch nicht der Inciting Incident. Denn das auslösende Moment setzt genau diese eine Geschichte in Gang – keine andere. Und hat daher deinen Helden zum Ziel. Bei Der Herr der Ringe wird diese Regel etwas subtiler befolgt: Denn wenn Bilbo den Ring auf seinen Finger steckt und verschwindet, verrät das etwas über die Macht des Ringes und legt Gandalfs Stirn in Falten. Aber es hat noch keine direkten Auswirkungen auf Frodo. Indirekt allerdings sehr wohl: Es ist immerhin sein Onkel, Bilbo wird ihm eines Tages all seinen Besitz vermachen, also auch den Ring. Und wenn es der eine Ring ist, dann ist Frodo ebenso bedroht wie sein gesamtes geliebtes Auenland.

Zu unterscheiden ist der Inciting Incident vom ersten Plot Point. Dieser spitzt die Lage überraschend zu und beendet den ersten Akt: es geht nun ans Handeln. Das leistet der Inciting Incident noch nicht. Erst als Gandalf mehr über den Ring erfahren hat, tritt er an Frodo heran. Dieser lehnt zunächst ab, will den Ring Gandalf überlassen. Doch selbst für Gandalf wäre die Versuchung zu groß. Im Auenland kann der Ring allerdings nicht bleiben, der Feind ist auf dem Weg. Und so kommt es zu einer Reaktion des Protagonisten auf den Inciting Incident: Frodo akzeptiert sein Schicksal. Es gibt sogar ein einzelnes Bild, das diese Reaktion repräsentiert: Frodos Faust umschließt den Ring.

Hier zeigt sich die Sogwirkung des Inciting Incident auf deinen Protagonisten: Er will früher oder später X erreichen. Aber nicht unmittelbar aufgrund des Inciting Incidents. Gleiches gilt für Luke Skywalker: Die Videobotschaft von Prinzessin Leai ist der Inciting Incident. Aber sie sorgt nicht unmittelbar dafür, dass Luke zu den Sternen aufbricht.

4. Auslösendes Ereignis und der Rest der Story

Der Inciting Incident durchbricht dabei eine Harmonie und verlangt dem Protagonisten alles ab, um diese (wenngleich veränderte) Harmonie wiederherzustellen. Natürlich ist Harmonie, vor allem die herrschende, nicht als Lilalauneland zu verstehen. Gut, bei Frodo schon. Es ist Der Herr der Ringe, also gibt es das absolut Gute und das absolut Böse. Ansonsten aber nicht.

Was ist mit Luke Skywalker? Er lebt ein karges, bedeutungsloses Leben in der Wüste und träumt von großen Abenteuern, die er nie erleben wird. Aber er kommt zurecht. Auftritt R2-D2, samt Videobotschaft. Plötzlich ist der junge Farmer mit dem großen Krieg in der Galaxis verknüpft. Und jemand braucht seine Hilfe. Er kann nicht zurück zu seinem Farmleben, nicht ohne seine Träume und die Rebellion zu verraten. Diese Harmonie ist dahin.

Mit dem Inciting Incident betreteten zwei weitere Storybestandteile die Bühne. Zum einen wird die Hauptfrage der Handlung aufgeworfen: Wird Luke Leia retten? Was hat es mit dem Ring auf sich? Diese Frage kann im weiteren Verlauf natürlich noch verfeinert werden. Noch ist Frodo nicht der Ringträger, denn noch ist nicht bekannt, dass der Ring im Auenland nicht sicher ist. Und das „sicher“ bedeutet, den Ring zu zerstören, wird sich auch erst in Bruchtal herausstellen.

Zum anderen wird eine obligatorische Szene¹ vorweggenommen. Luke wird gegen das Imperium kämpfen, was, wie wir schon bald erfahren werden, bedeutet, gegen den Todesstern zu kämpfen. Irgendjemand wird sich des Rings annehmen müssen, ihn vor Sauron in Sicherheit bringen.

Der perfekte Zeitpunkt für das auslösende Ereignis ergibt sich aus dem bisher Gesagten. Nur in Ausnahmefällen beginnt eine Geschichte mit dem auslösenden Moment. Denn das kostet die Exposition. Fast nie dauert es bis zur Hälfte der Story, ehe er eintritt. Denn das garantiert Langeweile. Irgendwo im ersten Viertel der Geschichte ist er bestens untergebracht.

In der folgenden Grafik findest du einige weitere Beispiele:

Inciting Incidents Beispiele

5. Dein eigener Inciting Incident

All das mag auf den ersten Blick verwirrend sein. Du wolltest doch einfach deine Geschichte beginnen und jetzt musst du dich mit Fremdwörtern herumschlagen und sollst irgendwelche Regeln befolgen. Doch tatsächlich ist der Inciting Incident eines der wichtigsten dramatischen Elemente überhaupt. Mach den Selbstest! Erzähle deiner Schwester, deinem Freund, die aufregendste Geschichte, die du selbst erlebt hast (möglichst knapp). Du wirst unter anderem von einem auslösenden Ereignis erzählen, das garantierte ich dir. Oder deine Schwester wird dich anschauen und fragen: Ja, aber wieso?

