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Ein sehr guter Text Kurzgeschichten 101

Kurzgeschichte schreiben

Eine Kurzgeschichte zu schreiben, ist die literarische Königsdisziplin. Wie aber stellt man das an?

Eine Kurzgeschichte selbst zu schreiben, ist eine wunderbare Fingerübung für angehende Autoren. Und die Königsdisziplin für alle großen Schriftstellerinnen. Sie verzeiht nichts. Jedes Wort muss sitzen. Doch es gibt einige grundlegende Tipps, die auch unerfahrenen Schreiberlingen den Weg zu ihrer ersten Kurzgeschichte ebnen können.

Beginnen wir mit der Motivation.

1. Wieso eine Kurzgeschichte schreiben?

Eine Kurzgeschichte ist schnell geschrieben und schnell korrigiert. Und dann nochmal korrigiert. Und nochmal. So gelangst du ohne viel Zeitaufwand zu deinem ersten fertigen Text. Dabei lernst du unheimlich viel: Was funktioniert, was nicht, wo liegen deine Stärken, wo deine Schwächen. Wenn du heute einen Roman beginnst, dauert es mehrere Monate bis zur ersten fertigen Version. Dann brauchst du nochmal einen Monat für die erste Korrektur. Und verlierst zwangsläufig immer wieder den Überblick. Was passiert nochmal in Kapitel 43? Eben.

Eine Kurzgeschichte mit maximal 60 Normseiten hingegen ist kompakt, überschaubar und zwingt dich zur eingehenden Auseinandersetzung mit einzelnen Seiten, Absätzen und Zeilen. Der DFB hat kürzlich beschlossen, kleine Kinder nur noch im 3 gegen 3 spielen zu lassen, anstatt 11 gegen 11. Denn so hat jedes der Kinder eine Vielzahl von Ballkontakten. Eine Kurzgeschichte zu schreiben, sichert dir genau das: viel Zeit am Ball.

Auch Feedback erhältst du wesentlich leichter und schneller. Wenn deine Freunde 450 Seiten lesen müssen, kannst du sie danach auch gleich heiraten. Fünf Seiten hingegen sind selbst für den Bekannten aus der Kneipe machbar. Und Feedback ist unentbehrlich für deine Autorinnenreise! Solltest du dich für ein Lektorat deiner Kurzgeschichte entscheiden, ist dieses nicht nur günstiger und schneller fertig, du lernst auch bereits Dinge über das Schreiben, die du vor deinem ersten großen Text vielleicht besser wissen solltest.

Zu guter Letzt: Die Kurzgeschichte ist die Königsdisziplin. Wenn du Fußballer werden willst, versuchst du Roberto Carlos‘ Freistöße zu kopieren. Wenn du Autor werden willst, solltest du keine Abstriche machen. Doch was ist eine Kurzgeschichte eigentlich?

2. Definition einer Kurzgeschichte

Eine Kurzgeschichte lässt sich in einer Sitzung durchlesen. Bei einem Milchkaffee also, in der Badewanne, im ICE. Eine genaue Seitenzahl ergibt sich daraus nicht. Manche Menschen können 60 Seiten am Stück lesen, andere nur fünf. Aber wenn es um die maximale Länge geht, liefert diese Definition trotzdem einen guten Grenzwert: 100 Seiten sind definitiv zu lang.

Eine Mindestlänge gibt es nicht wirklich, auch wenn eifrige Katalogisierer noch die Microfiction oder die Vignette kennen. Doch damit verkompliziert man die Dinge nur: Sind Kafkas frühe Geschichten etwas anderes? Wen interessiert das? Den Leser sicher nicht. Schreib so viele Zeichen, wie es dir richtig erscheint. Ob 100, 1000 oder 10.000 macht keinen Unterschied. Die viel wichtigere und schwierigere Frage lautet: Worüber schreiben?

3. Idee & Thema einer Kurzgeschichte

Du wirst es bei deiner Lektüre gemerkt haben: Jede Kurzgeschichte hat ein Thema bzw. basiert auf einer Idee. Wenn du eine fortgeschrittene Autorin bist, werden dir Ideen kommen, weil du im Fernsehen einen Bericht über ein Klärwerk siehst. Oder einen eigenartigen Menschen triffst. Es macht dann Klick und du erkennst das Potenzial, einen Twist, einen Widerspruch zum Common Sense. Das ist eine antrainierte Mind-Muscle-Connection, also zwischen deiner Wahrnehmung und deinem dicken Schreibmuskel. Am Anfang deiner Schriftstellerkarriere bist du vermutlich noch nicht damit gesegnet. Wie also eine Idee oder ein Thema für deine Kurzgeschichte finden?

Zunächst musst du dir klarmachen, dass eine Geschichte über einen Piraten noch keine Idee und nicht einmal ein Thema ist. Denn es enthält weder einen Plot (was will der Pirat und wieso kann er es nicht kriegen?) noch ein Motiv (Piraten sind die einzigen freien Menschen unter der Sonne).

