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Franz Kafka: Die Verwandlung [Analyse]

Also gut, es ist Sonntagabend 22 Uhr, deine Eltern haben nach dem „Tatort“ schon die Zähne geputzt und du hast noch genau 8 Stunden Zeit, bevor du in die Schule fahren musst, um eine Deutschklausur über Kafkas Die Verwandlung zu schreiben. Du hast die Erzählung nicht gelesen. Idiot.

Aber weil es Menschen gibt, die fasziniert von diesem komischen dünnen Typen aus dem letzten Jahrhundert und seinen noch komischeren Geschichten sind, und deshalb Essays darüber verfassen, wie der Typ welche genialen Dinge getan hat, gibt es eine Rettung: Diesen Artikel. Darin werfe ich einen genaueren Blick auf die literarischen Mittel , mit denen Kafka es schafft, Die Verwandlung zu einer der prägendsten Erzählungen der Moderne zu machen.

Falls du nur noch in deinen unruhigen Träumen eine Schülerin bist, keine Sorge. Auch für dich, der nicht 8 Stunden, sondern mit etwas Glück und technologischem Fortschritt (*Lindner-Voice*) noch 80 Jahre bleiben, um endlich ihren verfluchten Roman fertigzustellen, haben die folgenden Seiten einiges zu bieten. Denn von Kafka lernen, heißt schreiben lernen.

1. Wie man verdammt nochmal beginnen sollte

Dabei ist von vornherein klar, dass eine solche Analyse nicht erschöpfend des Autors Raffinesse darlegen kann. Doch wenn auch nur ein Bruchteil der verwendeten Techniken aufgeschlüsselt werden kann, ist viel gewonnen für alle, die schreiben wollen oder Deutschklausuren schreiben müssen.

Anfangen soll man mit dem Anfang, heißt es, und so stürzen wir uns ohne biografische oder zeitgeschichtliche Umschweife gleich doppelt mitten ins Getümmel: Denn mit Kafkas Anfängen anzufangen, heißt auch, bereits direkt in der Geschichte zu stehen, die er auch im Fall der Verwandlung mit einem einzigen ersten Satz nahezu vollumfänglich ausbuchstabiert:

„Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.“

Franz Kafka – Die Verwandlung

Dieser Satz stellt beinahe eine ganze Log Line dar: Der Protagonist und sein Problem werden eingeführt und ein Rätsel etabliert (wie und warum ist es dazu gekommen?). Das geschieht derart brachial und schnell, dass der Leser sich dem Sog dieser Geschichte nicht entziehen kann. Zugleich ist der Grundkonflikt skizziert, der die Handlung und ihren Helden bestimmen wird: Welche Auswirkungen hat diese ungeheuerliche Verwandlung und wird Samsa diesem Zustand noch einmal entkommen können? Subtil, hauchzart nahezu, zieht Kafka mit diesem ersten Satz auch schon eine für diesen Grundkonflikt entscheidende Grenze: Samsa erwacht nicht irgendwo am Straßenrand, nicht im Omnibus, sondern zuhause, in seinem Bett, und zwar eines Morgens – die Außenwelt hat also noch keine Notiz von ihm genommen, das über ihn hereingebrochene Unheil bleibt vorerst unbemerkt. Gleichzeitig ist damit angerissen, was Gregor Samsa als nächstes bevorsteht: die Scham des Entdecktwerdens.

2. Sei von deiner Prämisse überzeugt

Die Verwandlung ist natürlich vor allem wegen der in ihrem ersten Satz etablierten, absurden Prämisse die wohl berühmteste Geschichte Kafkas. Ein jeder kann sich einen Reim darauf machen, mehr noch als auf den unschuldig verhafteten Josef K. oder einen höhenkranken Trapezkünstler. Allerdings entfaltet Kafkas Prämisse von der Verwandlung in ein Ungeziefer nur deshalb ihre verstörende Wirkung, ja genauer: beeinflusst den gesamten Rest der Geschichte so unerhört, dass ein Adjektiv dafür erfunden wurde – kafkaesk –, weil Kafka selbst und mit ihm die handelnden Figuren von dieser Prämisse völlig überzeugt sind. Denn das Surreale an der Geschichte ist von außen betrachtet natürlich die Verwandlung selbst. Innerhalb der Geschichte jedoch behandeln alle Figuren die Verwandlung als das Allernatürlichste, als etwas Ununmstößliches, und surreal ist nur ihr Verhalten dazu: Samsa möchte unbedingt den nächsten Zug erwischen, um noch halbwegs rechtzeitig zur Arbeit zu kommen, seine Familie beginnt die Möbel wegzuräumen, damit er ungestört umherkrabbeln kann.

Durch diese ironische Verkehrung, die zur Schau gestellte Adaption aller Beteiligten an das nicht Adaptierbare, entsteht erst der Effekt des Kafkaesken, gerät also die vertraute Welt ins Wanken, schleicht sich ein absurder Unterton in die Geschichte. Irgendwer müsste doch schreien, die Polizei rufen, gleich mehrere Professoren und den Kammerjäger – aber nichts dergleichen geschieht.

Wenn du also selbst eine Geschichte mit einer eigenartigen Prämisse schreibst (und das wollen wir doch hoffen), dann halte dich nicht mit den Zweifeln der Figuren an ihr auf, sondern stürze dich auf die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, die mit dieser Prämisse einhergehen. Plump gesagt: Jurassic Park verbringt nicht 60 Minuten damit, die wissenschaftliche Möglichkeit des Dinosaurier-Klonens anzuzweifeln, sondern lebende Dinos anzustaunen.

