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Ein sehr guter Text Prosa

Antagonist und Protagonist: Wie du ein Traumpaar daraus machst

Antagonist und Protagonist sind Gegner, Feinde, das Schicksal des jeweils anderen. Aber in erster Linie sind sie ein Paar. Ein entzückendes, wenn dir deine Geschichte gelungen ist. Ein Traumpaar, wenn du Ikonisches geleistet hast. Daher ist es unvermeidlich, sich als Autor damit zu befassen, woraus die Beziehung zwischen Antagonist und Protagonist besteht und wie sie strukturiert ist. Beginnen wir ganz am Anfang.

1. Der Antagonist begründet die Geschichte

Wer über Antagonist und Protagonist reden will, muss über Gott und den Teufel reden. Zunächst ganz simpel: Wer würde die Bibel lesen, wenn es keinen Teufel darin gäbe? Die Schöpfungsgeschichte ist ohne Schlange nur ein nettes Gemälde. Kain und Abel, Jesus in der Wüste, die 10 Gebote, Hiob – in all diesen wirklich großen, archetypischen Geschichten schwingt die Kraft des Bösen mit. Des Verführtwerdens, des Zweifelns. Des Chaos und des drohenden Untergangs. Von der Apokalypse noch gar nicht gesprochen.

Einmal geht es also um die Geschichte(n), die die Bibel erzählt. Sie ergeben ohne den Teufel als Antagonisten wenig Sinn. Es geht aber auch um die Geschichte, die wir uns unabhängig davon selbst über die Welt erzählen oder erzählt haben. Dass es einen Gott gibt, der all das erschaffen hat. Der sagt, wie ein gutes Leben aussieht. Dass es aber nicht leicht ist, diesem Weg zu folgen. Weil es etwas gibt, das dem entgegenwirkt. Auch für die Plausibilität dieser Geschichten ist ein Antagonist erforderlich.

Ganz grundsätzlich zeigt sich in der Beziehung zwischen Gott und Teufel also die Funktion des Antagonisten: Er macht dem Protagonisten das Leben schwer. Er zwingt ihn zum Handeln (Jesus auf die Erde schicken, Adam und Eva aus dem Paradies verbannen etc.). Und er rechtfertigt und erklärt die Existenz des Protagonisten und der Geschichte selbst.

Klar: Die Frage nach einem Schöpfer schließt die Existenz eines Widersachers (bibelgriechisch: „diabolos“) noch nicht zwingend mit ein. Aber sobald man beginnt, sich diesen Schöpfer als gütigen, allmächtigen Gott vorzustellen, wird ein böser Gegenpart zwingend. Denn wie sonst kommt das Leid in die Welt?

2. Antagonist und Protagonist spiegeln sich

Das führt uns zur ersten Definition der Beziehung zwischen Protagonist und Antagonist: In ihren Eigenschaften folgen sie oftmals einem entgegengesetzten Dualismus. Gott ist gut, der Teufel böse. Gott nennt allgemeingültige Regeln, der Teufel schmiedet Pakte mit ihm verfallenen Individuen. Der Teufel wohnt in der Hölle, Gott im Himmel. Dort droht die ewige Qual, da lockt das ewige Leben. Gott erscheint nicht, der Teufel hat Hörner, einen Ziegenfuß und einen Dreizack.

Im Fall von Gott und Teufel liegt die Sache noch komplexer. Gott verspricht uns eine simple, allzumenschliche Kausalität: Tue X (ein frommes Leben) und du erhältst Z (ewiges Leben). Darüber hinaus ist er eine Personifikation der Kausalität. Wo kommt das Universum her, woher das Leben? Gott hat es erschaffen. Warum geschehen unerklärliche Dinge, wieso werden wir von der Natur scheinbar belohnt und bestraft? Gott steckt dahinter.

Mit dieser Kausalität räumt der Teufel auf. Er verkörpert das Chaos und sorgt für das Unerwartete im Universum. Er verursacht Leid und Sünde. Zeichnet verantwortlich für Tragödien und sät Zwietracht unter den Menschen.

Folgt man diesem Pfad der entgegengesetzten Eigenschaften an sein Ende, führt er uns zurück zur Auflösung der ganzen Religionssache. Vollkommene Kausalität, wie sie Gott repräsentiert, lässt keinen Platz für einen freien Willen übrig. Erst durch den Teufel, der den Menschen widerspenstig und ungehorsam macht, bricht Freiheit in die Kausalkette hinein. Ergibt es Sinn, die Frage danach zu stellen, wie man es mit der Religion hält. Beginnt der Mensch darüber nachzudenken, was man tun könnte, um das Chaos des Universums zu ordnen. Vielleicht einen Gott erfinden?

So wird es ja auch gewesen sein: Das Leid war in der Welt, lange bevor die Menschen anfingen, über Gott nachzudenken. Volkssagen über die Entstehung der Welt folgen einem ganz ähnlichen Muster. Die Berge Kamtschatkas erklärte die Sage eines mit Schneeschuhen umherwandernden Gottes, unter dessen Füßen der Boden nachgab.¹ Auch beim Schreiben kann es sinnvoll sein, mit dem Antagonisten zu beginnen. Denken wir an Der Herr der Ringe: Gab es in Tolkiens Vorstellung wirklich zuerst Frodo (bzw. Bilbo) und dann erst die Sache mit dem Ring und Sauron? Ruft die Figur des dunklen Herrschers Sauron nicht geradezu nach dem kleinwüchsigen Auenlandbewohner reinen Herzens?

Das Problem mit der Theodizee gründet ironisch betrachtet demnach auf der grundlegenden Beziehung zwischen Antangonist und Protagonist. Wieso lässt Gott die teuflischen Schandtaten zu, wenn er doch allmächtig und gütig ist? Ganz einfach: Die beiden brauchen einander.

3. Der Antagonist ist die Übermacht

Erzählen könnte man die Geschichte jedoch nicht mit Gott als Protagonisten. Deshalb tauchen in der Bibel die Menschen auf, die mit und gegen den Teufel kämpfen, während Gott sich vornehm zurückhält. Seit den ersten Bibellesungen gilt daher noch ein elftes Gebot: Mache deinen Protagonisten nicht allmächtig. Lass den Antagonisten übermächtig erscheinen. Beinahe allmächtig.

Und dann lass deinen Protagonisten heranreifen, sich verändern, häuten. Bis er schließlich dem Antagonist gegenübertreten und ihn herausfordern kann (Luke Skywalker, Jimmy McGill gegen seinen Bruder in Better Call Saul, jedes Final Girl in jedem Horrorfilm). Ob der Antagonist wirklich übermächtig ist oder nicht, wird sich dann zeigen. Manchmal verliert der Held. Oder erringt nur einen Pyrrhussieg. Wenn er gewinnt, dann weil er sich verändert hat und die Übermacht des Antagonisten so gebrochen werden konnte.

Umgekehrt bedeutet das: Dein Protagonist muss Schwächen haben. Schwächen, die mit den Stärken und Eigenschaften des Antagonisten korrelieren. In Funny Games sind die Psychopathen distinguiert bürgerlich, aber voller Gewalt, während ihre Opfer so bürgerlich geprägt sind, dass sie Gewalt vollständig sublimiert haben und zu mehr als einer lauen Ohrfeige nicht imstande sind. Können die Opfer ihrer gesellschaftlichen Herkunft entkommen, in der Gewalt zwar zum guten Ton des Samstagvormittag-Cartoons gehört, in der realen Welt aber keine gesunde Entsprechung mehr hat?

Im hypnotischen Mandy ist der Täter ein gekränktes männliches Ego, das Nicolas Cage‘ (oscarreife Leistung) Figur eine ähnliche männliche Kränkung zufügt: Seine Geliebte kann er nicht beschützen. Das bereitet den Boden für ein finales Aufeinandertreffen mythischer Sorte, wenn Cage aufgrund seines Verlusts längst zum Halbgott geworden ist.

Wenn du also die Geschichte einer Maus erzählst, die nicht genug Käse bekommen kann, dann lass den Antagonisten nicht einen Käseliebhaber sein, der seine Schätze hütet. Lass ihn allen Käse vernichten wollen, um dem von ihm massenhaft produzierten Analogkäse zum Durchbruch zu verhelfen. Und dann lass die Maus in der Käsevernichtungsfabrik unter die Räder kommen, ehe sie aufgrund ihrer genauen Kenntnisse käsischen Verhaltens doch noch den Häckslern entkommt. Aber was kann eine Maus schon gegen einen Kapitalisten ausrichten, fragst du dich. Die Antwort liegt irgendwo in der Beziehung von Antagonist und Protagonist. Es wird kein Komet einschlagen, der die Fabriken zerstört.