Deshalb kommt auch in jeder guten Log Line ein Inciting Incident vor. Selbst wissenschaftliche Texte haben streng genommen ein auslösendes Ereignis, nämlich ein Problem, dass eine darauf aufbauende Fragestellung motiviert.

Also brich alle Regeln, die du kennst. Aber vergiss nicht den Inciting Incident.

[1] Robert McKee (1997). Story – Substance, Structure, Style and the Principles of Screenwriting.

Hast du einen Text geschrieben, der von einem Lektorat profitieren könnte? Informiere dich über alles, was du über das Lektorat eines Romans bzw. eines literarischen Textes wissen musst. Oder schicke ihn an kontakt@lektorat-bauer.de und erhalte ein kostenloses Probelektorat samt unverbindlichem Angebot.
Deine Daten werden vertraulich behandelt.

Kategorien
Ein sehr guter Text Prosa

Beginne mit einer Verletzung

Jede große und kleine Geschichte ist im Kern auf eine Verletzung des Helden zurückzuführen.

Der Drachentöter Siegfried! Die Ferse Achilles!

Große Helden haben eine Schwäche, einen Mangel. Dieser Mangel ist die Folge einer Verletzung: Achilles ist das Kind einer Göttin und eines Sterblichen. Deshalb taucht ihn seine Mutter in den Styx, ihn von der Sterblichkeit zu befreien. Hält ihn dabei an der Ferse fest.

Aber in der Verletzung liegt meist auch eine Chance: zu wachsen, zu reifen, oder ihren Effekt gar als Waffe einzusetzen (Siegfried ist quasi unverwundbar).

Eine gelungene Story wird daher eine solche Verletzung beinhalten und daraus den Charakter ihres Helden bestimmen: Nemos Vater hat seine Frau und all seine Kinder verloren, 999. Das ist seine Verletzung. Deshalb ist er ein Helikopter-Vater (das ist der Effekt). Deshalb wagt sich Nemo zu weit raus und wird entführt (da beginnt der Plot).

Wäre er einfach nur ein Helikopter-Vater – wen würde das interessieren? Aber die Verletzung erklärt sein Verhalten und macht die Sache für uns Zuschauer relevant.

Ein Beispiel:

Luke Skywalker träumt von großen Abenteuern, davon Pilot zu werden, aber muss mit seinen Zieheltern leben und auf deren Farm nach dem Rechten sehen (denkt er). Was fehlt ihm? Glaube an sich selbst! An Möglichkeiten, die es gibt, die es für ihn gibt.
Wir wissen nicht genau, was der Grund für diesen Mangel ist. Das ist nicht immer wichtig, oft genügen Andeutungen, aber irgendetwas hat ihm diese Überzeugung genommen.

Er trifft schließlich Obi-Wan, seine Zieheltern werden ermordet und das Abenteuer ruft nach ihm. So brutal das klingt: Seine Zieheltern mussten sterben, denn andernfalls wäre er dem Ruf des Abenteuers nie gefolgt. Zu störrisch, zu verbohrt, zu ungläubig ist er.
Dann erfährt er von seinem Vater, lernt erste Dinge bezüglich der Macht, bleibt aber recht distanziert dazu.
Und was passiert, als er im großen Finale den Todesstern zerstört? Er verzichtet auf den Computer, mit dem alle Piloten vor ihm gescheitert sind, und vertraut auf die Macht. Boom!

Die Macht des Star-Wars-Universums ist am Ende Lukes eigener, im Vergleich winziger Charakterbogen ins Große projiziert: Luke fehlt der Glaube an sich und die Welt. Allerdings gibt es etwas in ihm, mit dem er alle seine Träume von Abenteuern und Bedeutung erfüllen kann. Der Haken: Um es einzusetzen, muss er, naja, daran glauben und von sich überzeugt sein.

Was ist die dunkle Seite der Macht? Nicht daran glauben, nicht an sich, an das Gute, und daher den einfachen, schnellen Weg wählen. Letztlich lässt sich also die gesamte Story von Krieg der Sterne auf die Verletzung, und den daraus resultierenden Mangel des Helden Luke Skywalker zurückführen – das ist grandios geplottet.

Wenn eine Geschichte nicht recht funktioniert, frage dich daher, ob folgendes darin enthalten ist: Ein Held, der eine Verletzung hat, die ihn von seinem Ziel abhält, weil er sich aufgrund dieser Verletzung so und so verhält, der diese Verletzung aber heilen kann im Laufe des Abenteuers, und dann, deshalb!, auch sein Ziel erreicht.

Hast du einen Text geschrieben, der von einem Lektorat profitieren könnte? Informiere dich über alles, was du über das Lektorat eines Romans wissen musst. Oder schicke ihn an kontakt@lektorat-bauer.de und erhalte ein kostenloses Probelektorat samt unverbindlichem Angebot.
Deine Daten werden vertraulich behandelt.