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Mario und der Zauberer [Analyse]

Thomas Mann ist vielleicht der bedeutendste deutschsprachige Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Vielleicht. In seiner Novelle Mario und der Zauberer aus dem Jahr 1930 zeigt er, warum. Und ich zeige dir in dieser Analyse, warum genau.

Die Novelle beginnt mit eher allgemein gehaltenen Schilderungen des italienischen Urlaubsparadies, in das es die Familie des Ich-Erzählers mit zwei Kindern verschlagen hat: schwüles Wetter, der Wandel, den der Urlaubsorte durch den steten Zustrom an Touristen durchlebt hat, die insgesamt eher gedrückte Stimmung.

Gedrückte Stimmung

Es sind die späten Zwanziger Jahre, Italien ist faschistisch. Im Grand Hotel verweigert man der Familie die Bewirtung, inländische Urlauber werden bevorzugt. Als die achtjährige Tochter nackt ihren Badeanzug im Meer ausspült und damit die Sittenwächter auf den Plan ruft, ist die Urlaubstimmung endgültig dahin. Abreisen hätte man sollen, konstatiert der Erzähler. Sie bleiben, und wechseln nur das Hotel.

Zudem hat sich der Zauberer Cippola angekündigt, den die Kinder nicht verpassen wollen. Man kauft vier Eintrittskarten. Im Saal angekommen, setzt sich das Unbehagen des Erzählers fort. Der Zauberer entpuppt sich als Hypnotiseur, gar als Meister seines Fachs, der das anfangs reservierte Publikum mit den obszönen Zurschaustellungen seines Könnens Stück für Stück für sich einnimmt. In der Pause will man aufbrechen, aber auch hier, im Kleinen, kann sich die Familie nicht dazu durchringen.

Cleverer Rückbezug

Thomas Mann nutzt hier den alten Van-Gogh-Trick: Wie dieser in seinem Gemälde The Cottage zunächst den brennenden Himmel malte und dann einen Tupfer derselben Farbe ins Innere des Hauses setzte, um das dort leuchtende Feuer zu malen, hat auch Mann zunächst mit großem Pinsel das Unbehagen und die „Merkwürdigkeit“ des gesamten Ortes beschrieben, ehe er sie im Kleinen, in der Bretterbude des Hypnotiseurs, wieder aufflammen lässt.

Thomas Mann van Gogh Mario und der Zauberer

Van Gogh erzählt dadurch von der Verwandtschaft allen Lichtes mit sich selbst, davon, wie der Mensch in die Natur eingebettet ist, und ihr trotz seines „künstlichen“ Lichts nicht entkommen kann. Mann erzählt dadurch von der Wirkung der merkwürdigen Stimmung (des Faschismus?) auf alle Bereiche des Lebens, aber auch von der bösen Vorahnung, denn der Zauberer dort oben auf der Bühne ist nicht einfach nur ein Künstler.

(Mehr zum Thema van Gogh, The Cottage und der Funktion von Rückbezügen erfährst du auf meinem YouTube-Kanal.)

Der Verführer auf der Bühne

Nach der Pause treibt der Cipolla es auf die Spitze, hebt die Hand zum römischen Gruß und lässt den ganzen Saal tanzen. Es wird offensichtlich, was zuvor vage im Subtext der Novelle umherwaberte: Der Hypnotiseur zeigt als Verführer der Massen faschistische Züge, ist als Einzelperson, die über den Willen Einzelner gebietet, ebenso deren Führer wie Ruin. Erschrocken wenden sich die Vorgeführten von sich selbst ab, wenn sie erkennen müssen, wozu sie verleitet wurden. Und dennoch folgen Sie ihm alle, applaudieren.

Dabei sind es die Bürgerlichen, die dem Verführer am leichtesten in die Falle gehen. Dass der Erzähler selbst sich nicht losreißen kann, obwohl er – moralisch erhaben, wie es seinem Stand entspricht – schon zu Beginn die Obszönität der Darstellung erkennt, ist bezeichnend. Auch die Widerworte gegen den Hypnotiseur ertönen vor allem von den billigen Plätzen, wo man sich besonders selbstbewusst auf die eigene Willensstärke beruft. Dass sie dennoch gebrochen wird, ist die Tragik des Faschismus.

Die bürgerliche Lähmung

Als Mario, der nette Kellner, schließlich dazu gebracht wird, den hässlichen Hypnotiseur zu küssen, kommt es zur Katastrophe: Mario erwacht aus seiner Trance, realisiert die Blamage, und erschießt Cipolla. Dass der Erzähler erst in Anbetracht dieses direkten Gewaltausbruchs seine Kinder fortschafft, ist die feine Ironie: Das Gute ist den Bürgerlichen schrecklich genug, um den Blick abzuwenden, beim Dämonischen gelingt es ihnen nicht. Diese Dekonstruktion bürgerlicher Moral erinnert an Funny Games von Michael Haneke, der die schizophrene bürgerliche Haltung zur Gewalt thematisiert.

Darüber hinaus gibt es kein Vertun: Mario wird entwaffnet und abgeführt, für seine Tat wird er büßen. Die Bürgerlichen sind es, die schadlos davonkommen, obwohl sie nichts dazu beigetragen haben, das dämonische Schauspiel zu beenden. Damit wirft Mann die Frage nach der Unschuld des Zuschauers auf, danach, ob man nicht Ermöglicher des Unheils ist, wenn man nichts unternimmt. Und ob sich mitlaufen nicht genau so anfühlt.

Eine aktuelle Zeitdiagnose

So prophetisch all dies fast 100 Jahre später wirkt (Cipolla trägt Schnauzbart!), die wahre Pointe ist eine andere. Die Willensfreiheit existiert, das bezweifelt auch Cipolla nicht. Aber man muss genau hinsehen:

Widerstand wird mir meine Aufgabe etwas erschweren. Doch am Ergebnis wird Ihr Widerstand nichts ändern. Die Freiheit existiert, und auch der Wille existiert; aber die Willensfreiheit existiert nicht, denn ein Wille, der sich auf seine Freiheit richtet, stößt ins Leere.“

Thomas Mann – Mario und der Zauberer

Das ist Sophisterei, denn natürlich ist mit dem Begriff der Willensfreiheit nicht gemeint, nichts zu wollen, sondern frei darin zu sein, was man will. Aber dennoch trifft der Verführer damit einen wahren Kern: Letztlich muss man etwas wollen, eine geistige Leere hält man nicht lange aus. Mehr noch: Nichts zu wollen oder allen fremden Befehlen zu gehorchen, sind benachbarte Geisteszustände. Übertragen auf den großen Rahmen heißt das: Wenn also eine Gesellschaft im Kern nichts mehr will, keine einende Erzählung parat hat, und jeder selbst seines Glückes Schmied sein soll, dann ist sie längst bereit, verführt zu werden.

Thomas Mann hat das in den späten Zwanzigern des 20. Jahrhunderts so empfunden, und man kann nicht umhin, seine Diagnose für aktueller denn je zu halten.