Eine Idee für eine Kurzgeschichte muss nicht so ausbuchstabiert sein wie jene für einen Roman oder ein Drehbuch. Denn so sind Kurzgeschichten ja: Knapp, abgehackt, auf den Punkt. Aber irgendetwas muss trotzdem erzählt werden. Etwa die Geschichte eines Piraten, der die Braut des Gouverneurs entführt hat, um Lösegeld zu erpressen. Die will aber gar nicht zurück und klaut bei der Übergabe kurzerhand das Piratenschiff.

Beginne mit Gegensätzen

Denke also an Situationen oder Gegenstände, die eindeutig erscheinen, es aber eigentlich nicht sind oder nicht sein müssen (Borchert: Die Küchenuhr). Führe gewöhnliche und absurde Elemente zusammen (Kafka: Die Verwandlung). Entdecke das Besondere im Allgemeinen oder umgekehrt. Lass zwei große Begriffe miteinander konkurrieren, Technik und Natur, Mensch und Tier (Feuchtwanger: Höhenflugrekord). Aus derlei Spannungen muss eine Idee für eine Kurzgeschichte fußen, nicht aus einem Ort, einem Beruf oder einer Zeit.

Dabei folgt eine Kurzgeschichte meist derselben Struktur wie ein Freistoß von Roberto Carlos: Sie zieht nach rechts, nur um sich dann im letzten Moment nach links zu drehen. Dieses Spiel mit den Erwartungen habe ich einem separaten Artikel zur Ideenfindung ausführlich beschrieben. Es führt direkt zu einer Vielzahl von möglichen Ideen.

Es wird dir zudem leichter fallen, eine Idee für deine Kurzgeschichte zu finden, wenn du dich mit dem üblichen erzählerischen Aufbau vertraut machst.

4. Aufbau einer Kurzgeschichte

Wie bereits angedeutet, besteht eine Kurzgeschichte oft aus zwei gegensätzlichen Bewegungen (Tschechows Wanka, Kafkas Das Urteil). Darüber hinaus zeichnet sie sich aufgrund ihrer verdichteten Erzählweise durch eine kondensierte Exposition aus. Man kommt schnell zum Punkt. Dies schließt auch eine reduzierte Figurenauswahl ein. In einer Kurzgeschichte muss jede Figur eine Funktion übernehmen, für ausschweifende Stammbäume bleibt keine Zeit.

Sofern die Kurzgeschichte etwas komplexer strukturiert ist, etwa weil sie schlicht länger ist oder einem klassischen dramatischen Aufbau entspricht, folgt auf die Exposition der Inciting Incident. Dieses auslösende Ereignis setzt die Geschichte in Gang und stellt deinem Protagonisten eine Frage: Steigt er ins Abenteuer ein oder nicht? Dementsprechend wird der Protagonist darauf reagieren, mal kaum merklich, mal deutlich und laut. Und die Frage beantworten. Speziell in Kurzgeschichten kann diese Frage auch subtiler ausfallen und eher eine Bedrohung des harmonischen Zustands vermitteln: Tom und Anna lieben sich, dann kommt Tom nach Hause und legt einen Umschlag auf den Tisch, ohne ein Wort zu sagen.

Anschließend macht sich eine Kurzgeschichte rasch zum ersten Plot Point auf. Dieser ist mitunter stark mit dem Wechsel der Flugbahn bei Roberto-Carlos-Freistößen verwandt: Hier setzt die gegensätzliche Bewegung ein. Manche Kurzgeschichten rasen von diesem Punkt aus auf ihr Ende zu (Wanka). Andere, klassischer komponierte Erzählungen erleben noch einen zweiten Plot Point.

Diese komplexeren Kurzgeschichten lassen sich oft in einer Log Line zusammenfassen: Als (X) passiert, will (P) plötzlich (Z) erreichen, indem er (M) tut, doch (Y) stellt sich ihm in den Weg. Eine solche Struktur entspricht jener großer Geschichten oder der von Drehbüchern und bietet, in der verdichteten Atmosphäre einer Kurzgeschichte, wunderbare Möglichkeiten.

Du siehst also: Als Autorin einer Kurzgeschichte bist du freier in der dramaturgischen Gestaltung. Du bist jedoch nicht von der Herausfoderung befreit, etwas zu erzählen.