4. Die antagonistische Kraft

Allerdings ist der Antagonist nicht per se eine Person. Vielmehr sollte man sich den Antagonisten als die negative Kraft in deiner Geschichte vorstellen, die sich auf unterschiedliche Weise manifestieren kann. Klar, der Joker ist ein grandioser personifizierter Antagonist (alle Comic-Helden leben davon, außergewöhnlichen, personifizierten Antagonist gegenüberzustehen, siehe Lex Luthor, Loki oder Sandman). Doch was ist mit dem Antagonisten in Dunkirk? In Once Upon a Time In… Hollywood? In weiten Teilen von The Revenant? In Cast Away?

Hier ist der Antagonist entpersonalisiert. In Dunkirk bekommt man nicht einen deutschen Soldaten zu Gesicht. In The Revenant kämpft DiCaprio gegen die Natur. Und in Once Upon a Time In… Hollywood ist der eigentliche Antagonist Charles Manson kaum präsent, sodass die Historie selbst in den Fokus rückt: sehr schlimme Dinge werden geschehen und es gibt nichts, was man dagegen tun kann. Natürlich hat DiCaprios Figur hier noch einen weiteren Antagonisten, nämlich seine eigene Unzulänglichkeit, sein Mangel an Selbstvertrauen und sein Übermaß an Selbstmitleid. Doch auch das sind negative Kräfte am Werk.

Eine dritte Möglichkeit sind personifizierte Wesen, die eine quasi-menschliche Qualität erhalten, weil gegen sie gekämpft wird und ihnen eine Agenda unterstellt wird. Also etwa der weiße Hai in Jaws oder Hal 9000 in 2001: A Space Odyssey.

5. Der Antagonist und die persönliche Hölle

Ein wirkliches Traumpaar erschaffst du nur, wenn der Antagonist deinen Protagonisten bis vor die Tore seiner persönlichen Hölle treibt. Was ist damit gemeint?

Darth Vader hat nicht nur Lukes Vater getötet, wie in Episode 4 behauptet wird. Er ist Lukes Vater oder das, was von ihm übrig ist. Also muss Luke seinen Vater töten, will er den Imperator stoppen. So kommt es nicht, wie wir alle wissen, und dennoch: Darth Vader ist nicht einfach nur ein Sith. Er verkörpert Lukes Zukunft, wenn dieser dem Imperator nicht widerstehen kann. Ohne diesen wohl größten Plottwist aller Zeiten wäre Darth Vader nicht halb so ikonisch geworden wie er es wurde.

Denn damit schickt Vader Luke in die tiefsten Tiefen. In die Verzweiflung. Erinner dich an das Ende von The Empire Strikes Back: Luke hat eine Hand verloren, erfahren, dass sein Vater der dunkle Lord ist und Han Solo wurde in Carbonit eingefroren. Näher kommt ein Held der Hölle nicht.

Nicht immer fällt es leicht, diese persönliche Hölle für den Helden zu identifizieren. Ein Polizist, der um die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung bemüht ist, wird in einem Verbrecher mitsamt dessen Unrecht und Unordnung einen netten Antagonisten finden. Aber das genügt nicht.

Das bloße Gegenteil ist zu naheliegend, zu gewöhnlich. Ein solcher Antagonist bringt den Protagonisten niemals vor die Tore seiner persönlichen Hölle. Jemand, der etwas Illegales tut, ist noch lang kein Verbrecher. Jemand, der ein Verbrecher ist, ist noch lange nicht das personifizierte Böse. Denn was wäre das für unseren rechtschaffenen Polizisten? Jemand, der Recht und Ordnung nicht nur verletzt, sondern abschafft, ad adsurdum führt. Also ein korrupter Richter oder Politiker. Jemand, mit Macht. Jemand, der das, wofür der Polizist kämpft, nicht nur bedroht, sondern aufzulösen vermag.

6. Zusammenfassung

  • Ohne Antagonist keine Geschichte
  • Antagonist und Protagonist müssen einander brauchen, sich gegenseitig rechtfertigen
  • Ihre Eigenschaften sind oft einander entgegengesetzt, passen wie Schloß und Schlüssel, stehen zueinander in Beziehung
  • Übermächtig ist stets nur der Antagonist, der Protagonist hat Schwächen, die mit dem Antagonisten in Verbindung stehen
  • Der Antagonist ist eine Kraft, die viele Formen annehmen kann
  • Der Antagonist ist und will nicht bloß das Gegenteil des Protagonisten, sondern führt ihn direkt zu dessen persönlicher Hölle

[1] Joseph Campbell (1949). The Hero with a Thousand Faces.

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Ein sehr guter Text Prosa

Wie man eine weibliche Figur schreibt

Die Welt der Geschichten ist voll von starken Männern und verletzlichen Träumern, kindischen Helden und großväterlichen Sturköpfen. Vielleicht weil Männer gerne männliche Charaktere schreiben, vielleicht weil man Frauen nicht mal in der Fiktion zutraut, ein Schwert zu schwingen. Das hat zur Folge, dass dem angehenden Schriftsteller im Rahmen seiner Ausbildung kaum gelungene Beispiele für das Schreiben einer weiblichen Figur begegnen.

Denn seine Ausbildung besteht vor allem aus Lesen, dem Lesen der Klassiker. Damit nicht schon wieder eine Generation von Autoren heranreift, die dem Entwurf weiblicher Figuren reserviert entgegentritt, verrät dieser Artikel das wohlbehütete Geheimnis, um mühelos grandiose weibliche Figuren zu entwickeln. Doch zunächst ein Blick auf einige absolute No-Gos.

1. Bestehst du den Bechdel-Test?

Der sogenannte Bechdel-Test funktioniert folgendermaßen: Reden in deiner Geschichte zwei Frauen miteinander? Sehr gut. Reden sie über etwas anderes als einen Mann und ist die Unterhaltung trotzdem relevant? Dann hast du ihn bestanden, Glückwunsch! Leider ist das selten der Fall. Denken wir an Der Herr der Ringe. Dort gibt es zwar starke (und gut geschriebene) weibliche Figuren. Galadriel, Arwen, Eowyn – doch diese Figuren reden nie miteinander und auch nicht mit anderen Frauen. Wenn sie es täten, würden sie wahrscheinlich über Aragorn, Frodo oder Sauron reden.

Ist Der Herr der Ringe deshalb ein schlechter Film? Nein. Ist es eine moralisch fragwürdige Geschichte? Nein. Sollte Tolkien nachträglich gecancelt werden? Gewiss nicht. Der Bechdel-Test funktioniert nicht auf der Ebene des einzelnen Films oder Buchs. Es gibt Geschichten, in denen nur eine einzige Frau vorkommt, diese aber die Hauptfigur ist – laut Bechdel-Test würde eine solche Story durchfallen. Und wenn man nun mal eine Geschichte über die Rekrutenausbildung im Japan zur Zeit des Kaiserreichs schreibt, werden in der Kaserne keine Frauen zugegen sein.

Aber auf Makroebene ergibt der Bechdel-Test durchaus Sinn. Hier zeigt er an, wie wenig Geschichten erzählt werden, in denen die Perspektive von Frauen relevant ist. Wenn 15 von 20 oscargekrönten Filmen durchfallen, könnte man im 21. Jahrhundert schon mal die Frage stellen, wieso eigentlich.

Für dich spielt der Bechdel-Test beim Schreiben einer weiblichen Figur oder deiner Geschichte an sich also nur insofern eine Rolle, als du mit ihm hinterfragen kannst, ob du unbewusst alten Vorstellungen gefolgt bist oder eine gewisse Vermeidungstaktik fährst, wenn es um weibliche Figuren geht. Wichtiger für die einzelne Geschichte ist der sogenannte Bauer-Test (hehe).

2. Der Bauer-Test

Um den Bauer-Test zu bestehen, muss deine Geschichte folgende Frage mit einem herzhaften Nein beantworten: Gerät dein Held im Laufe der Geschichte mit einer ihm nahestehenden weiblichen Person in Konflikt, die in der Folge ein Hindernis für das Erreichen seines Ziels darstellt? Ich hoffe nicht. Denn falls doch: Klischeealarm. Und Gähn. Und vermutlich auch: Sexismus.

Wie du als aufmerksamer Leser meines Blogs sicher weißt, hat Moral beim Schreiben für mich nichts verloren. Aber der Bauer-Test hat durchaus moralische Relevanz. Warum zur Hölle können sich Autoren die Frau, Mutter oder Tochter des Helden nur als emotionale, moralisch sensible Mahnerin und Nörglerin vorstellen, die die Probleme des Helden verschärft? Snowden, Breaking Bad (Skylar White), Sicario (hier gibt es keine emotionale Verbindung, aber natürlich ist die moralische Instanz eine Frau), Werk ohne Autor, The Mule, Batman (alle) – man muss nicht einmal ins 20. Jahrhundert ins zurückreisen, um dauernd mit dieser Beziehung zwischen Held und weiblicher Figur konfrontiert zu werden. Sind Frauen für uns immer noch Brutstätte der Hysterie? Verhinderer männlicher Größe?