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Anatomie eines Falls [Analyse]

Ein Fenstersturz. Doch die Fensterbank ist zu hoch, um einfach über sie zu in die Tiefe zu fallen. Niemand hat etwas gesehen. Der Sohn ist ohnehin fast blind, vom Assistenzhund sind keine Aussagen zu erwarten und die Ehefrau (Sandra Hüller) – nun ja, die Ehefrau …

So kurz und knapp lässt sich das, was in Anatomie eines Falls passiert, zusammenfassen. Ein herkömmlicher Whodunit, möchte man meinen, vielleicht ein Polizeidrama (nicht wirklich) oder ein Gerichtsthriller (schon eher). Und tatsächlich passiert sonst nicht allzu viel, dreht sich das Geschehen vor allem um die Frage, wie und warum Samuel Maleski ums Leben gekommen ist. Klar, da ist der befreundete Anwalt der Ehefrau, und irgendwie sprühen da alte Funken zwischen den beiden. Und natürlich rückt die Beziehung der Eheleute in den Fokus, wird sie aufs Hochnotpeinliche durchleuchtet. Aber am Ende steht die Kamera doch viel im Gericht oder wartet gemeinsam mit den Protagonisten darauf, dass es (wieder) dorthin geht.

Realität und Fiktion verschwimmen

Allerdings, und da lässt Anatomie eines Falls das bloße Prädikat „handwerklich gut gemacht“ hinter sich, wartet der Goldene-Palme-Gewinner mit reichlich Subtext auf. Das beginnt mit der Entscheidung, die Eheleute mit den Vornamen ihrer Darsteller auszustatten: Sandra und Samuel. Beide sind Schriftsteller, Sandra schreibt autofiktional, verwebt also Erlebtes in ihre Geschichten, ja man könnte sagen, zieht erst aus ihrem eigenen Leben überhaupt den Stoff für ihre Erzählungen. Als ihr Sohn durch einen Unfall nahezu erblindet, wird daraus ihr drittes Buch. Bereits hier verwischen also die Grenzen von Realität und Fiktion.

Gleichzeitig enthält sich der Film stoisch jeglicher Eindeutigkeit. Den eigentlichen Mord, Unfall oder Selbstmord sehen wir nicht, nur bemühte Nachstellungen der Ermittler, Visualisierungen ihrer Spekulationen. Und selbst als wir per Rückblende, die eine authentische Audiodatei bebildert, die vor Gericht abgespielt wird, mitten in die langsame Eskalation eines Streits der Eheleute hineingeraten, wird uns der Anblick des Gewaltausbruchs verwehrt. Cut, zurück in den Gerichtssaal. Schreie, Schläge. Wer schlägt wen? Wer ist Opfer, wer Täter?

Mit Wahrheit nicht befasst?

Die dem 11-jährigen Sohn zur Seite gestellte Betreuerin weiß Rat: Wenn man einfach nicht weiß, was man glauben soll, muss man sich eben entscheiden. Das tut der Junge und erzählt vor Gericht eine bislang unbekannte Geschichte, die den Ausschlag gibt: Sein Vater habe ihm einst erklärt, dass er sich gefasst machen müsse auf den Tod des geliebten Hundes. Früher oder später wird er nicht mehr da sein. Das wird ein harter Schlag, aber die Welt geht davon nicht unter, Sohn. „Er hat von sich geredet“, liefert der Sohn selbst die naheliegende Interpretation. Die Geschichte des Sohnes ist die entscheidende: Sandra wird von den Geschworenen freigesprochen.

Und damit geraten wir in den erzählerischen Kern von Anatomie eines Falls. Wird Wahrheit entdeckt? Oder gemacht? Und wenn ja, wie? Sind Gerichte mit Wahrheitsfindung befasst? Sandras Anwalt verneint dies: „Es geht um das, was wir glauben.“

Auffällig auch die immer wieder von der Kamera eingefangenen Fotografien glücklicherer Tage: Sind sie Erinnerungen an Gewesenes? Oder die nachträgliche Konstruktion einer Pseudo-Vergangenheit? Wenn Wahrheit nichts Entdecktes ist, dann muss die Antwort lauten: Fotografieren ist nichts anderes als die Fabrikation von Beweisen. Schau doch, wie glücklich wir waren. Aber waren wir das?

Man muss sich entscheiden

Folgerichtig überlasst Regisseurin Justine Triet es dem Zuschauer, zu entscheiden, was passiert ist; wer schuldig ist und wer nicht. Eine eindeutige Auflösung, Höhepunkt eines jeden Whodunit, gibt es nicht. Trotzdem trifft der Film dabei eine Aussage: Die Wahrheit mit großem W, unabhängig von uns und unseren Vorlieben, Verwicklungen und Entscheidungen, gibt es ebenso wenig.

Und so zeigt Anatomie eines Falls mustergültig auf, wie man als Autor aus dem Gewohnten ausbrechen und dadurch Großes schaffen kann: indem man einen Grund dafür findet. Denn hätte Triet einfach so auf eine Auflösung verzichtet, ohne den Subtext zu Wahrheit als Konstruktion, als Glaubensakt, wäre alles in Beliebigkeit verlaufen. Umgekehrt gilt: Warum auf eine Auflösung verzichten, wenn man nicht einen Standpunkt vertritt, der das motiviert, der dadurch ausgedrückt wird?

Form und Subtext bedingen sich

Es ist diese gegenseitige Bedingheit, die aus Entscheidungen zu Inhalt und Form einerseits und Subtext/Motiv/Aussage andererseits eine überzeugende Einheit macht, ja sie überhaupt erst ihre volle Wirkung entfalten lässt. Den meisten Geschichten fehlt diese Einheit. Deshalb wirken sie entweder unnötig avantgarde (wenn der Form oder dem Inhalt nichts Essenzielles zugrunde liegt) oder sperrig, unzugänglich (die Essenz findet keinen formalen oder inhaltlichen Ausdruck).

Für dich als Autorin heißt das: Du brauchst beides. Und dann muss es auch noch zueinander passen. Wahnsinn, oder?

Was kommt zuerst, mag man sich da fragen. Aber das ist unmöglich zu sagen. Stand zuerst die Idee, lebendige Dinos aus einem Dino-Zoo ausbrechen zu lassen, oder die Einsicht, dass man die Natur beziehungsweise das Leben nicht kontrollieren kann, so weit man auch technologisch voranschreitet? Michael Crichton wird es uns nicht verraten. Wir müssen uns entscheiden.

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ARD-Serie „Kafka“

Kafka, Kafka, Kafka. Man kommt dieses Jahr nicht herum um ihn, denn er ist 100 Jahre tot. Natürlich zieht das auch öffentlich-rechtliche Produktionen nach sich, und hätte es das nicht, müsste man seinen Rundfunkbeitrag zurückfordern. Neben Dokumentation und Gesprächen wartet die ARD gleich mit einer ganzen Serie auf: „Kafka“ heißt sie schlicht und behandelt das Leben Franz Kafkas, basierend auf der lesenswerten Biografie Reiner Stachs. Aber taugt sie?

Die große Banalität

Kosten hat man jedenfalls nicht gescheut, von Daniel Kehlmann als Drehbuchautor über Charlie Hübner und Lars Eidinger in winzigen Gastrollen bis hin zum Historien-Hochglanz-Look, der aus Babylon Berlin und Co. bekannt ist, hat man versammelt, was die deutschsprachige Mainstream-Filmproduktion 100 Jahre nach Kafkas Tod hergibt. Und da beginnen die Probleme.

Keineswegs hat man Mühen gescheut, wo es um Faktentreue ging, gönnte sich gar Stach als Supervisor, und so sagt der Franz Kafka der Serie auch kaum ein Wort, das der gleichnamige reale Autor vor 100 und mehr Jahren nicht irgendwo zu Papier gebracht hat. Man fragt sich, wozu es dann einen Daniel Kehlmann brauchte, um die Dialoge zu schreiben. Oder anders gesagt: Wo all das unter diesen Umständen anders hätte hinführen sollen als in die große Banalität, die die „Kafka“-Serie der ARD über sehr weite Strecken geworden ist.

