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Ein sehr guter Text Prosa

Der Inciting Incident

Auf Seite 1 beginnt das Buch. Damit die Geschichte in Gang kommt, braucht es mehr: den „Inciting Incident“.

Star Wars erzählt die Geschichte von Luke Skywalker, der ein Jedi-Ritter werden will und sich der Rebellion anschließt, um das böse Imperium zu bekämpfen. Nicht wahr? Ja, aber ganz so einfach ist es nicht. Luke müssen erst einige Dinge widerfahren, bevor sich diese Geschichte entspinnt. Dazu gehört vor allem das auslösende Ereignis seiner Story, der sogenannte Inciting Incident (auch auslösendes Moment genannt).

1. Definition des Inciting Incident

Der Inciting Incident setzt die Geschichte in Gang. Um dies richtig zu verstehen, muss die Geschichte vom Medium unterschieden werden. Ein Buch beginnt auf Seite 1, ein Film mit dem ersten Bild, ein Drehbuch mit der ersten Zeile. Aber die Geschichte, die all diese Medien erzählen, beginnt streng genommen erst ein wenig später. Nämlich mit dem Inciting Incident. Bis dahin ist alles nur Vorgeplänkel, also Exposition. Der Protagonist wird vorgestellt, sein Umfeld, die Gegebenheiten seiner Welt und Zeit, womöglich auch schon der Antagonist. Aber all diese Dinge bilden noch keine Geschichte.

2. Unterschied zur Exposition

Denn dafür fehlen Ziele, Hindernisse, ein Konflikt. Dass Frodo im Auenland lebt und Bilbo seinen Geburtstag feiert, ist eine schöne Sache. Sogar Gandalf ist gekommen. Wir haben auch erfahren, dass der dunkle Herrscher Sauron zu Kräften kommt. Doch noch gibt es nichts zu tun. Nur vage Bedrohungen, einige Fragen, Schauwerte, Witz und etwas Grusel. Dann steckt sich Bilbo einen Zauberring an und wird unsichtbar! Das ist der Inciting Incident: Es gibt einen seltsamen Ring in Bilbos Besitz! Und dank der historischen Rückblende zu Beginn weiß der Zuschauer bereits: Es ist der eine Ring! Gandalf kommt in der Folge ins Grübeln, ahnt Böses und begibt sich auf Recherche. Nazguls überqueren derweil die Grenze des Auenlands.

3. Inciting Incident und der Protagonist

Wenn ein Ereignis in deiner Geschichte nichts mit dem Protagonisten zu tun hat, ist es auch nicht der Inciting Incident. Denn das auslösende Moment setzt genau diese eine Geschichte in Gang – keine andere. Und hat daher deinen Helden zum Ziel. Bei Der Herr der Ringe wird diese Regel etwas subtiler befolgt: Denn wenn Bilbo den Ring auf seinen Finger steckt und verschwindet, verrät das etwas über die Macht des Ringes und legt Gandalfs Stirn in Falten. Aber es hat noch keine direkten Auswirkungen auf Frodo. Indirekt allerdings sehr wohl: Es ist immerhin sein Onkel, Bilbo wird ihm eines Tages all seinen Besitz vermachen, also auch den Ring. Und wenn es der eine Ring ist, dann ist Frodo ebenso bedroht wie sein gesamtes geliebtes Auenland.

Zu unterscheiden ist der Inciting Incident vom ersten Plot Point. Dieser spitzt die Lage überraschend zu und beendet den ersten Akt: es geht nun ans Handeln. Das leistet der Inciting Incident noch nicht. Erst als Gandalf mehr über den Ring erfahren hat, tritt er an Frodo heran. Dieser lehnt zunächst ab, will den Ring Gandalf überlassen. Doch selbst für Gandalf wäre die Versuchung zu groß. Im Auenland kann der Ring allerdings nicht bleiben, der Feind ist auf dem Weg. Und so kommt es zu einer Reaktion des Protagonisten auf den Inciting Incident: Frodo akzeptiert sein Schicksal. Es gibt sogar ein einzelnes Bild, das diese Reaktion repräsentiert: Frodos Faust umschließt den Ring.