Doch lassen wir die Moral beiseite. Es macht nicht einmal Spaß! Ab einem gewissen Punkt wurde jede Szene mit Skylar White nervtötend (grandios gespielt von Anna Gunn). Streicht man Emily Blunts Figur aus Sicario ändert das nichts an der Geschichte. Kein einziges Mal tut sie etwas von Belang. Sie versucht, mahnt, will eingreifen, aber wird nur zur Seite geschoben. Bis man selbst als Zuschauer denkt: Genug von dem Moralgesülze, lasst uns Kartellleute killen.

Der Bauer-Test ist also auch auf der Mikroebene relevant und damit für dich als Autorin. Denn er bewahrt dich vor einem der ältesten und langweiligsten Klischees des Storytellings. Mach eine ihm nahestehende Frau nicht zum Hindernis deines Helden. Lass vor allem ihre emotionalen Bedürfnisse nicht zu seinem Problem werden.

Wie immer gilt: Es gibt Ausnahmen. Schreibst du ein Drama über eine Beziehung zwischen Drogensüchtigen, sind sich die beiden natürlich gegenseitig ein Hindernis. Aber auch dann: Lass nicht die Frau das Hindernis sein. Lass die mangelnde Einsicht der beiden, dass ihre Beziehung sie daran hindert, clean zu werden, das Hindernis sein. Kurzum: Gib dir Mühe. Sei kein fauler Autor. Davon gibt es genug.

3. Das Geheimnis, um eine grandiose weibliche Figur zu schreiben

Nun aber zum versprochenen Geheimnis. Hast du es einmal verstanden, wirst du nie wieder Schwierigkeiten haben. Also: Wie schreibt man eine grandiose weibliche Figur?

In dem man es nicht tut.

Schreibe eine Figur. Entscheide anschließend, welches Geschlecht sie haben soll.

Legst du zuerst das Geschlecht fest, wirst du Klischees und Vorurteilen in die Falle gehen. Und warum sollte man sich festlegen? Weil der Held auf jeden Fall heterosexuell ist? Weil man unbedingt eine weibliche Figur braucht oder noch eine (siehe Bechdel-Test)? Das ist alles Unsinn. Schreib grandiose Figuren. Mit Verletzungen, beispiellosen Charaktereinführungen, die alle etwas riskieren. Dann wirst du währenddessen auf Eigenschaften treffen, die mit dem einen oder dem anderen Geschlecht mehr Sinn ergeben oder reizvoller sind. Aber setz dich niemals an den Schreibtisch, um einen weiblichen Charakter an sich zu schreiben.

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Talking Story

Wolfgang Borchert: Die Küchenuhr [Analyse]

[Massive Spoiler voraus]

Wolfgang Borcherts Kurzgeschichten gehören zu dem Besten, das die deutsche Nachkriegsliteratur hervorgebracht hat. Daher ist von ihnen viel für das eigene Schreiben zu lernen. Im ersten Teil meiner Serie widme ich mich daher einer seiner bekanntesten Erzählungen Die Küchenuhr und versuche mich an einer Analyse. Dem geneigten Leser sei vorab die eigenständige Lektüre des Textes ans Herz gelegt.

1. Der Protagonist

Borcherts Protagonist in Die Küchenuhr ist der mit dem alten Gesicht, dessen Gang allein verrät, dass er erst zwanzig ist. Diese Diskrepanz lässt ihn auffallen, schon von Weitem. Doch welche Diskrepanz ist das eigentlich: Die zwischen seinem Gesicht, als Körperteil, und seinem Gang? Oder zwischen seinem Selbst, etwas Innerem also, und seinem Äußerem?

Die Antwort fällt leichter, wenn man sich dem zweiten Protagonisten zuwendet – der namensgebenden Küchenuhr. Der Protagonist trägt sie mit sich und zeigt sie stolz herum. Obwohl sie nix besonderes ist und auch überhaupt nicht mehr funktioniert:

Innerlich ist sie kaputt, das steht fest. Aber sie sieht noch aus wie immer. Auch wenn sie nicht mehr geht.

Wolfgang Borchert, Die Küchenuhr

Der zitierte Satz ist eine frühe Parallelisierung zwischen Protagonist und Küchenuhr. Auch der Protagonist selbst ist innerlich kaputt, geht nicht mehr, sieht aber sonst noch aus wie immer. Von seinem Gesicht abgesehen, das so alt aussieht, weil sich in ihm das Innere zeigt. Diese Parallelisierung wird später noch wichtig sein.

2. Die Bomben

Die Küchenuhr ist um halb drei stehengeblieben. Wegen der Bomben, sagt einer der Zuhörer, die dann wohl um halb drei fielen. Wenn sie explodieren, zerstört der Druck das Uhrwerk. Doch der Protagonist weiß es besser:

Nein, lieber Herr, nein, da irren Sie sie sich. Das hat mit den Bomben nichts zu tun. Sie müssen nicht immer von Bomben reden.

Wolfgang Borchert, Die Küchenuhr

Natürlich hat alles mit den Bomben zu tun. Der Verlust des Protagonisten, die versammelte Meute auf der Bank, das Elend, die stehengebliebene Uhr. Ohne die Bomben wäre all das nicht passiert. Aber der Protagonist will nichts davon wissen, hat den Krieg selbst schon verdrängt. Für ihn scheint es Schicksal gewesen zu sein oder ein „Witz“, dass die Uhr „ausgerechnet“ um halb drei stehenblieb. Wir wissen es besser: Als er mit seiner Mutter in der Küche saß, wie jede Nacht um halb drei, müssen die Bomben gefallen sein.

3. Die Personifizierung der Küchenuhr

Doch als die Küchenuhr stehen- und übrig blieb, blieb auch der Protagonist stehen und übrig. Nun ist er nicht länger in der Lage, das Gesamtbild des Krieges zu sehen oder sich dem traumatischen Erlebnis zuzuwenden. Er lächelt beim Erzählen, negiert die Rolle der Bomben. Die bereits angesprochene Parallelisierung zwischen Küchenuhr und Protagonist geht daher weit über ein kaputtes Innenleben hinaus.

Die Parallelisierung unterstreicht Borchert auch sprachlich. Die Küchenuhr hat ein „Gesicht“, ist „innerlich kaputt“. Mit dieser Personifizierung erlaubt Borchert dem Leser einerseits einen Rückbezug, wirft die Frage auf, warum die Küchenuhr personifiziert ist. Andererseits betont er die Merkwürdigkeit der Beziehung zwischen Protagonist und Küchenuhr, die offenbar nicht bloß ein Erinnerungsstück ist.

Sofern sich der Protagonist in der Küchenuhr selbst wahrnimmt, muss er sie hüten wie einen Schatz und sich einreden, dass sie ja noch aussehe wie immer. Und dass es eine Bedeutung hat, dass sie ausgerechnet um halb drei stehenblieb, dass also auch mit ihm noch etwas anzufangen, sein Leben nicht sinnlos geworden ist.

4. Das Paradies

Und natürlich ist die Küchenuhr auch ganz profan ein Erinnerungsstück. Ein Portal in eine heile Vergangenheit. Diese Vergangenheit, ebenfalls ganz profan, bestehend aus einer fürsorglichen Mutter und einem Job im Schichtdienst (er kam immer um halb drei nach Hause), ist ihm jetzt das Paradies geworden. Das unterstreicht die Traumatisierung des Protagonisten und erhöht zugleich den Wert der Küchenuhr. Mit ihr und seiner Sicht auf sie kann er sich noch eine Weile an das Leben klammern, das für immer dahin ist und muss der Sinnlosigkeit seines Verlustes nicht ins Auge sehen.

Seine Gesprächspartner sind offenbar schon einen Schritt weiter: Was das Paradies sein soll, können sie nicht recht fassen. Einer von ihnen denkt „immerzu an das Wort Paradies“. Seine Bedeutung ist ihm schon abhandengekommen.

5. Takeaways

  • Sieh tiefer in deine und fremde Geschichten. Sie sind und sollten komplexer sein, als es auf den ersten Blick scheint.
  • Halte nach Parallelen Ausschau: Zwischen dem Protagonist und seinem Ziel, dem Antagonist, dem Mittel, dem Mittel und dem Ziel, der Verletzung deines Protagonisten und dem Antagonisten.
  • Nutze die Möglichkeiten der Sprache, um gewissen Elemente deiner Geschichte zu betonen und hervorzuheben.