Fakten, Fakten, Fakten

Denn sofern man Kunst betreiben will, erweist sich der Glaube an das Faktische als zentrales Manko, und es ist wohl auch der einzige Makel, den man der zugrunde gelegten Kafka-Biografie von Reiner Stach vorwerfen könnte: von Regisseur David Schalko bis Kehlmann sind die hier Beteiligten allesamt dem Trugschluss erlegen, man könne etwas Wahres über eine reale Person erzählen, indem man Fakten aneinanderreiht. Hätten sie Kafka doch nur zugehört: „Wer sucht, wird nichts finden.“ Oder um es mit Werner Herzog zu sagen: Erst jenseits der Fakten entspinnt sich eine Wahrheit, die groß genug ist, um ein Leben zu umschließen. Diese Wahrheit zu erschließen, darin besteht die Kunst.

Von Anfang an kann man sich daher dem Eindruck nicht verwehren, dass hier gar nicht erst versucht worden ist, eine eigensinnige Sicht auf das Phänomen Kafka zu entwickeln, oder auch nur auf das Leben dieses Menschen selbst. Stattdessen regiert die Objektivität, aus der sich dann notgedrungen der banalste aller Deutungsversuche ergibt, selbst wenn man sich große Mühe gibt, nichts zu deuteln: des Künstlers Leben inspirierte ihn zu seinen Texten. Diese immer wieder willensstark bebilderte Beziehung bleibt allerdings stets eine Verlegenheitshandlung, denn es gibt in den universalistischen Texten dieses Schriftstellers nichts Partikulares: Wir würden sie, das sieht Stach genau so, auch dann lesen, wüssten wir rein gar nichts von ihrem Verfasser.

Bemüht anders

So ist es dann auch nicht verwunderlich, dass die Serie sich nach Kräften bemüht, ansonsten anders zu sein, Mittelchen und Wege einschlägt, die dieses Anderssein betonen sollen und gerade deshalb platt und abgegriffen wirken. Dazu beigetragen haben mag die fehlende Originalität: Kafkas Einführung aus dem Off klingt nach „Die fabelhafte Welt der Amelie“, wenn unerhebliche Details aus dem Leben des Schriftstellers zum Besten gegeben werden („Dreimal war er am Meer“). Köstume und Sets entsprechen in ihren durchchoreografierten Farbnuancen in ihren guten Momenten der Wes-Anderson-Ästhetik aus Filmen wie „Grand Budapest Hotel“, die von dort bekannte Besetzung selbst der kleinsten Rollen mit großen Stars verstärkt diesen Eindruck noch. In ihren schlechten Momenten ist kein Unterschied zu den zig anderen ÖR-Hochglanzproduktionen zu erkennen, die zwischen Jahrtausendwende und Zweitem Weltkrieg spielen.

Alternativen hätte es gegeben, sogar naheliegende: Die Ästhetik der Stummfilme der damaligen Zeit hätte man aufgreifen können, Kafka selbst war begeisterter Kinogänger. Man hätte darüber nachdenken können, vom Hochglanz Abstand zu nehmen, etwas mehr Filmkorn, vielleicht sogar Musik. Wie man mit filmischen Mitteln eine vergangene Zeit aufleben lässt, hat zuletzt „The Holdovers“ gezeigt. Aber natürlich ist die Musik atonal, kurze, bedrohliche Klänge, Streicher. Dafür warten die Beteiligten mit dem Bravourstück auf, einen Kafka behandelnden Arzt über die Lunge als „wichtigstes Organ“ referieren zu lassen, während dieser sich eine Pfeife ansteckt. Jaja, so war das damals. Man müsste es Hilflosigkeit nennen, wenn man nicht glauben würde, dass insbesondere Kehlmann zu mehr im Stande gewesen wäre.

Bloß nicht überfordern

Mit der ARD-Serie „Kafka“ haben sich die Macher also auf das herrschende öffentlich-rechtliche/filmförderungskompatible Mantra zurückgezogen: Bloß nicht überfordern. Das ist umso dramatischer, da es sich mit Kafka ja gerade umgekehrt verhält: Kafka ist nicht eingängig und deshalb populär, sein Werk ist geradezu verschlossen, und das das daran Faszinierende.

Was ihnen immerhin gelingt, auch wenn es in die völlig falsche Richtung führt, ist, dass man als Zuschauer vergisst, wo die Grenze verlaufen ist zwischen dem Leben und dem Werk, dass man ihrer These – die keine sein soll und es doch ist – also anschaulich habhaft wird, da man sie selbst erlebt: Hatte Kafka einen Nebenbuhler um die Gunst des Direktors, der gleich im Zimmer nebenan sein Werk tat und nie zögerte, Kafka schlecht aussehen zu lassen, oder war es Josef K.?

Die Furcht vor dem Bild

Allein, das gelingt nur bei jenen Zuschauern, die Stachs Biografie gelesen haben, und ist keineswegs originell. Vor 15 Jahren sah ich ein Stück über Kafka am Kölner Schauspielhaus, es war grässlich. Aber nicht vergessen kann ich den Beginn: Der Vorhang zieht auf, am Ende der tiefen Bühne stehen mannshohe schwarze Buchstaben: K A F K A. Drei Männer betreten die Bühne und tragen die Buchstaben fort, nicht ohne sie dabei durch andere zu ersetzen, und schließlich steht dort: S A M S A.

Ich war damals 21 und sehr beeindruckt von der mir so vor Augen geführten frappierenden Ähnlichkeit, die Zufall nicht sein konnte. Dass die ARD-Serie „Kafka“ nun 15 Jahre später nicht über diese Einsicht hinaus gelangt, mag unter anderem der Tatsache geschuldet sein, dass es auch heute 21-Jährige gibt, die nicht darum wissen. Dass sie dabei in 5 Stunden Spielzeit aber nicht wenigstens nach ähnlich gelungenen Bildern sucht, ist eine Blamage.

So bliebe nichts weiter als zu konstatieren: „ARD-Serie Kafka geschaut. Geweint.“ Wenn da nicht doch ein einzelnes Bild wäre, das versöhnt, doppeldeutet, und eine Haltung wagt. Es wirkt in seiner Vereinzelung fast wie ein Versehen, aber das war es natürlich nicht: Nach einem nicht minder einfältigen, eine Folge dauernden Gespräch zwischen Franz Kafka und der Autorin Milena Jesenská darf die sie darstellende Liv Lisa Fries schließlich noch etwas Gehaltvolles sagen.

Liv Lisa Fries rettet den Tag

Wie sie es sagt, rechtfertigt diesen Gastauftritt, es ist der einzige, dem das gelingt. Was sie sagt, ist interessanter als jedes andere Wort zuvor: der schwache Kafka sei eine Erfindung desselbigen, und etwas fertig zu schreiben unter seiner Würde. Nur die Umstände, die ihn allenthalben am Schreiben, Lieben und Leben hindern, die seien ihm heilig.

In Milenas Anklage mischt sich die Anklage der Leserschaft, auch eines Reiner Stachs vielleicht: Unser lieber Herr Kafka, haben Sie es sich nicht reichlich einfach gemacht?

Und dann kommt das Bild: Am Bahnsteig steigen die beiden in eine Tram. Im Hintergrund erscheint ein Plakat des Naturtheaters Oklahoma, das Karl Roßmann, die Hauptfigur aus Kafkas „Der Verschollene“, am Ende des Romans zu sich ruft. Die Kamera nähert sich. Abermals vermischen sich in der Serie Fiktion und Realität, aber dieses Mal ist es nicht banal, weil einmal nicht nur stumpf der Zusammenhang dieser beiden Bereiche betont wird.