3. Kafkas Horror vollzieht sich im Subtilen

Das führt zum dritten kongenialen Moment in Kafkas Erzählung. Anstatt das Offensichtliche zu tun, nämlich den Horror des Insektseins frontal auf den Leser einprasseln zu lassen, hält sich Kafka zurück, zügelt seine Wortwahl, seine Beschreibungen, ja verzichtet gänzlich auf Passagen der Marke: „Und aus seinen klaffenden Mundhöhlen tropfte der Speichel diabolisch leuchtend auf die hübsch angerichtete Kaffeetafel.“

Stattdessen bemüht Kafka, wie jeder gute Erzähler, den Kontrast, um den Horror zu veranschaulichen, den Gregors Verwandlung für ihn bereithält. Genauer gesagt: den Kontrast zwischen menschlichen und tierischen Fähigkeiten und Bedürfnissen.

Als Gregor durch die Wände hindurch seine Familie über ihre nun bescheiden gewordene finanzielle Situation sprechen hört, denkt er etwa zutiefst menschliche Gedanken:

„Wie aber, wenn jetzt alle Ruhe, aller Wohlstand, alle Zufriedenheit ein Ende mit Schrecken nehmen sollte?“

Franz Kafka – Die Verwandlung

Nur um im nächsten Moment von Kafka zurück auf seine tierische Realität geworfen zu werden:

„Um sich nicht in solche Gedanken zu verlieren, setzte sich Gregor lieber in Bewegung und kroch im Zimmer auf und ab.“¹

Franz Kafka – Die Verwandlung

So setzt es sich fort: Die von seiner Schwester gebrachten frischen Speisen rührt Gregor bald schon nicht mehr an, aber einen Käse, den er „vor zwei Tagen für ungenießbar erklärt hatte“, „saugt“ er „gierig“ ein, nicht ohne sich vorher zu fragen, ob er jetzt wohl „weniger Feingefühl“ habe. Auf dem Kanapee liegt Gregor nun nicht länger, er versteckt sich darunter.

Es sind diese subtilen Beschreibungen von Gregors rückläufiger Entwicklung, seiner Regressions ins Animalische, die den Horror betonen, dem er ausgesetzt ist. Und so mächtiger wirken, als jede Ansammlung direkter und konfrontativer Adjektive es jemals könnte.

4. Kafka und das Universale

Wer den törichten Versuch einer Interpretation der Verwandlung unternehmen will – oder von seinem Deutschlehrer dazu gezwungen wird –, sieht sich einer unmöglichen Aufgabe gegenüber. Zu vielschichtig ist die Erzählung, zu offen gestaltet. Und doch liegt genau darin das Geheimnis ihrer Wirkung auf Leser, Kritiker, Germanisten und neuerdings Filmemacher, auch noch 100 Jahre später: Die Verwandlung scheint für alles herhalten zu können, zu uns allen zu sprechen, über die Zeit hinweg. Es ist diese Universalität, die das Ziel von Literatur seit jeher bildet, und nur dem Größenwahn der Schriftstellerinnen ist es zu verdanken, dass überhaupt je ein Satz geschrieben wurde: Was ich zu sagen habe, sollten alle hören.

Wie aber stellt Kafka das an? Entscheidend für die Offenheit seiner Geschichte ist ihre innere Geschlossenheit. Der Erzähler, der ja nicht mit Samsa oder einer anderen Figur identisch ist, verbittet sich jeden Kommentar, jede leichtfüßige Distanz, aus der heraus der Leser selbst einen Standpunkt des bloß Beobachtenden einnehmen könnte, nirgends wird das tragische Geschehen aufgebrochen. Auch Informationen, die jenseits von Gregors unmittelbarem Erleben und Denken stehen, werden nur ganz am Anfang mitgeteilt, eben das Ereignis der Verwandlung selbst, seine Erscheinung und schon nur noch rudimentär die Beschaffenheit des Zimmers. Anschließend (und da sind erst zwei Absätze geschrieben) nimmt Kafka eine streng personale Erzählperspektive ein. Was Gregor nicht sieht, hört, spürt oder denkt, wird auch nicht geschildert. Im Umkehrschluss wird ein Schuh daraus: Die Welt, in die uns Kafka entführt, ist Gregors Welt, und keine andere. Damit einher geht eine strikte Linearität der Zeitabfolge. Es gibt keinen Ausblick in die Zukunft, keine Rückblenden, höchstens gedachte Erinnerungen des Protagonisten an ein Früher, die dadurch natürlich ebenfalls subjektiv bleiben müssen – im Gegensatz zu einer objektiven Außensicht.

Aus dieser engen Perspektive ergibt sich, mit ein wenig philosophischer Leidenschaft, die Unmöglichkeit von Wahrheit in Kafkas Schreiben: Die beschriebene und entworfene Welt ist eine notwendig subjektive – eine solche aber kann nicht auf ihren Wahrheitsgehalt geprüft werden. Denn dafür fehlen zwei Dinge. 1. Ein Gegenentwurf zu dieser Welt, die Beschreibung durch die Augen einer zweiten Figur etwa, oder die Kommentare eines über den Dingen stehenden Erzählers. 2. Der unverstellte Blick auf diese Welt, das Ding an sich also, die Welt, wie sie ist, jenseits der Wahrnehmung Gregors.