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Talking Story

Better Call Saul [Analyse]

[Massive Spoiler voraus]

Natürlich: Wir liebten Breaking Bad. Wir liebten Saul Goodmann (Bob Odenkirk) und Mike Ehrmanntraut (Jonathan Banks), und sind froh, weiterhin in deren Universum flüchten zu können. Aber Better Call Saul ist nicht bloß ein Nostalgietrip oder ein Prequel, das allein von der mysteriösen Vorgeschichte seines Protagonisten lebt (siehe Star Wars). Neben den grandiosen Nebenfiguren wie Chuck und Lalo Salamanca überzeugt die Serie vor allem durch die Inszenierung der Expertise ihrer Protagonisten.

Jimmy zuzusehen, ist eine helle Freude

Jimmy McGill bzw. Saul Goodman ist eine Mischung aus skrupellosem Trickster und genialem Rhetoriker. Um einen Fall zu gewinnen, studiert er keine Gesetzestexte. Er manipuliert, erfindet, inszeniert. Das ist an sich schon die interessantere Werkzeugwahl für eine Geschichte. Aber Jimmy ist nicht einfach nur gut darin. Er ist begnadet. Ihm fallen Dinge ein, auf die Normalsterbliche nicht kommen würden. Und in brenzligen Situation schafft er es immer wieder, sich irgendwie herauszureden.

Das führt zu den besten Momenten der Serie: die Skaterjungs in der Wüste, die Abzockerei in der Bar, die Verhandlung mit Chuck.

Vergleichen wir diese Szenen mit der Episode in der Wüste ohne Wasser, wird schnell klar, dass sie nicht ansatzweise mithalten kann. Obwohl hier das Leben gleich zweier geliebter Figuren auf dem Spiel steht und Jimmy alle Leidensgrenzen einreißt. Warum?

Lass deinen Held brillieren

Weil weder Mike noch Jimmy etwas tun, das sie sehr gut beherrschen. Sie durchqueren die Wüste. Trinken Urin. Okay. Aber weder performt Jimmy eine seiner grandiosen Ansprachen oder zaubert ein letztes Ass aus dem Ärmel noch ist Mike mit allen Wassern gewaschen und lehrt die Möchtegerngangster das Fürchten. Sie setzten einfach nur einen Fuß vor den anderen. Erst ganz am Ende kommen sie wieder ins Handeln. Jimmy lenkt die Aufmerksamkeit des Verfolgers auf sich, Mike erledigt in per Scharfschützengewehr. Aber verglichen mit ihren sonstigen Großtaten, ist das geradezu banal.

Betrachten wir Mikes Figur, wird auch hier deutlich, wie sehr er die Serie an sich zieht, wenn er etwas von seinem Können zum Besten gibt: Mr. X‘ Blamage im Parkhaus, sein Anschlag auf den Kurierfahrer in der Wüste, seine Rache an den korrupten Cops.

Nimm ihm alles, dann gib ihm ein großes Talent

Oft lesen wir, dass es einen aktiven Helden braucht, um die Geschichte lebendig zu halten. Das stimmt (Ausnahme: der Antiheld), aber Aktivität allein macht deinen Helden nicht zur Ikone. Umgekehrt ist ein Held, der alles kann und dem alles gelingt, nicht sonderlich spannend (Rey in Star Wars: Das Erwachen der Macht zum Beispiel) oder sympathisch. Werfen wir daher einen Blick auf Jimmys Talent und seine Mängel.

Jimmy McGill sucht die Anerkennung seines Bruders, will ein angesehener Anwalt werden wie er und reißt sich dafür den Hintern auf. Fernstudium nach Feierabend, Hilfsarbeiterjob am Tag, den ihm sein gnädiger Bruder verschafft hat. Angekommen im Anwalt-Olymp, passt sein Kaffeebecher nicht in den Getränkehalter des schicken Firmenwagens. Und Jimmy nicht in den gut bezahlten Kanzlei-Alltag. Wir erinnern uns: er ist ein Trickster, ein rhetorisches Genie. Doch bei Davis & Main hält man sich ans Protokoll.

Jimmy hat daher von Anfang an keine Chance auf die Karriere, die er anstrebt. Dennoch versucht er es. Und tut, was er am besten kann: manipulieren, tricksen. Das bringt ihn erst recht in die Bredouille.

Jimmy hat also einen gravierenden Fehler. Er ist unfähig, sich anzupassen und sich Regeln unterzuordnen. Gleichzeitig hat er ein herausragendes Talent: Jenseits der Regeln für sich und seine Klienten zu kämpfen. Erst durch den Mangel gewinnt die Darstellung seines Könnens an der nötigen Höhe. Gegen alle Wahrscheinlichkeit versucht Jimmy, seinen Weg zu gehen. Und wie der geneigte Leser sich bemerkt hat: Sein Mangel bedingt sein herausragendes Talent und umgekehrt. Das ist hohe Plotkunst.

Die Lösung besteht darin, sein Wesen anzuerkennen und nicht länger zu versuchen, ihm zu entkommen, um anderen (vor allem Chuck) zu gefallen. Jimmy muss Saul Goodman werden, um seinen Mangel zu überwinden, ohne sein Talent aufzugeben. Erneut: grandioses Plotting.

Das Talent treibt den Plot

Jenseits der puren Freude, ein herausragendes Talent eines ansonsten gebeutelten Charakters zu bestaunen, treibt dieses Talent also auch den Plot voran. Mike Ehrmanntraut kann für seine Familie sorgen, weil er kriminelle Aufträge übernimmt und mit Bravour erledigt. Diese Verstrickung in Kriminalität treibt jedoch einen Keil zwischen ihn und seine Familie, er wird zum Auftragsmörder, seine Familie wird bedroht.

Und schließlich gelingt Better Call Saul so auch auf der handwerklichen Ebene des Storytellings der Anschluss an Breaking Bad. War es nicht schon eine Freude, Walter White dabei zuzusehen, wie er seine Intelligenz und seine überragenden chemischen Kenntnise einsetzte, um sich seiner Feinde zu entledigen?

Takeaways

  • Lass deine Figuren in irgendetwas sehr, sehr gut sein. So gut, dass du nach der dafür notwendigen Recherche selbst ein kleiner Experte in dem Gebiet geworden bist.
  • Gib ihnen die Gelegenheit, das zu demonstrieren
  • Lass sie nicht in allem gut sein
  • Gib ihnen gravierende Mängel
  • Lass sie nicht gewinnen, ohne auf dieses herausragende Talent zurückzugreifen

Manche Dinge müssen einfach gesagt werden. Das macht es dir als Autorin mitunter leichter. Aber manchmal auch verdammt schwer. Denn gute Dialoge zu schreiben, will gelernt sein. In diesem Artikel erfährst du alles über die größten Fallstricke beim Verfassen deiner Dialogszenen – und wie du es richtig machst.

1. Realistisch bleiben!

Sich an der Realität zu orientieren, ist auch beim Schreiben von Dialogen ein guter erster Rat. Aber was heißt das konkret? Zunächst einmal solltest du deine Figuren nicht so sprechen lassen, wie du denkst, dass Menschen oder genauer, Menschen ihres Schlages, sprechen. Was das bedeutet? Stell dir vor, wie Stefan Raab sich über Rapper lustig macht: „Ey yo, Bruder, was geht ab, alter! Fetter Scheiß, yo!“ Genau so solltest du deine Rapper nicht sprechen lassen. Das ist klischeebeladen, aber vor allem ist es: unrealistisch. Es reißt den Leser aus der Geschichte.

Stattdessen solltest du dir erstmal Interviews mit Rappern anschauen, Kool Savas hören und ein Rap-Battle auf YouTube anschauen. Dann wirst du schnell merken, dass diese Leute durchaus eine eigene Sprache sprechen. Aber eben keine Stefan-Raab-Fantasiesprache. Sondern ihre, seit Jahrzehnten gewachsene, mit ihrer Kultur verwobene Sprache. Gleiches gilt für jedes andere Milieu: Die Bankentürme in Frankfurt Main, den tiefen Pott der Backsteinsiedlungen oder das Bundeskanzleramt.

Von der generellen Sprache deiner Figuren abgesehen, gibt es noch einen weiteren, sehr beliebten, unrealistischen Fehler beim Dialoge schreiben:

„Hallo Max, wie geht es dir?“
„Ganz gut, Timo, danke.“
„Gehst du heute noch raus, Max?“
„Mal sehen, was Mama sagt, Timo.“

fiktives Beispiel

Du hast es bereits erraten: Lass deine Figuren nicht dauernd ihre Namen sagen. Wir tun das nicht. Im Gegenteil: Psychologen haben herausgefunden, dass wir es sehr mögen und unser Gegenüber sympathisch finden, wenn es oft unseren Namen sagt. Weil es eben nicht der Normalfall ist.