Denn Kafka hat kein Ende gefunden für „Der Verschollene“. In den Tagebüchern ist Jahre vor der Begegnung mit Milena eines angedeutet, dass jenem des Josef K. ähnelt. Doch im Gras liegend präsentiert Milena Kafka zuvor eine andere Möglichkeit: Nichts passiert mehr, Karl Roßmann wird einfach vom Theater aufgenommen. Kafka lächelt.

Das Bild vom Plakat des Naturtheaters sagt nun: Auch in der Realität wäre das doch möglich gewesen. Kafka lässt sich ein mit Milena, dem Zirkus, der ihr Leben zu sein scheint, und das war es dann. Vielleicht schreibt er dann sogar die Dinge zu Ende. Oder hat er das beim Verschollenen womöglich, denn er endet ja wie vorgeschlagen: Nichts passiert mehr?

Vier Züge

Stattdessen aber steigt Kafka in einen Zug, der ihn zurück in die Prager Innenstadt bringt, nicht nach Wien zu Milena, und Milena steigt in einen Zug, und Jahre später in einen weiteren, der sie ins KZ Ravensbrück deportiert. Und für einen Moment haben wir dank Kehlmann, Stach, Schalko, Gschlacht und Fries einen vierten Zug vor Augen, der die beiden nach Oklahoma bringt, wie im Roman. Es scheint unbezweifelbar: Das große Naturtheater Oklahoma hat nach ihnen gerufen, wie auch nach Kafka im Speziellen. Doch „Wer die Gelegenheit versäumt, versäumt sie für immer“, steht es auf dem Plakat und spricht es zu Kafka und uns, und dann geht etwas auf in einem, ist man zum ersten Mal von dem Mediathek-Geschehen auf der Flimmerkiste bewegt.

Es ist das heimliche Ende der Serie. In Folge 6 ergeht man sich wieder in Banalitäten, zumal man Kafkas Widerwillen gegen die sogenannte „Schulmedizin“, die Therapierbarkeit seiner Tuberkulose derart bemüht außen vor lässt, dass es feige wirkt. Stachs Biografie ist dieser Vorwurf nicht zu machen, was die Frage nach dem Warum nur noch verstärkt. Aber es passt zur homöopathischen Dosis an Überforderung und Mut, die in der ARD-Serie „Kafka“ im Gesamten steckt.

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Das Leben der Anderen [Analyse]

Jeder guten Geschichte liegt eine sie tragende Einsicht zugrunde – oder wenigstens eine einsichtige Frage. Aufgabe der Geschichte ist es dann, von dieser Einsicht zu erzählen oder diese Frage zu entfalten. Wenn diese Einsicht banal ist, ergibt das Ganze eine Heldengeschichte, wie in Star Wars zum Beispiel: Glaube an dich, du kannst zu den Sternen fliegen und ein großer Jedi werden – es sei denn, du hörst auf die Zweifel.

Wenn diese Einsicht komplexer ist, reichhaltiger, vielschichtiger, dann entstehen Geschichten, die entsprechend weniger leicht fassbar sind, wie Kafkas „Die Verwandlung“ etwa. Worum geht es hier? So genau wissen wir es nicht, aber wir sehen uns gezwungen, darüber nachzudenken, und könnten wir Kafka heute fragen, ihn mit Wein und Amphetaminen gefügig machen, in einem schwachen Moment erwischen, dann würde er sicher eine Antwort zu tage fördern: „Um den Kapitalismus natürlich, der uns alle über kurz oder lang gleichzeitig zu Ungeziefer und zu Parasiten macht.“

Nur ein bisschen Einsicht haben

Und natürlich gibt es auch noch die Nebenhandlungen, auch in Mainstreamkino wie Star Wars, die ihre ganz eigenen Einsichten transportieren: Han Solos Geschichte handelt davon, was Freundschaft wert ist, ob man ihr zuliebe den eigenen Vorteil vergessen kann, oder ob das Romantik derer ist, die nicht Schmuggeln müssen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Deshalb ist es Han Solo, der Darth Vader in die Weiten des Alls schießt, kurz nachdem er die Rebellen verlassen hat, da er hatte, was er brauchte, Sold und einen intakten Millenium Falcon. Und Chewie, der ein flauschiger früher Hinweis auf das Gute in Han Solo ist. Und deshalb ist Han es, der in Carbonit eingefroren wird, und den seine Freunde in der gottverlassenen Einöde aus den Fängen von Jabba dem Hutten retten kommen, denn das ist, was Freunde tun.

Ob eine Geschichte nun gelungen ist oder nicht, hängt dabei nicht von der Qualität der Einsicht ab. Auch das zeigt Star Wars. Aber es hängt davon ab, ob es eine solche Einsicht im Kern gibt, also ob die Frage: „Ja, und was wollte mir des jetzt sagen?“ zu Diskussionen einlädt oder nur ein Achselzucken entlockt. Und davon, ob diese Einsicht tatsächlich erzählt, also gezeigt wird, oder mit dem Holzhammer in unser aller Münder gestopft wird, bis wir nicht anders können, als sie zu schlucken. Auch in diesem Fall ist also Diskussionsraum von nöten, Vagheit, das Ungefähre.

Donnersmarck hat richtig Einsicht

Und dann gibt es noch einen dritten Fall, und den beherrscht niemand so schön wie Florian Henckel von Donnersmarck: Die zugrundeliegende Einsicht so geil finden, so stolz auf sie sein, dass man sie in aller Breite darlegt, sie überhöht, zelebriert und seziert, als sei sie im Grunde Gottes Wort und von jedermann zu hören.

Und da sind wir dann bei „Das Leben der Anderen“ angekommen, diesem deutschen Oscarfilm von eben jenem Regisseur, aus dem Jahr 2006. Zur Erinnerung: Ulrich Mühe, Stasi-Hardliner, hört dabei Sebastian Koch, DDR-Autor, ab, belauscht ihn also, denn es wäre gut für alle Beteiligten, also auf Stasi-Seite, wenn sich was finden ließe, um den Autor loszuwerden. Denn der Oberstasi, der will des Autors Frau. Slavoj Žižek hat zurecht darauf hingewiesen, dass schon in dieser rudimentären Handlung eine Verharmlosung des DDR-Regimes steckt, denn wenn da ein Parteibonze etwas wollte, dann hat er es sich halt genommen, so funktionieren Diktaturen, mein lieber Herr von Donnersmarck.

Doch Donnersmarck hält sich mit derlei Details nicht auf, er hat schließlich Großes zu verkünden. Der Reihe nach: Mühe bezieht also Stellung auf Kochs Dachboden, hört, protokolliert und nachvollzieht dessen Leben, aber so recht geht ihm nichts in Netz, der Autor scheint linientreu. Das Problem bei der Sache: Statt einem Komplott zu lauschen, lauscht Mühe notgedrungen rezitierten Versen Bertolt Brechts und der Sonate vom guten Menschen, denn des Autors Haushalt ist bildungsbürgerlich. Eine Prise In-die-Volksseele-schauen kommt auch noch hinzu und fertig ist die zutiefst naive und gleichzeitig so wunderbare, wahre Einsicht, auf die Donnersmarck zusteuert: Wer all das mitanhört, große Kunst und kleines Leid, der kann nicht anders, als selbst zum Humanisten zu werden.