Hier zeigt sich die Sogwirkung des Inciting Incident auf deinen Protagonisten: Er will früher oder später X erreichen. Aber nicht unmittelbar aufgrund des Inciting Incidents. Gleiches gilt für Luke Skywalker: Die Videobotschaft von Prinzessin Leai ist der Inciting Incident. Aber sie sorgt nicht unmittelbar dafür, dass Luke zu den Sternen aufbricht.

4. Auslösendes Ereignis und der Rest der Story

Der Inciting Incident durchbricht dabei eine Harmonie und verlangt dem Protagonisten alles ab, um diese (wenngleich veränderte) Harmonie wiederherzustellen. Natürlich ist Harmonie, vor allem die herrschende, nicht als Lilalauneland zu verstehen. Gut, bei Frodo schon. Es ist Der Herr der Ringe, also gibt es das absolut Gute und das absolut Böse. Ansonsten aber nicht.

Was ist mit Luke Skywalker? Er lebt ein karges, bedeutungsloses Leben in der Wüste und träumt von großen Abenteuern, die er nie erleben wird. Aber er kommt zurecht. Auftritt R2-D2, samt Videobotschaft. Plötzlich ist der junge Farmer mit dem großen Krieg in der Galaxis verknüpft. Und jemand braucht seine Hilfe. Er kann nicht zurück zu seinem Farmleben, nicht ohne seine Träume und die Rebellion zu verraten. Diese Harmonie ist dahin.

Mit dem Inciting Incident betreteten zwei weitere Storybestandteile die Bühne. Zum einen wird die Hauptfrage der Handlung aufgeworfen: Wird Luke Leia retten? Was hat es mit dem Ring auf sich? Diese Frage kann im weiteren Verlauf natürlich noch verfeinert werden. Noch ist Frodo nicht der Ringträger, denn noch ist nicht bekannt, dass der Ring im Auenland nicht sicher ist. Und das „sicher“ bedeutet, den Ring zu zerstören, wird sich auch erst in Bruchtal herausstellen.

Zum anderen wird eine obligatorische Szene¹ vorweggenommen. Luke wird gegen das Imperium kämpfen, was, wie wir schon bald erfahren werden, bedeutet, gegen den Todesstern zu kämpfen. Irgendjemand wird sich des Rings annehmen müssen, ihn vor Sauron in Sicherheit bringen.

Der perfekte Zeitpunkt für das auslösende Ereignis ergibt sich aus dem bisher Gesagten. Nur in Ausnahmefällen beginnt eine Geschichte mit dem auslösenden Moment. Denn das kostet die Exposition. Fast nie dauert es bis zur Hälfte der Story, ehe er eintritt. Denn das garantiert Langeweile. Irgendwo im ersten Viertel der Geschichte ist er bestens untergebracht.

In der folgenden Grafik findest du einige weitere Beispiele:

Inciting Incidents Beispiele

5. Dein eigener Inciting Incident

All das mag auf den ersten Blick verwirrend sein. Du wolltest doch einfach deine Geschichte beginnen und jetzt musst du dich mit Fremdwörtern herumschlagen und sollst irgendwelche Regeln befolgen. Doch tatsächlich ist der Inciting Incident eines der wichtigsten dramatischen Elemente überhaupt. Mach den Selbstest! Erzähle deiner Schwester, deinem Freund, die aufregendste Geschichte, die du selbst erlebt hast (möglichst knapp). Du wirst unter anderem von einem auslösenden Ereignis erzählen, das garantierte ich dir. Oder deine Schwester wird dich anschauen und fragen: Ja, aber wieso?

Deshalb kommt auch in jeder guten Log Line ein Inciting Incident vor. Selbst wissenschaftliche Texte haben streng genommen ein auslösendes Ereignis, nämlich ein Problem, dass eine darauf aufbauende Fragestellung motiviert.

Also brich alle Regeln, die du kennst. Aber vergiss nicht den Inciting Incident.

[1] Robert McKee (1997). Story – Substance, Structure, Style and the Principles of Screenwriting.

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