2. Unrealistisch bleiben!

Ha, erwischt! Du dachtest wohl, Dialoge zu verfassen, sei eine einfache, widerspruchslose Angelegenheit. Weit gefehlt. Denn so sehr wir Realismus benötigen, um den Äußerungen unserer Figuren das nötige Maß an Authentizitä und Glaubwürdigkeit zu verleihen, so sehr benötigen wir Unrealismus um die Leser zu interessieren:

„Ja, manchmal ist mir, als ob ich selber hinter mir herliefe. Ich will davon! Vor mir selber davonlaufen. Aber ich kann nicht! Kann mir nicht entkommen. Muss … muss den Weg gehen, den es es mich jagt! Und rennen … rennen, endlose Straßen! Ich will weg, ich will weg! Und mit mir rennen die Gespenster … von Müttern, von Kindern. Die gehen nie mehr weg.

Fritz Lang – „M – Eine Stadt sucht ihren Mörder“

Natürlich würden wir nie so reden. Die Sprache ist hier dem Milieu entsprechend (ein mittelloser Mörder) einfach gehalten, aber deswegen nicht weniger gemacht. Sie bedient sich eines eindrücklichen Bildes, das sie mit betörender Effektivität ausführt. Aber wann reden wir schon in Bildern? Doch erst recht nicht vor einem wütendem Mob. Und überhaupt, wer sollte uns dabei zuhören?

Aber das ist ja gerade der Trick: Der Leser hört zu. Das verschafft dir als Autor die Freiheit, auszuholen. Und nimmt dich in die Pflicht, nicht bei der Realität stehenzubleiben, sondern zu konstruieren, zu modellieren, zu erschaffen.

Der Gradmesser für eine gesunde Portion Unrealismus sind die mitgehörten, halböffentlichen Gespräche im Café, in der S-Bahn oder auf dem Büroflur: Selbst wenn jemand bei einer solchen Gelegenheit etwas wirklich Spannendes erzählt, würden wir das so nicht drucken wollen. Es ist zu inkonsistent, zu wirr, zu sehr Rohmaterial.

Was nicht heißt, dass gute Dialoge nicht wirr und roh sein können. Durchaus. Aber eben an den richtigen Stellen, im richtigen Maß, mit gutem Grund – also weil du als Autorin sie so konstruiert hast.

3. Figuren spracclich unterscheiden

„Voll krass.“
„Ja, mega.“
„Shit, da hinten kommt Herr Opitz!“
„Na, Kids? Mega Wetter, oder?“

fiktives Beispiel

Es gibt sie nicht nur im Dialog, aber hier tritt sie direkt und schonungslos zutage: die Stimme deiner Figuren. Je nach Alter, Milieu, Geschlecht, Träumen, Ängsten und vielem mehr sprechen sie mit einer anderen Stimme. Und zwar ausnahmlos, jede einzelne Figur. Denn auch wenn die Kassiererin an der gotttverlassenen Tankstelle irgendwo im ausgedörrten Hinterland nur eine Zeile Text hat, ist sie ein Individuum mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Sie kann nicht so sprechen wie der Mathematik-Professor, der sich zu ihr an die Theke verirrt hat.

Gleiches gilt für Herrn Opitz. Der offenbar deutlich älter als die beiden Jugendlichen ist, und in irgendeinem Sinne eine Autoritätsperson. Der einzige plausible Grund, ihn hier so sprechen zu lassen, wie die ihm unterstellten Kinder, ist eine ausgeprägte Midlife Crisis. Das wäre dann guter Dialog. Sonst ist es falsch.

4. Bescheidene Inquits verwenden

Ein Inquit, das ist eine die wörtliche Rede begleitende Formel. Bei Dialogen sind Inquits also gezwungenermaßen allgegenwärtig. Etwa bei: „Du spinnst doch“, sagte er. Doch Autoren lieben das Ausschweifende. Das Üppige. Deshalb lassen sie sich oft dazu verleiten, auf den schmalen Schultern der Inquits tonnenweise Ballast abzuwerfen. Das sieht dann schnell so aus:

„Ich kann nicht glauben, dass du das gerade gesagt hast“, stellte sie mit hochrotem Kopf fest.
„Hab ich aber!“, donnerte Hans trotzig.
„Du machst es nicht besser“, jaulte sie beinahe wehleidig.

fiktives Beispiel

Überfrachtete Inquits in jeder Zeile. Das Tückische an diesen Inquits ist, dass sie dem Gesagten die Kraft nehmen. Sie ziehen die Aufmerksamkeit des Lesers auf sich. Und sind, in all ihrer Deutlichkeit, dabei streng genommen Fälle von Infodump und/oder des berühmten „Show, don’t tell“. Denn dass Jack hier trotzig donnert, hat der Dialog schon gezeigt – „Hab ich aber!“ ist eine wunderbar kindisch-trotzige Zeile. Die wird hier nun aber einkassiert, beschnitten, für nebensächlich erklärt.

Dabei verstoßen diese Inquits auch gegen ein Grundgebot des Erzählens: Überfrachte den Leser nicht mit Eindrücken. Er kommt sonst nicht mit. Und, noch schlimmer: Es entstehen keine Bilder in seinem Kopf. Wie es anders geht, zeigt die redigierte Version des Dialogs:

„Ich kann nicht glauben, dass du das gerade gesagt hast.“ Ihr Gesicht lief rot an.
„Hab ich aber!“, brüllte Hans. Die kleinen Arme hatte er in die Hüften gestemmt.
„Du machst es nicht besser.“

fiktives Beispiel

Das ist natürlich keine Hochliteratur, aber auf einmal doch Literatur. Durch das Kürzen der Inquits kriegt der Dialog Platz zum Atmen. Verloren geht dabei nichts. Und du als Autor gewinnst Raum zur Entfaltung: die kleinen, in die Hüften gestemmten Arme – das ist ein Bild! Der trotzig donnernde Hans ist keins.

Es gibt noch eine weitere Besonderheit bei Inquits. In ihrer guten, bescheidenen Form (sagte sie, flüsterte er, wurde er gefragt) können sie trotzdem noch grundfalsch daherkommen. Nämlich dann, wenn du als Autorin allzu kreativ wirst. Also den durch die Kürzung gewonnenen Platz gleich wieder breitbeinig mit den Inquits besetzen willst: donnerte Hans, lachte sie, ließ er sie wissen.

Hier werden Verben benutzt, die die Handlung (jemand sagt etwas) allzu blümerant ausdrücken, also ebenfalls ganz viel Bedeutung mitbringen, die a) stört, siehe oben oder b) keinen Sinn ergibt. Oder hast du schon mal einen Satz gelacht? Eine Antwort genickt („Das geht“, nickte sie)? Ich fürchte nein.

Wie aber soll man das dann machen, die Sache mit den Inquits? Ganz einfach, zum Beispiel so:

Dann hörte der Motor auf zu brummen, und draußen schrie eine Stimme: „Die Toten hierhin, habt ihr Tote dabei?“
„Verflucht“, rief der Fahrer zurück, „verdunkelt ihr schon nicht mehr?“
„Da nützt kein Verdunkeln mehr, wenn die ganze Stadt wie eine Fackel brennt“, schrie die fremde Stimme. „Ob ihr Tote habt, habe ich gefragt!“
„Weiß nicht.“
„Die Toten hierhin, hörst du? Und die anderen die Treppen hinauf in den Zeichensaal, verstehst du?“
„Ja, ja.“
Aber ich war noch nicht tot, ich gehörte zu den anderen, und sie trugen mich die Treppe hinauf.

Heinrich Böll – „Wanderer, kommst du nach Spa …“

Rief, schrie, und oftmals auch einfach gar kein Inquit. So einfach kann es sein. Und doch so gehaltvoll. Der Trick ist: Vertraue deinen Worten und vertraue deinen Lesern. Wenn es gut geschrieben ist, wird es verstanden werden. Wenn es nicht gut geschrieben ist, werden aufgeschwemmte Inquits es nicht retten.

5. Nutze Beschreibungen

Dialoge können ein Feuerwerk sein. Knall, Boom, Peng! Dann braucht es kaum mehr als die Dialogzeilen selbst. Doch dafür bedarf es bestimmter Voraussetzungen. Vor allem muss hinreichend klar sein, wer spricht. Und wer bedeutet in dem Fall nicht nur, welche Figur, sondern auch, wer diese Figur ist. Ist das noch nicht etabliert, sind Beschreibungen zwischen den Dialogzeilen eine hervorragende Möglichkeit, die Figur zu charakterisieren:

„Und ihre Mutter, was tat ihre Mutter in solchen Situationen?“
Da war eine Macke im Linoleum-Boden, eine dicke, schwarze Macke, Jürgen konnte sie von seinem Platz aus deutlich sehen.
„Sie weinte.“
„Machte es das schlimmer?“
„Lauter. Es war ein lautes Weinen.“ Am liebsten hätte er eine Walnuss darin verrieben, farblich hätte das gepasst und sich mit der Zeit festgetreten. Vielleicht sollte er nächstes Mal eine mitbringen.
„Gibt es etwas, das Sie sich in diesen Momenten von ihr gewünscht hätten?“ Jürgen sah auf.
„Ja, ich … das Küchenmesser.“

fiktives Beispiel

Das könnte der Anfang eines Romans sein. Natürlich trägt hier der Dialog, vor allem die Fragen des Gegenübers, die inhaltliche Hauptlast. Aber die Beschreibungen charakterisieren Jürgen, etwas, das die Dialogzeilen selbst nicht leisten können. Und so beginnt der Leser sich für Jürgen zu interessieren. Nicht allein deshalb, weil er offenbar eine schlimme Kindheit hatte. Schlimme Kindheiten gibt es viele. Aber diese eine hier, Jürgens schlimme Kindheit, die Kindheit des Mannes, der sich Gedanken über eine Macke im Linoleum macht, während er darüber ausgefragt wird – die ist interessant.