Die Fragen nach der Realität der Verwandlung in ein Ungeziefer, danach, ob Gregor doch träumt, ob die Verwandlung ein Symbol für X ist oder für Z, sind daher sowohl nicht beantwortbar als auch nicht widerlegbar. Nur auf der Metaebene lässt sich feststellen: Die Verwandlung kann für alles herhalten, aber eigentlich, das ist ihr Geheimnis, kann sie das nicht.

Und dennoch: Natürlich gibt es einen Erzähler, lesen wir ja keinen ungehemmten Strom von Gregors Wahrnehmungen, findet Selektion statt. In Ermangelung einer plausiblen Erzählposition rückt dadurch erst recht der Autor in den Fokus der Deutungsmaschinerie, und in der Folge sind die meisten der Interpretationsversuche von Kafkas Erzählungen autobiographisch geprägt. Sie bedienen sich also externer, realer Hilfsmittel, weil sich das Innere der Fiktion einer Auslegung verschließt. Ein Taschenspielertrick.

Wenn deine Deutschlehrerin also von Vaterfiguren, Kafkas schwierigen Liebesbeziehungen und dergleichen spricht, frag sie einmal, ob ein Text nicht aus sich heraus interpretiert werden sollte und, das ist die interessantere Frage, was an Kafkas Texten sie dazu veranlasst, dies nicht zu tun.

Und wenn du selbst schreibst, dann mach dir Gedanken über die Erzählposition, über Distanz, Nähe und Geschlossenheit und deren Auswirkungen auf den Bedeutungsgehalt, der deinen Erzählungen zugesprochen werden kann. Keine Sorge: mit ein bisschen technologischem Fortschritt bleiben dir noch 80 Jahre.

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¹ vgl. F. D. Luke (1951): Kafkas ‚Die Verwandlung‘

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Ein sehr guter Text Kurzgeschichten 101

Kurzgeschichte schreiben

Eine Kurzgeschichte selbst zu schreiben, ist eine wunderbare Fingerübung für angehende Autoren. Und die Königsdisziplin für alle großen Schriftstellerinnen. Sie verzeiht nichts. Jedes Wort muss sitzen. Doch es gibt einige grundlegende Tipps, die auch unerfahrenen Schreiberlingen den Weg zu ihrer ersten Kurzgeschichte ebnen können.

Beginnen wir mit der Motivation.

1. Wieso eine Kurzgeschichte schreiben?

Eine Kurzgeschichte ist schnell geschrieben und schnell korrigiert. Und dann nochmal korrigiert. Und nochmal. So gelangst du ohne viel Zeitaufwand zu deinem ersten fertigen Text. Dabei lernst du unheimlich viel: Was funktioniert, was nicht, wo liegen deine Stärken, wo deine Schwächen. Wenn du heute einen Roman beginnst, dauert es mehrere Monate bis zur ersten fertigen Version. Dann brauchst du nochmal einen Monat für die erste Korrektur. Und verlierst zwangsläufig immer wieder den Überblick. Was passiert nochmal in Kapitel 43? Eben.

Eine Kurzgeschichte mit maximal 60 Normseiten hingegen ist kompakt, überschaubar und zwingt dich zur eingehenden Auseinandersetzung mit einzelnen Seiten, Absätzen und Zeilen. Der DFB hat kürzlich beschlossen, kleine Kinder nur noch im 3 gegen 3 spielen zu lassen, anstatt 11 gegen 11. Denn so hat jedes der Kinder eine Vielzahl von Ballkontakten. Eine Kurzgeschichte zu schreiben, sichert dir genau das: viel Zeit am Ball.

Auch Feedback erhältst du wesentlich leichter und schneller. Wenn deine Freunde 450 Seiten lesen müssen, kannst du sie danach auch gleich heiraten. Fünf Seiten hingegen sind selbst für den Bekannten aus der Kneipe machbar. Und Feedback ist unentbehrlich für deine Autorinnenreise! Solltest du dich für ein Lektorat deiner Kurzgeschichte entscheiden, ist dieses nicht nur günstiger und schneller fertig, du lernst auch bereits Dinge über das Schreiben, die du vor deinem ersten großen Text vielleicht besser wissen solltest.

Zu guter Letzt: Die Kurzgeschichte ist die Königsdisziplin. Wenn du Fußballer werden willst, versuchst du Roberto Carlos‘ Freistöße zu kopieren. Wenn du Autor werden willst, solltest du keine Abstriche machen. Doch was ist eine Kurzgeschichte eigentlich?

2. Definition einer Kurzgeschichte

Eine Kurzgeschichte lässt sich in einer Sitzung durchlesen. Bei einem Milchkaffee also, in der Badewanne, im ICE. Eine genaue Seitenzahl ergibt sich daraus nicht. Manche Menschen können 60 Seiten am Stück lesen, andere nur fünf. Aber wenn es um die maximale Länge geht, liefert diese Definition trotzdem einen guten Grenzwert: 100 Seiten sind definitiv zu lang.

Eine Mindestlänge gibt es nicht wirklich, auch wenn eifrige Katalogisierer noch die Microfiction oder die Vignette kennen. Doch damit verkompliziert man die Dinge nur: Sind Kafkas frühe Geschichten etwas anderes? Wen interessiert das? Den Leser sicher nicht. Schreib so viele Zeichen, wie es dir richtig erscheint. Ob 100, 1000 oder 10.000 macht keinen Unterschied. Die viel wichtigere und schwierigere Frage lautet: Worüber schreiben?