Zu naiv, um wahr zu sein

Dieses „Hinhören verändert einen“ – ich meine wirklich hinhören – hat Donnersmarck dann Jahre Später in „Werk ohne Autor“ wieder aufgegriffen, dort ist es, kunstformgerechter, zum „Hinsehen verändert einen“ gereift, und Koch spielt den Ex-Nazi, dem es zupasskommt, wenn niemand so genau hinsieht, ganz wie dem deutschen Volk an sich, und so weiter.

Das Problem an der Sache ist nun, dass Donnersmarck das tatsächlich so durchzieht, er den zweifelnden Mühe zeigt, der der Sonate lauscht, der daraufhin beginnt, Informationen zurückhalten, Protokolle zu fälschen und dergleichen mehr. Donnersmarck geht also in seine eigene Falle, lässt sich mitreißen von seiner Einsicht, und verliert die Distanz zu ihr. Andernfalls hätte er diesen Prozess der Wandlung Mühes verkompliziert, Zweifel an den Zweifeln eingestreut, und etwas Sand in die Augen des Publikums gewischt, um seine Einsicht nicht ganz so plakativ dastehen zu lassen. Zumal eine solche Wandlung unter Stasi-Angestellten nicht dokumentiert ist. Aber die Einsicht soll ja strahlen, nicht wahr.

Bei „Werk ohne Autor“ wiederholt Donnersmarck diesen Fehler, nur mit mehr Bombast, was das Ganze schlimmer macht. Dennoch: Donnersmarck versucht in beiden Filmen etwas, er verfügt jeweils über eine simple, aber nicht unbedingt einfältige Einsicht, und er findet Bilder für sie, zeigt sie also, erzählt auf sie hin. Das macht beide Filme sehenswert.

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Franz Kafka: Die Verwandlung [Analyse]

Also gut, es ist Sonntagabend 22 Uhr, deine Eltern haben nach dem „Tatort“ schon die Zähne geputzt und du hast noch genau 8 Stunden Zeit, bevor du in die Schule fahren musst, um eine Deutschklausur über Kafkas Die Verwandlung zu schreiben. Du hast die Erzählung nicht gelesen. Idiot.

Aber weil es Menschen gibt, die fasziniert von diesem komischen dünnen Typen aus dem letzten Jahrhundert und seinen noch komischeren Geschichten sind, und deshalb Essays darüber verfassen, wie der Typ welche genialen Dinge getan hat, gibt es eine Rettung: Diesen Artikel. Darin werfe ich einen genaueren Blick auf die literarischen Mittel , mit denen Kafka es schafft, Die Verwandlung zu einer der prägendsten Erzählungen der Moderne zu machen.

Falls du nur noch in deinen unruhigen Träumen eine Schülerin bist, keine Sorge. Auch für dich, der nicht 8 Stunden, sondern mit etwas Glück und technologischem Fortschritt (*Lindner-Voice*) noch 80 Jahre bleiben, um endlich ihren verfluchten Roman fertigzustellen, haben die folgenden Seiten einiges zu bieten. Denn von Kafka lernen, heißt schreiben lernen.

1. Wie man verdammt nochmal beginnen sollte

Dabei ist von vornherein klar, dass eine solche Analyse nicht erschöpfend des Autors Raffinesse darlegen kann. Doch wenn auch nur ein Bruchteil der verwendeten Techniken aufgeschlüsselt werden kann, ist viel gewonnen für alle, die schreiben wollen oder Deutschklausuren schreiben müssen.

Anfangen soll man mit dem Anfang, heißt es, und so stürzen wir uns ohne biografische oder zeitgeschichtliche Umschweife gleich doppelt mitten ins Getümmel: Denn mit Kafkas Anfängen anzufangen, heißt auch, bereits direkt in der Geschichte zu stehen, die er auch im Fall der Verwandlung mit einem einzigen ersten Satz nahezu vollumfänglich ausbuchstabiert:

„Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.“

Franz Kafka – Die Verwandlung

Dieser Satz stellt beinahe eine ganze Log Line dar: Der Protagonist und sein Problem werden eingeführt und ein Rätsel etabliert (wie und warum ist es dazu gekommen?). Das geschieht derart brachial und schnell, dass der Leser sich dem Sog dieser Geschichte nicht entziehen kann. Zugleich ist der Grundkonflikt skizziert, der die Handlung und ihren Helden bestimmen wird: Welche Auswirkungen hat diese ungeheuerliche Verwandlung und wird Samsa diesem Zustand noch einmal entkommen können? Subtil, hauchzart nahezu, zieht Kafka mit diesem ersten Satz auch schon eine für diesen Grundkonflikt entscheidende Grenze: Samsa erwacht nicht irgendwo am Straßenrand, nicht im Omnibus, sondern zuhause, in seinem Bett, und zwar eines Morgens – die Außenwelt hat also noch keine Notiz von ihm genommen, das über ihn hereingebrochene Unheil bleibt vorerst unbemerkt. Gleichzeitig ist damit angerissen, was Gregor Samsa als nächstes bevorsteht: die Scham des Entdecktwerdens.

2. Sei von deiner Prämisse überzeugt

Die Verwandlung ist natürlich vor allem wegen der in ihrem ersten Satz etablierten, absurden Prämisse die wohl berühmteste Geschichte Kafkas. Ein jeder kann sich einen Reim darauf machen, mehr noch als auf den unschuldig verhafteten Josef K. oder einen höhenkranken Trapezkünstler. Allerdings entfaltet Kafkas Prämisse von der Verwandlung in ein Ungeziefer nur deshalb ihre verstörende Wirkung, ja genauer: beeinflusst den gesamten Rest der Geschichte so unerhört, dass ein Adjektiv dafür erfunden wurde – kafkaesk –, weil Kafka selbst und mit ihm die handelnden Figuren von dieser Prämisse völlig überzeugt sind. Denn das Surreale an der Geschichte ist von außen betrachtet natürlich die Verwandlung selbst. Innerhalb der Geschichte jedoch behandeln alle Figuren die Verwandlung als das Allernatürlichste, als etwas Ununmstößliches, und surreal ist nur ihr Verhalten dazu: Samsa möchte unbedingt den nächsten Zug erwischen, um noch halbwegs rechtzeitig zur Arbeit zu kommen, seine Familie beginnt die Möbel wegzuräumen, damit er ungestört umherkrabbeln kann.

Durch diese ironische Verkehrung, die zur Schau gestellte Adaption aller Beteiligten an das nicht Adaptierbare, entsteht erst der Effekt des Kafkaesken, gerät also die vertraute Welt ins Wanken, schleicht sich ein absurder Unterton in die Geschichte. Irgendwer müsste doch schreien, die Polizei rufen, gleich mehrere Professoren und den Kammerjäger – aber nichts dergleichen geschieht.

Wenn du also selbst eine Geschichte mit einer eigenartigen Prämisse schreibst (und das wollen wir doch hoffen), dann halte dich nicht mit den Zweifeln der Figuren an ihr auf, sondern stürze dich auf die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, die mit dieser Prämisse einhergehen. Plump gesagt: Jurassic Park verbringt nicht 60 Minuten damit, die wissenschaftliche Möglichkeit des Dinosaurier-Klonens anzuzweifeln, sondern lebende Dinos anzustaunen.