Was für Figuren gilt, gilt natürlich auch für die Welt deiner Geschichte. Auch sie kann in eingeschobenen Beschreibungen beiläufig während deines Dialogs charakterisiert werden.

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Beginne mit einer Verletzung

Jede große und kleine Geschichte ist im Kern auf eine Verletzung des Helden zurückzuführen.

Der Drachentöter Siegfried! Die Ferse Achilles!

Große Helden haben eine Schwäche, einen Mangel. Dieser Mangel ist die Folge einer Verletzung: Achilles ist das Kind einer Göttin und eines Sterblichen. Deshalb taucht ihn seine Mutter in den Styx, ihn von der Sterblichkeit zu befreien. Hält ihn dabei an der Ferse fest.

Aber in der Verletzung liegt meist auch eine Chance: zu wachsen, zu reifen, oder ihren Effekt gar als Waffe einzusetzen (Siegfried ist quasi unverwundbar).

Eine gelungene Story wird daher eine solche Verletzung beinhalten und daraus den Charakter ihres Helden bestimmen: Nemos Vater hat seine Frau und all seine Kinder verloren, 999. Das ist seine Verletzung. Deshalb ist er ein Helikopter-Vater (das ist der Effekt). Deshalb wagt sich Nemo zu weit raus und wird entführt (da beginnt der Plot).

Wäre er einfach nur ein Helikopter-Vater – wen würde das interessieren? Aber die Verletzung erklärt sein Verhalten und macht die Sache für uns Zuschauer relevant.

Ein Beispiel:

Luke Skywalker träumt von großen Abenteuern, davon Pilot zu werden, aber muss mit seinen Zieheltern leben und auf deren Farm nach dem Rechten sehen (denkt er). Was fehlt ihm? Glaube an sich selbst! An Möglichkeiten, die es gibt, die es für ihn gibt.
Wir wissen nicht genau, was der Grund für diesen Mangel ist. Das ist nicht immer wichtig, oft genügen Andeutungen, aber irgendetwas hat ihm diese Überzeugung genommen.

Er trifft schließlich Obi-Wan, seine Zieheltern werden ermordet und das Abenteuer ruft nach ihm. So brutal das klingt: Seine Zieheltern mussten sterben, denn andernfalls wäre er dem Ruf des Abenteuers nie gefolgt. Zu störrisch, zu verbohrt, zu ungläubig ist er.
Dann erfährt er von seinem Vater, lernt erste Dinge bezüglich der Macht, bleibt aber recht distanziert dazu.
Und was passiert, als er im großen Finale den Todesstern zerstört? Er verzichtet auf den Computer, mit dem alle Piloten vor ihm gescheitert sind, und vertraut auf die Macht. Boom!

Die Macht des Star-Wars-Universums ist am Ende Lukes eigener, im Vergleich winziger Charakterbogen ins Große projiziert: Luke fehlt der Glaube an sich und die Welt. Allerdings gibt es etwas in ihm, mit dem er alle seine Träume von Abenteuern und Bedeutung erfüllen kann. Der Haken: Um es einzusetzen, muss er, naja, daran glauben und von sich überzeugt sein.

Was ist die dunkle Seite der Macht? Nicht daran glauben, nicht an sich, an das Gute, und daher den einfachen, schnellen Weg wählen. Letztlich lässt sich also die gesamte Story von Krieg der Sterne auf die Verletzung, und den daraus resultierenden Mangel des Helden Luke Skywalker zurückführen – das ist grandios geplottet.

Wenn eine Geschichte nicht recht funktioniert, frage dich daher, ob folgendes darin enthalten ist: Ein Held, der eine Verletzung hat, die ihn von seinem Ziel abhält, weil er sich aufgrund dieser Verletzung so und so verhält, der diese Verletzung aber heilen kann im Laufe des Abenteuers, und dann, deshalb!, auch sein Ziel erreicht.

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Ein sehr guter Text Kurzgeschichten 101

Kurzgeschichte 101: Welche Charaktere sind erlaubt?

Sam starrte auf die Fersen seines Kontrahenten. Dessen dämliche Rückennummer, die 7, flackerte im aufkommenden Seitenwind. Sams Nummer, die 113 oder die 131, sie wechselte jedes Mal, klebte noch immer fest an seinem Rücken. Vielleicht ist das ein Vorteil, dachte Sam. Vielleicht gleicht das die langen Haare aus, die er zu einem Zopf zusammengebunden hatte und die alles andere als windschnittig waren.

Am Streckenrand brutzelte Heiner Rostbratwürstchen über Holzkohle. Der Duft erinnerte Heiner an seine Kindheit auf dem Lande. Dem Rennen schenkte er keine Aufmerksamkeit. Für ihn ging es darum, die Würstchen gleichmäßig zu bräunen, ohne sie platzen zu lassen. Er war ein einfacher Kerl mit einfachen Würstchen.

Als sie um die Kurve bogen, begang Sam seinen ersten Fehler. Er blickte auf, gen Horizont, und sah den Heartbreak Hill in seiner ganzen furchteinflößenden Länge dahinter verschwinden. Die 7 beschleunigte. Jetzt muss ich mithalten, dachte Sam und in seinem Kopf hallte das Bild des nicht enden wollenden Hügels nach wie ein Alptraum am Morgen.

Der Abstand zwischen der 7 und Sam wuchs an. Sams Waden schmerzten. Noch immer starrte er gen Horizont als erwarte er die Ankunft der rettenden Marine. Dann löste sich die Rückennummer seines Kontrahenten, wirbelte auf und landete feucht und weich in seinem Gesicht. Sam riss sich den Fetzen von den Augen.
Heiner biss in eine Wurst, dass das Fett an seinen Mundwinkeln herausspritzte. Bald würde Fußball kommen, und er erhöhte die Lautstärke des Radios.
Sam aber heftete seinen Blick wieder an die Fersen seines Kontrahenten. Was kümmert es mich, dass er immer mit der 7 aufkreuzt, dachte er. Was kümmert mich meine 113 oder 311. Da kamen die Hacken näher und der Seitenwind legte sich hinter Sams Rücken.

(fiktives Beispiel)

In dieser beispielhaften Kurzgeschichte geht es um Sam, der ein Rennen gewinnen will, aber vom Status seines Kontrahenten zu beeindruckt ist. Erst als dessen einstellige Rückennummer abreißt, wird Sam klar, dass er selbst alles mitbringt, um zu gewinnen. Und dann ist da noch Heiner, der am Streckenrand Würstchen grillt und sich auf Fußball freut.

Die Kurzgeschichte hat also drei Charaktere: Sam, Nummer 7 und Heiner. Sam ist der Protagonist, Nummer 7 der Antagonist. Was aber ist Heiner? Heiner erlebt seine eigene Geschichte. Seine Würstchen haben nichts mit dem Rennen zu tun, er scheint nur zufällig seinen Grill am Streckenrand angeheizt zu haben. Das ist völlig in Ordnung, wenn du in deiner Geschichte zwei Geschichten erzählen willst. Aber in einer Kurzgeschichte ist dafür kein Platz. Jeder Charakter muss die eine Geschichte vorantreiben, die du erzählen willst. Tut er das nicht, ist er entbehrlich und sollte gestrichen werden. Einen schönen umgekehrten Test bietet die Frage nach dem Risiko, das die Figuren eingehen. Haben sie keines, solltest du sie genauer unter die Lupe nehmen.

Personen sind keine Figuren

Das gilt natürlich nicht für Figuren, die als Teil der Szenerie beschrieben werden:

Ich sprach mit niemandem, wenn ich Bus fuhr. Nicht mit der Oma, die vorne neben dem Busfahrer saß und ihre Handtasche auf ihrem Schoß trug. Nicht mit dem Araber, der auf sein Handy starrte. Nicht mit den Schulkindern. Aber ich beobachtete sie genau. Und dann, wenn ich den Moment erkannte, stach ich zu. „Bss, Bss“, triumphierte ich.