3. Idee & Thema einer Kurzgeschichte

Du wirst es bei deiner Lektüre gemerkt haben: Jede Kurzgeschichte hat ein Thema bzw. basiert auf einer Idee. Wenn du eine fortgeschrittene Autorin bist, werden dir Ideen kommen, weil du im Fernsehen einen Bericht über ein Klärwerk siehst. Oder einen eigenartigen Menschen triffst. Es macht dann Klick und du erkennst das Potenzial, einen Twist, einen Widerspruch zum Common Sense. Das ist eine antrainierte Mind-Muscle-Connection, also zwischen deiner Wahrnehmung und deinem dicken Schreibmuskel. Am Anfang deiner Schriftstellerkarriere bist du vermutlich noch nicht damit gesegnet. Wie also eine Idee oder ein Thema für deine Kurzgeschichte finden?

Zunächst musst du dir klarmachen, dass eine Geschichte über einen Piraten noch keine Idee und nicht einmal ein Thema ist. Denn es enthält weder einen Plot (was will der Pirat und wieso kann er es nicht kriegen?) noch ein Motiv (Piraten sind die einzigen freien Menschen unter der Sonne).

Eine Idee für eine Kurzgeschichte muss nicht so ausbuchstabiert sein wie jene für einen Roman oder ein Drehbuch. Denn so sind Kurzgeschichten ja: Knapp, abgehackt, auf den Punkt. Aber irgendetwas muss trotzdem erzählt werden. Etwa die Geschichte eines Piraten, der die Braut des Gouverneurs entführt hat, um Lösegeld zu erpressen. Die will aber gar nicht zurück und klaut bei der Übergabe kurzerhand das Piratenschiff.

Beginne mit Gegensätzen

Denke also an Situationen oder Gegenstände, die eindeutig erscheinen, es aber eigentlich nicht sind oder nicht sein müssen (Borchert: Die Küchenuhr). Führe gewöhnliche und absurde Elemente zusammen (Kafka: Die Verwandlung). Entdecke das Besondere im Allgemeinen oder umgekehrt. Lass zwei große Begriffe miteinander konkurrieren, Technik und Natur, Mensch und Tier (Feuchtwanger: Höhenflugrekord). Aus derlei Spannungen muss eine Idee für eine Kurzgeschichte fußen, nicht aus einem Ort, einem Beruf oder einer Zeit.

Dabei folgt eine Kurzgeschichte meist derselben Struktur wie ein Freistoß von Roberto Carlos: Sie zieht nach rechts, nur um sich dann im letzten Moment nach links zu drehen. Dieses Spiel mit den Erwartungen habe ich einem separaten Artikel zur Ideenfindung ausführlich beschrieben. Es führt direkt zu einer Vielzahl von möglichen Ideen.

Es wird dir zudem leichter fallen, eine Idee für deine Kurzgeschichte zu finden, wenn du dich mit dem üblichen erzählerischen Aufbau vertraut machst.

4. Aufbau einer Kurzgeschichte

Wie bereits angedeutet, besteht eine Kurzgeschichte oft aus zwei gegensätzlichen Bewegungen (Tschechows Wanka, Kafkas Das Urteil). Darüber hinaus zeichnet sie sich aufgrund ihrer verdichteten Erzählweise durch eine kondensierte Exposition aus. Man kommt schnell zum Punkt. Dies schließt auch eine reduzierte Figurenauswahl ein. In einer Kurzgeschichte muss jede Figur eine Funktion übernehmen, für ausschweifende Stammbäume bleibt keine Zeit.

Sofern die Kurzgeschichte etwas komplexer strukturiert ist, etwa weil sie schlicht länger ist oder einem klassischen dramatischen Aufbau entspricht, folgt auf die Exposition der Inciting Incident. Dieses auslösende Ereignis setzt die Geschichte in Gang und stellt deinem Protagonisten eine Frage: Steigt er ins Abenteuer ein oder nicht? Dementsprechend wird der Protagonist darauf reagieren, mal kaum merklich, mal deutlich und laut. Und die Frage beantworten. Speziell in Kurzgeschichten kann diese Frage auch subtiler ausfallen und eher eine Bedrohung des harmonischen Zustands vermitteln: Tom und Anna lieben sich, dann kommt Tom nach Hause und legt einen Umschlag auf den Tisch, ohne ein Wort zu sagen.

Anschließend macht sich eine Kurzgeschichte rasch zum ersten Plot Point auf. Dieser ist mitunter stark mit dem Wechsel der Flugbahn bei Roberto-Carlos-Freistößen verwandt: Hier setzt die gegensätzliche Bewegung ein. Manche Kurzgeschichten rasen von diesem Punkt aus auf ihr Ende zu (Wanka). Andere, klassischer komponierte Erzählungen erleben noch einen zweiten Plot Point.

Diese komplexeren Kurzgeschichten lassen sich oft in einer Log Line zusammenfassen: Als (X) passiert, will (P) plötzlich (Z) erreichen, indem er (M) tut, doch (Y) stellt sich ihm in den Weg. Eine solche Struktur entspricht jener großer Geschichten oder der von Drehbüchern und bietet, in der verdichteten Atmosphäre einer Kurzgeschichte, wunderbare Möglichkeiten.

Du siehst also: Als Autorin einer Kurzgeschichte bist du freier in der dramaturgischen Gestaltung. Du bist jedoch nicht von der Herausfoderung befreit, etwas zu erzählen.