3. Kafkas Horror vollzieht sich im Subtilen

Das führt zum dritten kongenialen Moment in Kafkas Erzählung. Anstatt das Offensichtliche zu tun, nämlich den Horror des Insektseins frontal auf den Leser einprasseln zu lassen, hält sich Kafka zurück, zügelt seine Wortwahl, seine Beschreibungen, ja verzichtet gänzlich auf Passagen der Marke: „Und aus seinen klaffenden Mundhöhlen tropfte der Speichel diabolisch leuchtend auf die hübsch angerichtete Kaffeetafel.“

Stattdessen bemüht Kafka, wie jeder gute Erzähler, den Kontrast, um den Horror zu veranschaulichen, den Gregors Verwandlung für ihn bereithält. Genauer gesagt: den Kontrast zwischen menschlichen und tierischen Fähigkeiten und Bedürfnissen.

Als Gregor durch die Wände hindurch seine Familie über ihre nun bescheiden gewordene finanzielle Situation sprechen hört, denkt er etwa zutiefst menschliche Gedanken:

„Wie aber, wenn jetzt alle Ruhe, aller Wohlstand, alle Zufriedenheit ein Ende mit Schrecken nehmen sollte?“

Franz Kafka – Die Verwandlung

Nur um im nächsten Moment von Kafka zurück auf seine tierische Realität geworfen zu werden:

„Um sich nicht in solche Gedanken zu verlieren, setzte sich Gregor lieber in Bewegung und kroch im Zimmer auf und ab.“¹

Franz Kafka – Die Verwandlung

So setzt es sich fort: Die von seiner Schwester gebrachten frischen Speisen rührt Gregor bald schon nicht mehr an, aber einen Käse, den er „vor zwei Tagen für ungenießbar erklärt hatte“, „saugt“ er „gierig“ ein, nicht ohne sich vorher zu fragen, ob er jetzt wohl „weniger Feingefühl“ habe. Auf dem Kanapee liegt Gregor nun nicht länger, er versteckt sich darunter.

Es sind diese subtilen Beschreibungen von Gregors rückläufiger Entwicklung, seiner Regressions ins Animalische, die den Horror betonen, dem er ausgesetzt ist. Und so mächtiger wirken, als jede Ansammlung direkter und konfrontativer Adjektive es jemals könnte.

4. Kafka und das Universale

Wer den törichten Versuch einer Interpretation der Verwandlung unternehmen will – oder von seinem Deutschlehrer dazu gezwungen wird –, sieht sich einer unmöglichen Aufgabe gegenüber. Zu vielschichtig ist die Erzählung, zu offen gestaltet. Und doch liegt genau darin das Geheimnis ihrer Wirkung auf Leser, Kritiker, Germanisten und neuerdings Filmemacher, auch noch 100 Jahre später: Die Verwandlung scheint für alles herhalten zu können, zu uns allen zu sprechen, über die Zeit hinweg. Es ist diese Universalität, die das Ziel von Literatur seit jeher bildet, und nur dem Größenwahn der Schriftstellerinnen ist es zu verdanken, dass überhaupt je ein Satz geschrieben wurde: Was ich zu sagen habe, sollten alle hören.

Wie aber stellt Kafka das an? Entscheidend für die Offenheit seiner Geschichte ist ihre innere Geschlossenheit. Der Erzähler, der ja nicht mit Samsa oder einer anderen Figur identisch ist, verbittet sich jeden Kommentar, jede leichtfüßige Distanz, aus der heraus der Leser selbst einen Standpunkt des bloß Beobachtenden einnehmen könnte, nirgends wird das tragische Geschehen aufgebrochen. Auch Informationen, die jenseits von Gregors unmittelbarem Erleben und Denken stehen, werden nur ganz am Anfang mitgeteilt, eben das Ereignis der Verwandlung selbst, seine Erscheinung und schon nur noch rudimentär die Beschaffenheit des Zimmers. Anschließend (und da sind erst zwei Absätze geschrieben) nimmt Kafka eine streng personale Erzählperspektive ein. Was Gregor nicht sieht, hört, spürt oder denkt, wird auch nicht geschildert. Im Umkehrschluss wird ein Schuh daraus: Die Welt, in die uns Kafka entführt, ist Gregors Welt, und keine andere. Damit einher geht eine strikte Linearität der Zeitabfolge. Es gibt keinen Ausblick in die Zukunft, keine Rückblenden, höchstens gedachte Erinnerungen des Protagonisten an ein Früher, die dadurch natürlich ebenfalls subjektiv bleiben müssen – im Gegensatz zu einer objektiven Außensicht.

Aus dieser engen Perspektive ergibt sich, mit ein wenig philosophischer Leidenschaft, die Unmöglichkeit von Wahrheit in Kafkas Schreiben: Die beschriebene und entworfene Welt ist eine notwendig subjektive – eine solche aber kann nicht auf ihren Wahrheitsgehalt geprüft werden. Denn dafür fehlen zwei Dinge. 1. Ein Gegenentwurf zu dieser Welt, die Beschreibung durch die Augen einer zweiten Figur etwa, oder die Kommentare eines über den Dingen stehenden Erzählers. 2. Der unverstellte Blick auf diese Welt, das Ding an sich also, die Welt, wie sie ist, jenseits der Wahrnehmung Gregors.

Die Fragen nach der Realität der Verwandlung in ein Ungeziefer, danach, ob Gregor doch träumt, ob die Verwandlung ein Symbol für X ist oder für Z, sind daher sowohl nicht beantwortbar als auch nicht widerlegbar. Nur auf der Metaebene lässt sich feststellen: Die Verwandlung kann für alles herhalten, aber eigentlich, das ist ihr Geheimnis, kann sie das nicht.

Und dennoch: Natürlich gibt es einen Erzähler, lesen wir ja keinen ungehemmten Strom von Gregors Wahrnehmungen, findet Selektion statt. In Ermangelung einer plausiblen Erzählposition rückt dadurch erst recht der Autor in den Fokus der Deutungsmaschinerie, und in der Folge sind die meisten der Interpretationsversuche von Kafkas Erzählungen autobiographisch geprägt. Sie bedienen sich also externer, realer Hilfsmittel, weil sich das Innere der Fiktion einer Auslegung verschließt. Ein Taschenspielertrick.

Wenn deine Deutschlehrerin also von Vaterfiguren, Kafkas schwierigen Liebesbeziehungen und dergleichen spricht, frag sie einmal, ob ein Text nicht aus sich heraus interpretiert werden sollte und, das ist die interessantere Frage, was an Kafkas Texten sie dazu veranlasst, dies nicht zu tun.

Und wenn du selbst schreibst, dann mach dir Gedanken über die Erzählposition, über Distanz, Nähe und Geschlossenheit und deren Auswirkungen auf den Bedeutungsgehalt, der deinen Erzählungen zugesprochen werden kann. Keine Sorge: mit ein bisschen technologischem Fortschritt bleiben dir noch 80 Jahre.

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¹ vgl. F. D. Luke (1951): Kafkas ‚Die Verwandlung‘

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Talking Story

Wolfgang Borchert: Die Küchenuhr [Analyse]

[Massive Spoiler voraus]

Wolfgang Borcherts Kurzgeschichten gehören zu dem Besten, das die deutsche Nachkriegsliteratur hervorgebracht hat. Daher ist von ihnen viel für das eigene Schreiben zu lernen. Im ersten Teil meiner Serie widme ich mich daher einer seiner bekanntesten Erzählungen Die Küchenuhr und versuche mich an einer Analyse. Dem geneigten Leser sei vorab die eigenständige Lektüre des Textes ans Herz gelegt.

1. Der Protagonist

Borcherts Protagonist in Die Küchenuhr ist der mit dem alten Gesicht, dessen Gang allein verrät, dass er erst zwanzig ist. Diese Diskrepanz lässt ihn auffallen, schon von Weitem. Doch welche Diskrepanz ist das eigentlich: Die zwischen seinem Gesicht, als Körperteil, und seinem Gang? Oder zwischen seinem Selbst, etwas Innerem also, und seinem Äußerem?