(fiktives Beispiel)

Hier treten gleich drei Personen auf, die die Handlung nicht vorantreiben, allerdings sind die Worte „Charakter“ oder „Figur“ für diese Personen auch übertrieben: Es sind Statisten, sie bilden den Kontext und die Welt, in der die Geschichte spielt.

Was aber bedeutet Handlung vorantreiben? Es ist ganz einfach: Die Charaktere deiner Kurzgeschichte, die nicht Protagonist oder Antagonist sind, müssen den Fortschritt deines Protagonistens behindern oder befördern. Das ist alles.

Jeder Charakter braucht eine Funktion

Würde Heiner eines seiner Würstchen auf Sam werfen und ihn damit zur Besinnung bringen, könnte er Teil der Geschichte bleiben. Würde er die noch glühenden Kohlen achtlos auf die Strecke werfen und Sam deshalb buchstäblich über glühende Kohlen laufen müssen, um zu gewinnen – Heiner wäre gerettet. So aber bleibt ihm nur der Tod.

Die Anforderung an unsere Charaktere, den Protagonisten auf seinem Weg zum Ziel zu unterstützen oder zu behindern, engt die möglichen Arten von Nebenfiguren ein: Es gibt Mentoren (Obi-Wan Kenobi, Yoda), Helfershelfer des Antagonisten (Boba Fett), mentale Unterstützer (Galadriel im Traum, Obi-Wan als Machtwesen), Torwächter (Balrog, Watto), Geliebte (Arwen, Padme) u. v. m. Was es nicht gibt oder jedenfalls nicht geben sollte: Figuren, die einfach nur existieren. Schneide sie aus deinen Geschichten heraus.

Grundsätzliche Tipps und eine praktische Übung für das Verfassen von Kurzgeschichten findest du in diesem ausführlichen Artikel: Eine Kurzgeschichte schreiben.

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Ein sehr guter Text Prosa

Charaktereinführung: Wie Figuren überlebensgroß werden

Die Charaktereinführung entscheidet darüber, wie der Leser auf die entsprechende Figur reagiert: der erste Eindruck ist ein bleibender. Umso wichtiger ist es, deine Charaktere so einzuführen, dass sie die von dir beabsichtigte Wirkung erzielen und nicht auf Seite 100 plötzlich zur Bedrohung werden, obwohl du sie drei Kapitel lang als liebevolle Familienväter vorgestellt hast, die keiner Mücke etwas antun könnten.

Je nach Rolle der Figur verfolgt die Charaktereinführung unterschiedliche Ziele. Bei einem klassischen Antagonisten sind die wesentlichen Funktionen der Figur einleuchtend: Er sollte auf irgendeine Weise bedrohlich wirken, ein Überzeugungstäter sein und die Schwäche deines Protagonisten auszunutzen wissen. All das kannst du binnen weniger Seiten etablieren. Aber wie macht man das?

Beispiel 1: Captain Hook

Er fragte, ob gerade viele Piraten auf der Insel wären, und Peter sagte, er habe noch nie soviele gekannt.
“Wer ist gerade Kapitän?”
“Hook,” antwortete Peter, und sein Gesicht wurde sehr ernst als er dieses verhasste Wort aussprach.
“Ohje! Hook?”
“Ay.”
Dann fing Michael tatsächlich an zu weinen, und selbst John konnte nur in Schlucklauten sprechen, denn sie kannten Hooks Ruf.
“Er war Blackbarts Bootsmann” flüsterte John heiser. “Er ist der schlimmste von allen. Der einzige Mann den Long John Silver fürchtete.”
“Das ist er”, sagte Peter.
“Wie ist er so? Ist er groß?”
“Nicht so groß wie er war.”
“Wie meinst du das?”
“Ich habe ein Stück von ihm abgeschnitten.”
“Du!”
“Ja, ich”, sagte Peter scharf.
“Ich wollte nicht respektlos sein.”
“Oh, schon gut.”
“Aber, welches Stück?”
“Seine rechte Hand.”
“Dann kann er nicht mehr kämpfen?”
“Oh, das kann er!”
“Linkshänder?”
“Er hat einen eisernen Haken statt der rechten Hand, und damit haut er zu!”
“Haut!”
“Sag mal, John,” sagte Peter.
“Ja.”
“Sag, ‚Ay, ay, sir.’”
“Ay, ay, sir.”
“Es gibt eine Sache”, fuhrt Peter fort, “die mir jeder Junge, der unter mir dient versprechen muss, also auch du.”
John erblasste.
“Und zwar das: Wenn wir Hook in einem offenen Kampf treffen, musst du ihn mir überlassen.”

J. M. Barrie, Peter Pan (eigene Übersetzung)

Peter Pans Erzfeind Captain Hook wird in dieser kurzen Szene eingeführt, ohne auf der Bildfläche zu erscheinen. Der kleine John wirkt hierbei als Verstärker der von Peter berichteten Einzelheiten zu Hook: er erschrickt, erblasst, wiederholt einzelne Wörter. So werden die Informationen emotionalisiert und Hook erscheint bedrohlicher als ohnehin schon – schließlich fürchtete ihn sogar Long John Silver.

Bereits die allererste Information – wer ist Kapitän? – wird auf diese Weise aufgeladen. Die Kinder reagieren allein auf diesen Namen mit Entsetzen, “sie kannten Hooks Ruf“. Als Leser will man zwangsläufig mehr erfahren über diesen Piraten und entwickelt gleichzeitig selbst eine gewisse Furcht: Hoffentlich kann Pan diesem Schurken das Handwerk legen.

Aber ein Schurke ist nichts ohne den Protagonisten und umgekehrt. Deshalb hat der Autor J. M. Barrie auch an die Beziehung der beiden gedacht. Und wie hätte er diese eindrucksvoller bebildern können als durch den Ausruf Peters: “Ich habe ein Stück von ihm abgeschnitten.“

Das etabliert einerseits eine enge, persönliche Beziehung zwischen den beiden, fast wie zwischen Captain Ahab und Moby Dick. Hier geht es nicht nur um Gut gegen Böse. Die Angelegenheit ist privat. Andererseits ist sonnenklar: dieser Kampf geht bis aufs Blut.

Dieser Eindruck wird durch die geniale Schlusshandlung der Szene abermals verstärkt: John muss Peter versprechen, Hook in jedem Fall Peter zu überlassen, wenn es zum Kampf kommt. Das wiederum ist selbst ein Versprechen: Dieser Kampf wird kommen.

Eine gelungene Charaktereinführung präsentiert also den Charakter selbst, die Beziehung des Charakters zum Rest der Geschichte und ein Versprechen, d. h. ein Spannungselement. All dies geschieht natürlich via Informationen, die dem Leser übermittelt werden. Aber niemals werden einfach nur Informationen aneinandergereiht und erst recht nicht alle erdenklichen. Im zitierten Beispiel weiß der Leser bisher nicht besonders viel über Hook: Er ist Kapitän, hat einen Haken als Hand, sein Ruf eilt ihm voraus und er und Peter sind Erzfeinde. Dass er schwarze Locken hat, einen treuen Freund Smie und dass er die Kinder entführen will – davon ahnt der Leser nichts.

Beispiel 2: Alice im Wunderland

Alice was beginning to get very tired of sitting by her sister on the bank, and of having nothing to do: once or twice she had peeped into the book her sister was reading, but it had no pictures or conversations in it, “and what is the use of a book,” thought Alice, “without pictures or conversations ?”

Lewis Caroll, Alice im Wunderland

Mit diesem Absatz beginnt Lewis Caroll seine Geschichte über Alice und ihre Abenteuer im Wunderland. Gleichzeitig beginnt damit auch die Charaktereinführung seiner Protagonistin Alice. Der Protagonist sollte in der Regel sympathisch sein, eine Schwäche sein Eigen nennen und einen Wunsch haben. All das etabliert Caroll in diesem kleinen Absatz: Der Leser kann nachempfinden, wie langweilig so ein Buch ohne Bilder sein muss, so ging es ihm auch oft als er klein war. Zudem ist Alice herzhaft unbedarft. Allerdings könnte das auch eine verhängnisvolle Schwäche sein. Und was machen kleine Kinder, die der Langeweile entkommen möchten? Nun, mitunter laufen sie dem nächstbesten Kaninchen hinterher.

Ein paar Absätze und Meter unter der Erde weiter kommt es zum ersten Pay-Off der gezeigten Charaktereinführung:

[T]his time she founda little bottle on it […] and tied round the neck of the bottle was a paper label with the words “DRINK ME” beautifully printed on it in large letters. It was all very well to say “Drink me,” but the wise little Alice was not going to do that in a hurry: “no, I’ll look first,” she said, “and see whether it ’s marked ‘poison’ or not.”