5. Weitere Tipps für das Schreiben deiner Kurzgeschichte

  • Die Hintergrundgeschichten deiner Figuren sind in einer Kurzgeschichte nebensächlich. Sie können zwar wichtig sein und sollten dann auch angedeutet werden, aber niemals sollten sie seitenfüllend ausgebreitet werden. Dafür ist kein Platz. Es ist auch nicht notwendig.
  • Die Sätze einer Kurzgeschichte sind Fließbandarbeiter: Jeder einzelne verrichtet eine Aufgabe. Entweder treiben sie die Geschichte voran oder sie charakterisieren deine Charaktere. Schreib also nicht: Tom sah Anna hinterher. Es nieselte leicht. Dann klingelte es. Sondern: Tom sah Anna hinterher. Dann klingelte es.
  • Wenn du einen Schreibimpuls verspürst, folge ihm! Nicht später oder morgen. Jetzt.
  • Halte Ausschau nach winzigen, aber gewichtigen Pointen. Du suchst nach Blei! Dir kommt eine Idee über zwei rivalisierende Königshäuser, die um einen Drachen kämpfen, der mit dem verschollenen Stein der Weisen kontrolliert werden kann? Viel Spaß mit deinem ersten Romanmanuskript. Besser: Ein Prinz will einen Drachen töten, aber der ist erkältet.
  • Lies Kurzgeschichten. Alle. Am besten aber: Kurze Kurzgeschichten. Alles unter 10 Seiten. Aufgrund ihrer verdichteten Erzählweise werden sie dir mehr über Storytelling und das Schreiben verraten als alle anderen Medien.

6. Übung zum Schreiben von Kurzgeschichten

Schreibe eine Aussage auf ein Blatt Papier, eine Situation, eine vermeintliche Wahrheit, eine Zustandsbeschreibung. Dann verwende den Rest der Seite darauf, diese Aussage möglichst gekonnt und gewitzt in ihr absolutes, höchst absurdes Gegenteil zu verkehren. Ein Beispiel:

„Es nieselte leicht.

Genau genommen, stimmte das nicht. Was Jack als Nieseln wahrnahm, waren eigentlich ausgesprochen wollige Bindfäden, die aus dem trübgrauen Himmel hingen wie Deserteure an den Bäumen. Sah man genau hin, konnte man gar Teddybärenaugen erkennen, so wollen und von der Feuchte vollgesogen hingen die Fäden vor Jacks Fenster. Wäre er bei Sinnen gewesen und ein weniger tüchtig als ihn die nachlässige Erziehung seiner Mutter hatte werden lassen, wäre er gewiss aus dem Fenster gekraxelt um einmal kräftig jeden einzelnen von ihnen auszuwringen. Doch für Jack blieb der Bindfadenwald in Teddygestalt nur Nieselregen, und in den folgenden Jahren fand niemand zu einer treffenderen Beschreibung des sonnigen Gemüts, das Jack von seinen Mitmenschen unterschied.“

fiktives Beispiel

Von einer simplen Aussage gelange ich zunächst zu blumig absurden Beschreibungen des Gegenteils, dann zu einem Protagonisten und schließlich zu dessen Charakterisierung – ohne dass irgendetwas davon zuvor in meiner Vorstellung existiert hätte. Da es beim Schreiben einer Kurzgeschichte um gegensätzliche Bewegungen geht und, wie bei allen Geschichten, ein Wandel enthalten sein muss, ist diese simple Übung das perfekte Training deines Schreibmuskels. Auf diese Weise kannst du ohne Druck üben, Ideen und Motive für eine Kurzgeschichte zu erkennen. Gleichzeitig lernst du, das Absurde, das Außergewöhnliche in Alltagssituation zu erkennen – ebenfalls ein zentraler Aspekt des Storytellings in Kurzform. Wirf auch einen Blick auf meine anderen Übungen für kreatives Schreiben.

7. Kurzgeschichten veröffentlichen

Kurzgeschichten schreiben, ist nicht einfach. Sie zu veröffentlichen, ist noch schwieriger. Es gibt in Deutschland schlicht keinen Markt, vor allem nicht für Debütanten (Ausnahmen wie Judith Hermann bestätigen die Regel). Deshalb wird meist der umgekehrte Weg eingeschlagen: Ist der Autor eine Marke, druckt man auch dessen Kurzgeschichten.

Mit einem Kurzgeschichtenband wirst du also bei den Verlagen nicht die allergrößten Chancen haben. Außer, sie sind unfassbar gut. Dann ist die Gattung nebensächlich.

Aber nicht verzagen: Du kannst deine Kurzgeschichten natürlich im Self-Publishing verlegen. Oder du versuchst dich bei einer der unzähligen Ausschreibungen bzw. Literaturzeitschriften, die kurze Texte unbekannter Autoren annehmen (vorher unbedingt die Formalia prüfen!).

Eine Absage bedeutet jedoch nicht, dass deine Geschichten schlecht sind. Es gibt einfach nur aberwitzig viele Einsendungen und begrenzten Platz. Lass dich also nicht entmutigen! Und leg die Kurzgeschichten beiseite, für die du keinen Platz finden konntest. Wer weiß, vielleicht bist du eines Tages eine Marke.