5. Weitere Tipps für das Schreiben deiner Kurzgeschichte

  • Die Hintergrundgeschichten deiner Figuren sind in einer Kurzgeschichte nebensächlich. Sie können zwar wichtig sein und sollten dann auch angedeutet werden, aber niemals sollten sie seitenfüllend ausgebreitet werden. Dafür ist kein Platz. Es ist auch nicht notwendig.
  • Die Sätze einer Kurzgeschichte sind Fließbandarbeiter: Jeder einzelne verrichtet eine Aufgabe. Entweder treiben sie die Geschichte voran oder sie charakterisieren deine Charaktere. Schreib also nicht: Tom sah Anna hinterher. Es nieselte leicht. Dann klingelte es. Sondern: Tom sah Anna hinterher. Dann klingelte es.
  • Wenn du einen Schreibimpuls verspürst, folge ihm! Nicht später oder morgen. Jetzt.
  • Halte Ausschau nach winzigen, aber gewichtigen Pointen. Du suchst nach Blei! Dir kommt eine Idee über zwei rivalisierende Königshäuser, die um einen Drachen kämpfen, der mit dem verschollenen Stein der Weisen kontrolliert werden kann? Viel Spaß mit deinem ersten Romanmanuskript. Besser: Ein Prinz will einen Drachen töten, aber der ist erkältet.
  • Lies Kurzgeschichten. Alle. Am besten aber: Kurze Kurzgeschichten. Alles unter 10 Seiten. Aufgrund ihrer verdichteten Erzählweise werden sie dir mehr über Storytelling und das Schreiben verraten als alle anderen Medien.

6. Übung zum Schreiben von Kurzgeschichten

Schreibe eine Aussage auf ein Blatt Papier, eine Situation, eine vermeintliche Wahrheit, eine Zustandsbeschreibung. Dann verwende den Rest der Seite darauf, diese Aussage möglichst gekonnt und gewitzt in ihr absolutes, höchst absurdes Gegenteil zu verkehren. Ein Beispiel:

„Es nieselte leicht.

Genau genommen, stimmte das nicht. Was Jack als Nieseln wahrnahm, waren eigentlich ausgesprochen wollige Bindfäden, die aus dem trübgrauen Himmel hingen wie Deserteure an den Bäumen. Sah man genau hin, konnte man gar Teddybärenaugen erkennen, so wollen und von der Feuchte vollgesogen hingen die Fäden vor Jacks Fenster. Wäre er bei Sinnen gewesen und ein weniger tüchtig als ihn die nachlässige Erziehung seiner Mutter hatte werden lassen, wäre er gewiss aus dem Fenster gekraxelt um einmal kräftig jeden einzelnen von ihnen auszuwringen. Doch für Jack blieb der Bindfadenwald in Teddygestalt nur Nieselregen, und in den folgenden Jahren fand niemand zu einer treffenderen Beschreibung des sonnigen Gemüts, das Jack von seinen Mitmenschen unterschied.“

fiktives Beispiel

Von einer simplen Aussage gelange ich zunächst zu blumig absurden Beschreibungen des Gegenteils, dann zu einem Protagonisten und schließlich zu dessen Charakterisierung – ohne dass irgendetwas davon zuvor in meiner Vorstellung existiert hätte. Da es beim Schreiben einer Kurzgeschichte um gegensätzliche Bewegungen geht und, wie bei allen Geschichten, ein Wandel enthalten sein muss, ist diese simple Übung das perfekte Training deines Schreibmuskels. Auf diese Weise kannst du ohne Druck üben, Ideen und Motive für eine Kurzgeschichte zu erkennen. Gleichzeitig lernst du, das Absurde, das Außergewöhnliche in Alltagssituation zu erkennen – ebenfalls ein zentraler Aspekt des Storytellings in Kurzform. Wirf auch einen Blick auf meine anderen Übungen für kreatives Schreiben.

7. Kurzgeschichten veröffentlichen

Kurzgeschichten schreiben, ist nicht einfach. Sie zu veröffentlichen, ist noch schwieriger. Es gibt in Deutschland schlicht keinen Markt, vor allem nicht für Debütanten (Ausnahmen wie Judith Hermann bestätigen die Regel). Deshalb wird meist der umgekehrte Weg eingeschlagen: Ist der Autor eine Marke, druckt man auch dessen Kurzgeschichten.

Mit einem Kurzgeschichtenband wirst du also bei den Verlagen nicht die allergrößten Chancen haben. Außer, sie sind unfassbar gut. Dann ist die Gattung nebensächlich.

Aber nicht verzagen: Du kannst deine Kurzgeschichten natürlich im Self-Publishing verlegen. Oder du versuchst dich bei einer der unzähligen Ausschreibungen bzw. Literaturzeitschriften, die kurze Texte unbekannter Autoren annehmen (vorher unbedingt die Formalia prüfen!).

Eine Absage bedeutet jedoch nicht, dass deine Geschichten schlecht sind. Es gibt einfach nur aberwitzig viele Einsendungen und begrenzten Platz. Lass dich also nicht entmutigen! Und leg die Kurzgeschichten beiseite, für die du keinen Platz finden konntest. Wer weiß, vielleicht bist du eines Tages eine Marke.

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