Die Antwort fällt leichter, wenn man sich dem zweiten Protagonisten zuwendet – der namensgebenden Küchenuhr. Der Protagonist trägt sie mit sich und zeigt sie stolz herum. Obwohl sie nix besonderes ist und auch überhaupt nicht mehr funktioniert:

Innerlich ist sie kaputt, das steht fest. Aber sie sieht noch aus wie immer. Auch wenn sie nicht mehr geht.

Wolfgang Borchert, Die Küchenuhr

Der zitierte Satz ist eine frühe Parallelisierung zwischen Protagonist und Küchenuhr. Auch der Protagonist selbst ist innerlich kaputt, geht nicht mehr, sieht aber sonst noch aus wie immer. Von seinem Gesicht abgesehen, das so alt aussieht, weil sich in ihm das Innere zeigt. Diese Parallelisierung wird später noch wichtig sein.

2. Die Bomben

Die Küchenuhr ist um halb drei stehengeblieben. Wegen der Bomben, sagt einer der Zuhörer, die dann wohl um halb drei fielen. Wenn sie explodieren, zerstört der Druck das Uhrwerk. Doch der Protagonist weiß es besser:

Nein, lieber Herr, nein, da irren Sie sie sich. Das hat mit den Bomben nichts zu tun. Sie müssen nicht immer von Bomben reden.

Wolfgang Borchert, Die Küchenuhr

Natürlich hat alles mit den Bomben zu tun. Der Verlust des Protagonisten, die versammelte Meute auf der Bank, das Elend, die stehengebliebene Uhr. Ohne die Bomben wäre all das nicht passiert. Aber der Protagonist will nichts davon wissen, hat den Krieg selbst schon verdrängt. Für ihn scheint es Schicksal gewesen zu sein oder ein „Witz“, dass die Uhr „ausgerechnet“ um halb drei stehenblieb. Wir wissen es besser: Als er mit seiner Mutter in der Küche saß, wie jede Nacht um halb drei, müssen die Bomben gefallen sein.

3. Die Personifizierung der Küchenuhr

Doch als die Küchenuhr stehen- und übrig blieb, blieb auch der Protagonist stehen und übrig. Nun ist er nicht länger in der Lage, das Gesamtbild des Krieges zu sehen oder sich dem traumatischen Erlebnis zuzuwenden. Er lächelt beim Erzählen, negiert die Rolle der Bomben. Die bereits angesprochene Parallelisierung zwischen Küchenuhr und Protagonist geht daher weit über ein kaputtes Innenleben hinaus.

Die Parallelisierung unterstreicht Borchert auch sprachlich. Die Küchenuhr hat ein „Gesicht“, ist „innerlich kaputt“. Mit dieser Personifizierung erlaubt Borchert dem Leser einerseits einen Rückbezug, wirft die Frage auf, warum die Küchenuhr personifiziert ist. Andererseits betont er die Merkwürdigkeit der Beziehung zwischen Protagonist und Küchenuhr, die offenbar nicht bloß ein Erinnerungsstück ist.

Sofern sich der Protagonist in der Küchenuhr selbst wahrnimmt, muss er sie hüten wie einen Schatz und sich einreden, dass sie ja noch aussehe wie immer. Und dass es eine Bedeutung hat, dass sie ausgerechnet um halb drei stehenblieb, dass also auch mit ihm noch etwas anzufangen, sein Leben nicht sinnlos geworden ist.

4. Das Paradies

Und natürlich ist die Küchenuhr auch ganz profan ein Erinnerungsstück. Ein Portal in eine heile Vergangenheit. Diese Vergangenheit, ebenfalls ganz profan, bestehend aus einer fürsorglichen Mutter und einem Job im Schichtdienst (er kam immer um halb drei nach Hause), ist ihm jetzt das Paradies geworden. Das unterstreicht die Traumatisierung des Protagonisten und erhöht zugleich den Wert der Küchenuhr. Mit ihr und seiner Sicht auf sie kann er sich noch eine Weile an das Leben klammern, das für immer dahin ist und muss der Sinnlosigkeit seines Verlustes nicht ins Auge sehen.

Seine Gesprächspartner sind offenbar schon einen Schritt weiter: Was das Paradies sein soll, können sie nicht recht fassen. Einer von ihnen denkt „immerzu an das Wort Paradies“. Seine Bedeutung ist ihm schon abhandengekommen.

5. Takeaways

  • Sieh tiefer in deine und fremde Geschichten. Sie sind und sollten komplexer sein, als es auf den ersten Blick scheint.
  • Halte nach Parallelen Ausschau: Zwischen dem Protagonist und seinem Ziel, dem Antagonist, dem Mittel, dem Mittel und dem Ziel, der Verletzung deines Protagonisten und dem Antagonisten.
  • Nutze die Möglichkeiten der Sprache, um gewissen Elemente deiner Geschichte zu betonen und hervorzuheben.

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Talking Story

Better Call Saul [Analyse]

[Massive Spoiler voraus]

Natürlich: Wir liebten Breaking Bad. Wir liebten Saul Goodmann (Bob Odenkirk) und Mike Ehrmanntraut (Jonathan Banks), und sind froh, weiterhin in deren Universum flüchten zu können. Aber Better Call Saul ist nicht bloß ein Nostalgietrip oder ein Prequel, das allein von der mysteriösen Vorgeschichte seines Protagonisten lebt (siehe Star Wars). Neben den grandiosen Nebenfiguren wie Chuck und Lalo Salamanca überzeugt die Serie vor allem durch die Inszenierung der Expertise ihrer Protagonisten.

Jimmy zuzusehen, ist eine helle Freude

Jimmy McGill bzw. Saul Goodman ist eine Mischung aus skrupellosem Trickster und genialem Rhetoriker. Um einen Fall zu gewinnen, studiert er keine Gesetzestexte. Er manipuliert, erfindet, inszeniert. Das ist an sich schon die interessantere Werkzeugwahl für eine Geschichte. Aber Jimmy ist nicht einfach nur gut darin. Er ist begnadet. Ihm fallen Dinge ein, auf die Normalsterbliche nicht kommen würden. Und in brenzligen Situation schafft er es immer wieder, sich irgendwie herauszureden.

Das führt zu den besten Momenten der Serie: die Skaterjungs in der Wüste, die Abzockerei in der Bar, die Verhandlung mit Chuck.

Vergleichen wir diese Szenen mit der Episode in der Wüste ohne Wasser, wird schnell klar, dass sie nicht ansatzweise mithalten kann. Obwohl hier das Leben gleich zweier geliebter Figuren auf dem Spiel steht und Jimmy alle Leidensgrenzen einreißt. Warum?

Lass deinen Held brillieren

Weil weder Mike noch Jimmy etwas tun, das sie sehr gut beherrschen. Sie durchqueren die Wüste. Trinken Urin. Okay. Aber weder performt Jimmy eine seiner grandiosen Ansprachen oder zaubert ein letztes Ass aus dem Ärmel noch ist Mike mit allen Wassern gewaschen und lehrt die Möchtegerngangster das Fürchten. Sie setzten einfach nur einen Fuß vor den anderen. Erst ganz am Ende kommen sie wieder ins Handeln. Jimmy lenkt die Aufmerksamkeit des Verfolgers auf sich, Mike erledigt in per Scharfschützengewehr. Aber verglichen mit ihren sonstigen Großtaten, ist das geradezu banal.