Lewis Caroll, Alice im Wunderland

Alice‘ Unbedarftheit verführt sie dazu, das Fläschchen auszutrinken – gleichzeitig bleibt sie dabei herzhaft sympathisch und ihr Ziel, die Langeweile loszuwerden, rückt näher. Caroll beweist hierbei sein komödiantisches Talent (und nicht nur hier): das Wörtchen „wise“ bereitetet den Leser darauf vor, dass Alice doch wohl nicht so dumm sein wird, diese Tinktur zu trinken. Allerdings entpuppt sich Alice‘ Weisheit als blindes Vertrauen in den Hersteller des Tranks – urkomisch. Caroll folgt dabei dem Dreischritt der Komik – Erwartung, Enttäuschung, Gelächter – und heftet einen weiteren Sympathiepunkt an seine Protagonistin.

Beispielhafte Charaktereinführung:

Für die Einführung deiner Figuren sind also nicht viele Worte nötig. Es kommt auf die Effektivität der wenigen Worte an, die du verwendest. Effektivität wiederum ist das Produkt aus Relevanz und Charme. Was bedeutet das jenseits des Genius von Jahrhundertautoren? Sehen wir uns ein fiktives Beispiel an:

Max malte gerne mit Wachsmalstiften, am liebsten Tiere. Haare malte er als kleine Dreiecke. Füße als Klumpen. Zähne sahen wie Haare aus, nur ragten sie aus den Mäulern. Gegen 13 Uhr war der Kindergarten aus. Schade.

fiktives Beispiel

Hier sind bereits einige Motive angelegt: Max‘ mangelnde Malkunst versprüht etwas von dem Charme, der von Alice‘ Unbedarftheit ausgeht. Offenbar geht er in den Kindergarten. Er mag den Kindergarten – aber all das genügt nicht, um den Charakter wirklich effektiv einzuführen. Die Relevanz der Informationen bleibt zu diffus und der Charme könnte noch deutlicher hervortreten:

Haare malte Max als kleine Dreiecke. Füße als Klumpen. Deshalb besuchten alle Tiere in Max‘ Wachsmalzoo den Orthopäden, sogar die zierlichen Antilopen. Zähne sahen wie Haare aus, nur im Mund drin. Um 13 Uhr stand Max‘ Mutter vor dem Kindergarten. Die hatte Haare auf den Zähnen.

fiktives Beispiel

Weit entfernt von Perfektion gelingt dieser zweiten Version etwas entscheidendes für eine gelungene Charaktereinführung: die vermittelten Informationen (Max kann nicht malen, geht in den Kindergarten, mag den Kindergarten) werden indirekt vermittelt, also mit Charme. Sollte später in der Geschichte auf Wachsmalstifte, 13 Uhr oder Haare und Zähne und deren Verwandschaft zurückgegriffen werden, dann wird das elegant anmuten, nicht konstruiert. Denn all diese Dinge wurden beiläufig mitgeteilt, als Teil eines größeren Bildes, bisweilen gar als erster Pay-Off (das mit den Haaren auf den Zähnen).

Außerdem mag der Leser Max. Wir mögen das Unperfekte und wir mögen nachvollziehbare Wünsche. Über beides verfügt Max. Das wissen wir bereits nach einem Absatz. So hat unbemerkt auch die Relevanz Einzug gehalten: Max will lieber nicht nach draußen zu seiner Mutter, er will weiter Tiere mit Dreiecken auf dem Kopf malen. Vielleicht ist das Verhältnis der beiden schwierig. Und hat Max zuhause etwa keine Wachsmalstifte?

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Allgemeine Schreibtipps Ein sehr guter Text Prosa

Figurenentwicklung: Alle Figuren müssen etwas riskieren

Figuren verfolgen Ziele. Luke Skywalker will den Todesstern zerstören, Will Smith will die Welt retten, Sigourney Weaver will dem Alien entkommen. Aber ein Ziel allein macht noch keinen Plot. Wäre der Todesstern unbewacht und unbewaffnet, würde Luke einfach hinfliegen, seine Raketen abfeuern und niemand hätte uns je davon erzählt. Für eine gelungene Figurenentwicklung ist es daher unerlässlich, das Verfolgen des Ziels mit einem Risiko aufzuladen. Luke droht im Kampf um den Todesstern der Tod und damit das Scheitern der Rebellion – gleichbedeutend mit ewiger imperialischer Tyrannei. Versagt Luke, lässt er seine Freunde im Stich, die auf ihn und die Macht zählen. Sigourney Weaver hat es da einfacher: Sie riskiert bloß ihr Leben, ganz genregetreu.

Die große Kunst der Figurenentwicklung ist es jedoch, sich dabei nicht nur auf den Protagonisten zu konzentrieren. Für jede deiner Figuren sollte etwas auf dem Spiel stehen. Auch für die Bösen unter ihnen. Sie alle müssen ihre Haut zu Markte tragen.

Ein formvollendetes Beispiel für diesen Teil der Figurenentwicklung liefert das 2016 mit dem Oscar für den besten Film ausgezeichnete Journalistendrama Spotlight (leichte Spoiler im weiteren Verlauf).

Die investigative Abteilung des Boston Globe besteht aus vier Journalisten: Michael Keaton als deren Chef, Mark Ruffalo als ehrgeiziger Schreiberling, Rachel McAdams als einfühlsame Reporterin und Brian d’Arcy James als Mann für die Recherche. Alle vier Figuren verfolgen dasselbe Ziel. Sie wollen den Missbrauchskandal aufdecken, der die katholischen Priester in Boston zu betreffen scheint. Und alle vier Figuren nehmen dabei ganz persönliche Risiken in Kauf.

Persönliches Risiko > Allgemeines Risiko

Keatons Figur muss sich von alten Freunden abwenden und wird als Verantwortlicher seitens der Kirche unter Druck gesetzt. Ruffalos Charakter stammt selbst aus dem Milieu, in dem die Priester auf Beutefang gingen und riskiert die eigene Integrität. McAdams Figur hat den von ihr aufgespürten Opfern versprochen, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Und d’Arcy James Figur wohnt mit seinen Kindern gegenüber einem Haus für auffällig gewordene Priester. Über allen schwebt zudem der drohende Jobverlust. Die Verleger haben einen neuen Herausgeber eingesetzt, der alles auf den Prüfstand stellen soll. Auch den Luxus, sich eine eigene Investigativ-Abteilung zu leisten.

Die Figurenentwicklung in Spotlight ist sogar so formvollendet, dass eben jener neue Herausgeber (Liev Schreiber) als einziger Charakter kein Risiko trägt. Er stammt nicht aus Boston, ist ohnehin gut situiert und zudem Jude. Oder birgt gerade das ein Risiko für ihn?

Nimmt man den Figuren ihre persönlichen Einsätze, erhält man austauschbare Schablonen, die einfach gewinnen wollen, der guten Sache wegen. Aber das reicht nicht, um den Leser zu fesseln. Erst durch den Kniff, alle Figuren mit hohen Einsätzen spielen zu lassen, steht auch in jeder Szene etwas auf dem Spiel. Ruffalo kommt nicht an die geheimen Unterlagen – aber er darf seine Leute nicht im Stich lassen. McAdams muss die Recherchen einstellen – hat aber doch den traumatisierten Opfern ihr Wort gegeben. D’arcy James muss Stillschweigen bewahren – aber in seiner Nachbarschaft leben pädophile Priester.

Auch wissenschaftliche Arbeiten kennen Risiko

In nicht-fiktiven Texten haben wir es zwar selten mit ausgedachten Figuren zu tun, aber selbst hier hilft es, die Risiken der Beteiligten (die Protagonisten eines Artikels, einer Debatte, historische Persönlichkeiten) zu verdeutlichen. Deine Arbeit über Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft kann einfach dessen Ziel darstellen (Was können wir wissen?) und wird damit dem Forschungsinteresse genügen. Wenn es dir aber gelingt, einzufangen, was dabei auf dem Spiel steht (Kann es überhaupt Metaphysik geben? Hat David Hume etwa Recht mit seinem Skeptizismus? Lassen sich Empirismus und Rationalismus miteinander versöhnen?), wird auch der Leser Interesse zeigen. Oft bietet das einen Ansatzpunkt für einen grandiosen ersten Satz deiner Arbeit. Zudem schult es dein kritisches Denken, dir die Frage nach den persönlichen Einsätzen der Beteiligten zu stellen.

Robert McKee verwendet diesen Trick in der Einleitung zu seinem Klassiker Story über das Drehbuschreiben. Er beendet den Abschnitt mit der Erläuterung seiner Motivation, dieses Buch zu schreiben: Sein unstillbarer Hunger nach großartigen Filmen. Wenn es ihm gelingt, sein Wissen an seine Leser zu vermitteln und seine Leser daraus die richtigen Lehren ziehen, wird es weiterhin einzigartige Filme geben. McKee ist also auf einer Mission – und wir als seine Leser sind zu seinen Komplizen geworden. Und etwas steht auf dem Spiel: Wohl und Wehe des Kinos. Spannend.

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