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Ein sehr guter Text Kurzgeschichten 101

Kurzgeschichte 101: Ideenfindung

Jede gute Kurzgeschichte basiert auf einer Idee. Diese Idee kann vielerlei Formen annehmen, so wie eine Kurzgeschichte von einer Emotion, einer Frage, einer vermeintlichen Antwort, einem Ort oder einer Figur handeln kann – und von vielem mehr. Allerdings hilft das dem angehenden Autor nicht weiter. Wie kommt man auf eine solche Idee? Gibt es Strukturen, anhand derer sich das Wesen einer solchen Idee verstehen und in der Folge leichter reproduzieren lässt? In diesem Essay will ich dir einige dieser Strukturen aufzeigen.

1. Halte Ausschau nach enttäuschbaren Erwartungen

Anton Tschechow liefert mit seiner Kurzgeschichte Wanka ein glänzendes Beispiel für eine solche Struktur [Spoilerwarnung].

In dieser Kurzgeschichte schreibt der 9-jährige Waise Wanka heimlich einen Brief an seinen Großvater. Darin bittet er ihn, sich bei ihm aufzunehmen, da ihn sein Lehrmeister schlecht behandelt und er der Hölle, in der er lebt, entkommen möchte. Dann steckt er den Brief in den Umschlag und beschriftet ihn: „An Großväterchen“.

Dem Leser wird nach der Schilderung von Wankas Leiden und bei aufkommendem Mitgefühl plötzlich klar: der Brief wird den Großvater nie erreichen. Ein Schlag in die Magengrube. Vorhang. Tusch. Ende der Kurzgeschichte.

Um das Großartige an Tschechows Geschichte zu beschreiben, ist es nicht nötig, auf seine Sprache oder seine Figur einzugehen. Das könnte man freilich tun, aber bereits die Idee allein genügt. Die Umsetzung in einen Text mit Sprache und Figuren folgt erst an zweiter Stelle. Am Anfang (und am Ende) steht die Idee.

2. Struktur & Motiv = Idee

Dabei lohnt ein genauerer Blick. Losgelöst von jeglichem Inhalt, passiert Folgendes: Eine Erwartung wird aufgebaut, Hoffnung, Mitgefühl – ehe alles jäh vernichtet wird. Das klingt banal und geradezu unterkomplex. Das ist es auch. Humor funktioniert oft ähnlich: Erwartung aufbauen, Erwartung überraschend enttäuschen. Diese Struktur mit Leben zu füllen, das heißt mit Motiven und Zusammenhängen, ist das eigentliche Kunststück. Nur weil du verstanden hast, wie Humor funktioniert, fallen dir noch keine guten Witze ein. Auch bei Tschechow ist es nicht die, einmal erkannt, simple Struktur allein, sondern die Kombination aus Struktur und Motiv.

Das Motiv, das die Struktur mit Leben füllt, ist kindliches Leid, das in der Abwesenheit von erwachsener Fürsorge nicht beendet werden kann. Doch Halt: Das Kind schreibt einen Brief. Und erbittet sich darin genau diese Fürsorge. Hoffnung keimt auf. Dann wird deutlich, dass das Kind zwar für sein Alter schon verdammt viel (zu viel) über den Schmerz weiß, aber nichts über die Mechaniken des Briefeschreibens. Die Adressierung des Briefes folgt kindlicher Naivität. Hier hat sie sich erhalten. Der Leser lässt alle Hoffnung fahren.

3. Der Struktur in den Kaninchenbau folgen

Nun kann eine solche Idee im Vorfeld feststehen oder erst beim Schreiben selbst entstehen. Ohne eine solche Idee (die, ich werde nicht müde, es zu betonen, unendliche Formen und Strukturen annehmen kann) wird deine Kurzgeschichte aber oft ins Leere laufen. Kein Tusch. Kein Ende. Sei daher wie Alice: Fang nicht irgendwo an zu graben, sondern warte auf ein Kaninchen, dem du in seinen Bau folgen kannst. Dieses Kaninchen ist die Struktur. Die Abenteuer, das Schrumpfen, Wachsen, die Grinsekatze – das sind die Motive.

Wenn du nach einer Idee für deine Kurzgeschichte suchst, versuche also, dich zunächst auf eine Struktur festzulegen (X aufbauen, damit Z machen; X zerstören, dabei Z aufbauen usw.) und diese dann mit passenden Motiven zu füllen. Etwa folgendermaßen:

Struktur: Unter großer Anstrengung versucht der Protagonist, X zu erreichen, indem er es erreicht, passiert jedoch Z und stürzt ihn ins Verderben.

Motiv: Man kann sein Leben für eine Aufgabe opfern, aber man kann nie gewiss sein, dabei das Richtige zu tun.

Idee: Hans baut jahrelang unter größter Mühe eine Brücke über den Fluss, nur um dann festzustellen, dass er den Schwarzen Reitern damit den Zugang zu seinem Dorf ermöglicht hat.

4. Artverwandt: Plot Points

Hilfreich dabei kann der erste Plot Point deiner Geschichte sein. Tschechows Kurzgeschichte ist so kompakt geschrieben und auf diese eine Wechselwirkung ausgelegt, dass sich ihn ihr kein rechter Plot Point ausmachen lässt. Nehmen wir daher Das Urteil von Franz Kafka.

Darin überlegt ein Mann lange, ob er seinem Freund in Sankt Petersburg von seiner Verlobung berichten soll. Als er sich schließlich dazu entschließt, berichtet er seinem Vater davon. Doch dieser stellt in Zweifel, ob es den Freund überhaupt gibt – der erste Plot Point. Auch hier zeigt sich also eine Entwicklung, die kurz darauf in ihr Gegenteil verkehrt wird. Die Geschichte nimmt so erst richtig Fahrt auf, wird verworrener, düster, bevor ein weiterer Plot Point das Ende einleitet.

Auf der Suche nach einer Idee solltest du dich jedoch zunächst nicht mit Plot Points befassen. Das gehört zur Umsetzung der Idee. Plot Points in Filmen oder Geschichten zu identifizieren, kann allerdings hilfreich sein, um das Wechselspiel zwischen Erwartung und Enttäuschung zu verinnerlichen.

Auf einer übergeordneten Ebene kann auch Das Urteil auf die Struktur X passiert, dann jedoch Z heruntergebrochen werden: Alles scheint in Ordnung, der Vater gibt den Staffelstab allmählich weiter und der Sohn leitet die Geschäfte mit zunehmender Dominanz – dann aber kommt alles ganz anders, der Vater deckt geheime Machenschaften des Sohnes auf und verurteilt ihn zum Tode.

5. Eine ausbuchstabierte Idee: Die Log Line

Die Log Line fasst die Handlung deiner Geschichte, abgesehen vom Ende, in einem prägnanten Satz zusammen. Sich eine solche zu überlegen, ist sehr hilfreich für jede Art von Geschichte, aber auch für Kurzgeschichten im Speziellen. Deshalb habe ich der Log Line einen eigenen, umfangreichen Artikel gewidmet. An dieser Stelle sei daher nur gesagt, dass die Idee zu einer Kurzgeschichte nicht alle Elemente einer Logline enthält, während die Log Line, bis auf das Ende, alle Elemente der Idee umfasst. Ein Beispiel: Max Frischs Der andorranische Jude.

Struktur: Der Protagonist sieht sich aufgrund seiner Eigenschaft Z der Behandlung X ausgesetzt, bis schließlich herauskommt, dass er Z gar nicht besaß.

Motiv: Nationalitäten, Vorurteile, Rassismus, Antisemitismus und die Blindheit, die sie in einem hervorrufen.

Idee: Ein Jude wird von seiner Gemeinschaft ausgegrenzt und missachtet, eben weil er Jude ist, bis er schließlich von einem Teil dieser Gemeinschaft getötet wird. Später erfährt man, dass er ein Findelkind gewesen ist, und somit Einheimischer wie alle anderen.

Die Log Line hingegen enthält noch weitere Elemente.

Log Line: Als ein Jude in Andorra aufgrund seiner Herkunft von der dortigen Gemeinschaft missachtet wird, beginnt er, an sich zu zweifeln und zunehmend die ihm zugeschriebenen Eigenschaften zu übernehmen, obwohl er doch eigentlich nur dazugehören will – was die Abneigung gegen ihn nur weiter verschärft.

Die Log Line ist also deutlich handlungsbezogener: Der Protagonist und seine Schwächen werden betont, sein Ziel, das dafür angewandte Mittel und das auftauchende Hindernis. So etwas denkt man sich nicht aus, bevor man eine Ahnung hat, welche Struktur, welches Motiv und damit welche Idee man seiner Kurzgeschichte überhaupt zugrundelegt. Im Nachhinein ist die Log Line jedoch ein hervorragendes Werkzeug, um die Stimmigkeit und Geschlossenheit der eigenen Geschichte zu überprüfen: Fällt es dir leicht, eine Log Line zu formulieren?

6. Ist das nicht alles zu technisch?

Stimmt schon: Wenn wir an Literatur und an den Kuss der Muse denken, haben wir nicht irgendwelche abstrakten, inhaltsleeren Strukurdimensionen im Kopf.

Aber du hast diesen Artikel angeklickt, weil es dir schwerfällt, Ideen zu entwickeln. Das bedeutet übersetzt: Du hast deren Zusammensetzung noch nicht verinnerlicht. Es ist wie beim Fußball. Natürlich wollen wir gerne den neuesten Trick von Ronaldo nachahmen und unseren Gegenspieler spektakulär aussteigen lassen. Und wenn wir das tun, können wir auch nicht mehr über die einzelnen Schritte nachdenken, dann geht es ruckzuck, instinktiv. Aber um den Trick zu lernen, müssen wir uns anschauen, wann wir mit welchem Teil des Fußes wo den Ball berühren müssen.

Genau dabei hilft dir dieser Artikel. In der folgenden Grafik sind noch ein paar Beispiele aufgeführt, wie sich aus Struktur und Motiv eine Idee ergibt:

Kurzgeschichte Idee

Solltest du noch anderweitig Schwierigkeiten mit dem Verfassen einer Kurzgeschichte haben, hilft dir mein Artikel über grundsätzliche Tipps samt praktischer Übung weiter: Eine Kurzgeschichte schreiben.

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Ein sehr guter Text Kurzgeschichten 101

Kurzgeschichte 101: Aufbau und Plot Point

Eine Kurzgeschichte ist verdichtetes Erzählen: die Dinge passieren schnell, sie beginnen unvermittelt und laufen auf eine einzige Sache hin, ein Gefühl, eine Pointe. Das stellt dich als Autor vor diverse Herausforderungen. Wie in der Kürze der Zeit prägnante Figuren einführen? Wie eine Handlung vorantreiben? Wie den Leser in die Welt der Geschichte eintauchen lassen? Was ist zu vermeiden?

Kondensierte Exposition

Doch die grundlegende Voraussetzung für das Gelingen einer jeden Kurzgeschichte ist ihr Aufbau. Anfang, Mittelteil und Schluss stellen besondere Anforderungen, anders als bei einem großen Roman. In diesem Artikel geht es um die gelungene Exposition und den richtigen Einsatz des ersten Plot Points, ohne die eine Kurzgeschichte nicht funktioniert (was gelogen ist, denn es gibt viele exzellente „Kurzgeschichten“, also Texte ohne echte Handlung). Als Beispielwerk wird Roald Dahls Lamb to the Slaughter (Lammkeule in der deutschen Übersetzung) herangezogen.

Lamb to the Slaughter ist ein glänzendes Beispiel für eine rasante, eindringliche Exposition, auf die ein erschütternder erster Plot Point folgt. Plot Points sind die Punkte in einer Geschichte, an denen sich die Handlung unerwartet dreht, nachdem der sogenannte Inciting Incident sie zuvor in Gang gesetzt hat. Roald Dahl liefert hierzu ein Beispiel par excellence. Den Anfang macht eine grandiose Charaktereinführung:

Hin und wieder blinzelte sie zur Uhr hinüber, aber ohne jede Sorge, sondern bloß um sich an dem Gedanken zu erfreuen, dass jede verstreichende Minute sie näher an den Punkt brachte, an dem er nach Hause kommen würde.

Roald Dahl, Lamb to the Slaugther (eigene Übersetzung)

Dahl etabliert in dieser Exposition mit wenigen Pinselstrichen das Bild einer idyllischen Ehe und einer fürsorglichen Gattin, die im Übrigen im 6. Monat schwanger ist, ihrem Mann bei dessen Ankunft verständnisvoll einen Drink reicht und wartet, bis er nach seinem langen und harten Arbeitstag zum Reden bereit ist. Wie das Zitat verdeutlicht, hilft ihm eine beeindruckende Präzision in der Beschreibung des vermeintlich Alltäglichen dabei, dies innerhalb weniger Zeilen zu bewerkstelligen. Dann passiert das beim Lesen der Kurzgeschichte wunderbar Irritierende: Ihr Mann muss ihr etwas sagen (Inciting Incident). Eingeleitet wird diese Irritation durch einen Bruch mit der Routine:

Und während er sprach, tat er etwas Ungewöhnliches. Er hob sein Glas und leerte es in einem Schluck, obwohl noch die Hälfte, mindestens die Hälfte davon übrig war.

Roald Dahl, Lamb to the Slaugther (eigene Übersetzung)

Der Leser weiß nun, dass sich etwas anbahnt, ein Unheil, und die Geschichte beginnt ihn zu interessieren, wo ihn zuvor nur die aufopferungsvolle Hausfrau interessierte (was aber ebenfalls ein Kunststück Dahls darstellt). Darauf folgt der erste Plot Point (sein Inhalt sei hier verschwiegen, lies die Geschichte!), den ich deshalb auch Gaspedal nenne – an diesem Punkt beschleunigt die Kurzgeschichte und gewinnt an Fahrt.

Genauer betrachtet, etabliert Dahl mit seiner Exposition neben der Figur der Ehefrau und des Ehemanns und ihres Verhältnisses zueinander zunächst ein bestimmtes Bild, um genau dieses Bild dann im nächsten Moment in Zweifel zu ziehen und zu bedrohen. Dadurch entsteht Dramatik.

Gas geben

Ein simples Beispiel für diese Vorgehensweise wäre folgender Beginn einer Kurzgeschichte:

Schon hunderte Male hatte ich das Seil an den Felsvorsprung geknotet, hunderte Male hatte ich es danach und vor dem Abseilen geprüft, kannte den Stein und das Seil inzwischen wie Bruder und Schwester und war doch nie eine Spur nachlässig geworden, hatte nie Routine mit Überheblichkeit verwechselt. Und so folgte ich auch diesmal dem Protokoll.

Auf halbem Weg ins Tal, irgendwo zwischen Meter 120 und 150, vernahm ich einen seltsamen Schatten oben am Felsvorsprung. Ich warf den Kopf in den Nacken, um den Stand der Sonne zu prüfen, glitt mit meinem Blick die Baumkronen entlang, um die Ursache dieses Schattens auszumachen, als sich dieser in Bewegung setzte.

(fiktives Beispiel)

Dieses sehr einfache Beispiel zeigt das Prinzip: Etablierung eines bestimmten Zustands, gefolgt von der Bedrohung dieses Zustands. In diesem Fall: ein routinierter Kletterer, der keine Fehler macht, gefolgt von einem Schatten (einer Person?) am anderen Ende des Seils. Hat er doch einen Fehler gemacht? Was wird nun passieren? Plötzlich ist die Geschichte in Bewegung gekommen – und der Leser ist eingestiegen. Der erste Plot Point lautet: Der Schatten bewegt sich.

Die große Kunst besteht nun darin, bereits die Exposition anregend zu gestalten und tatsächlich interessante Figuren zu zeigen, bevor es überhaupt zum ersten Plot Point kommt. Grundsätzlich aber gilt der einfache Grundsatz: Als Autor einer handlungsgetriebenen Kurzgeschichte ziehst du an einem Seil, und dann, kurz darauf, ziehst du es in die entgegengesetzte Richtung. Ein Meister dieser Vorgehensweise war Anton Tschechow, dessen Geschichte Wanka ich in einem Essay zur Ideenfindung für eine Kurzgeschichte analysiere.

Grundsätzliche Tipps und eine praktische Übung für das Verfassen von Kurzgeschichten findest du in diesem ausführlichen Artikel: Eine Kurzgeschichte schreiben.

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