Betrachten wir Mikes Figur, wird auch hier deutlich, wie sehr er die Serie an sich zieht, wenn er etwas von seinem Können zum Besten gibt: Mr. X‘ Blamage im Parkhaus, sein Anschlag auf den Kurierfahrer in der Wüste, seine Rache an den korrupten Cops.

Nimm ihm alles, dann gib ihm ein großes Talent

Oft lesen wir, dass es einen aktiven Helden braucht, um die Geschichte lebendig zu halten. Das stimmt (Ausnahme: der Antiheld), aber Aktivität allein macht deinen Helden nicht zur Ikone. Umgekehrt ist ein Held, der alles kann und dem alles gelingt, nicht sonderlich spannend (Rey in Star Wars: Das Erwachen der Macht zum Beispiel) oder sympathisch. Werfen wir daher einen Blick auf Jimmys Talent und seine Mängel.

Jimmy McGill sucht die Anerkennung seines Bruders, will ein angesehener Anwalt werden wie er und reißt sich dafür den Hintern auf. Fernstudium nach Feierabend, Hilfsarbeiterjob am Tag, den ihm sein gnädiger Bruder verschafft hat. Angekommen im Anwalt-Olymp, passt sein Kaffeebecher nicht in den Getränkehalter des schicken Firmenwagens. Und Jimmy nicht in den gut bezahlten Kanzlei-Alltag. Wir erinnern uns: er ist ein Trickster, ein rhetorisches Genie. Doch bei Davis & Main hält man sich ans Protokoll.

Jimmy hat daher von Anfang an keine Chance auf die Karriere, die er anstrebt. Dennoch versucht er es. Und tut, was er am besten kann: manipulieren, tricksen. Das bringt ihn erst recht in die Bredouille.

Jimmy hat also einen gravierenden Fehler. Er ist unfähig, sich anzupassen und sich Regeln unterzuordnen. Gleichzeitig hat er ein herausragendes Talent: Jenseits der Regeln für sich und seine Klienten zu kämpfen. Erst durch den Mangel gewinnt die Darstellung seines Könnens an der nötigen Höhe. Gegen alle Wahrscheinlichkeit versucht Jimmy, seinen Weg zu gehen. Und wie der geneigte Leser sich bemerkt hat: Sein Mangel bedingt sein herausragendes Talent und umgekehrt. Das ist hohe Plotkunst.

Die Lösung besteht darin, sein Wesen anzuerkennen und nicht länger zu versuchen, ihm zu entkommen, um anderen (vor allem Chuck) zu gefallen. Jimmy muss Saul Goodman werden, um seinen Mangel zu überwinden, ohne sein Talent aufzugeben. Erneut: grandioses Plotting.

Das Talent treibt den Plot

Jenseits der puren Freude, ein herausragendes Talent eines ansonsten gebeutelten Charakters zu bestaunen, treibt dieses Talent also auch den Plot voran. Mike Ehrmanntraut kann für seine Familie sorgen, weil er kriminelle Aufträge übernimmt und mit Bravour erledigt. Diese Verstrickung in Kriminalität treibt jedoch einen Keil zwischen ihn und seine Familie, er wird zum Auftragsmörder, seine Familie wird bedroht.

Und schließlich gelingt Better Call Saul so auch auf der handwerklichen Ebene des Storytellings der Anschluss an Breaking Bad. War es nicht schon eine Freude, Walter White dabei zuzusehen, wie er seine Intelligenz und seine überragenden chemischen Kenntnise einsetzte, um sich seiner Feinde zu entledigen?

Takeaways

  • Lass deine Figuren in irgendetwas sehr, sehr gut sein. So gut, dass du nach der dafür notwendigen Recherche selbst ein kleiner Experte in dem Gebiet geworden bist.
  • Gib ihnen die Gelegenheit, das zu demonstrieren
  • Lass sie nicht in allem gut sein
  • Gib ihnen gravierende Mängel
  • Lass sie nicht gewinnen, ohne auf dieses herausragende Talent zurückzugreifen

Manche Dinge müssen einfach gesagt werden. Das macht es dir als Autorin mitunter leichter. Aber manchmal auch verdammt schwer. Denn gute Dialoge zu schreiben, will gelernt sein. In diesem Artikel erfährst du alles über die größten Fallstricke beim Verfassen deiner Dialogszenen – und wie du es richtig machst.

1. Realistisch bleiben!

Sich an der Realität zu orientieren, ist auch beim Schreiben von Dialogen ein guter erster Rat. Aber was heißt das konkret? Zunächst einmal solltest du deine Figuren nicht so sprechen lassen, wie du denkst, dass Menschen oder genauer, Menschen ihres Schlages, sprechen. Was das bedeutet? Stell dir vor, wie Stefan Raab sich über Rapper lustig macht: „Ey yo, Bruder, was geht ab, alter! Fetter Scheiß, yo!“ Genau so solltest du deine Rapper nicht sprechen lassen. Das ist klischeebeladen, aber vor allem ist es: unrealistisch. Es reißt den Leser aus der Geschichte.

Stattdessen solltest du dir erstmal Interviews mit Rappern anschauen, Kool Savas hören und ein Rap-Battle auf YouTube anschauen. Dann wirst du schnell merken, dass diese Leute durchaus eine eigene Sprache sprechen. Aber eben keine Stefan-Raab-Fantasiesprache. Sondern ihre, seit Jahrzehnten gewachsene, mit ihrer Kultur verwobene Sprache. Gleiches gilt für jedes andere Milieu: Die Bankentürme in Frankfurt Main, den tiefen Pott der Backsteinsiedlungen oder das Bundeskanzleramt.

Von der generellen Sprache deiner Figuren abgesehen, gibt es noch einen weiteren, sehr beliebten, unrealistischen Fehler beim Dialoge schreiben:

„Hallo Max, wie geht es dir?“
„Ganz gut, Timo, danke.“
„Gehst du heute noch raus, Max?“
„Mal sehen, was Mama sagt, Timo.“

fiktives Beispiel

Du hast es bereits erraten: Lass deine Figuren nicht dauernd ihre Namen sagen. Wir tun das nicht. Im Gegenteil: Psychologen haben herausgefunden, dass wir es sehr mögen und unser Gegenüber sympathisch finden, wenn es oft unseren Namen sagt. Weil es eben nicht der Normalfall ist.

2. Unrealistisch bleiben!

Ha, erwischt! Du dachtest wohl, Dialoge zu verfassen, sei eine einfache, widerspruchslose Angelegenheit. Weit gefehlt. Denn so sehr wir Realismus benötigen, um den Äußerungen unserer Figuren das nötige Maß an Authentizitä und Glaubwürdigkeit zu verleihen, so sehr benötigen wir Unrealismus um die Leser zu interessieren:

„Ja, manchmal ist mir, als ob ich selber hinter mir herliefe. Ich will davon! Vor mir selber davonlaufen. Aber ich kann nicht! Kann mir nicht entkommen. Muss … muss den Weg gehen, den es es mich jagt! Und rennen … rennen, endlose Straßen! Ich will weg, ich will weg! Und mit mir rennen die Gespenster … von Müttern, von Kindern. Die gehen nie mehr weg.

Fritz Lang – „M – Eine Stadt sucht ihren Mörder“

Natürlich würden wir nie so reden. Die Sprache ist hier dem Milieu entsprechend (ein mittelloser Mörder) einfach gehalten, aber deswegen nicht weniger gemacht. Sie bedient sich eines eindrücklichen Bildes, das sie mit betörender Effektivität ausführt. Aber wann reden wir schon in Bildern? Doch erst recht nicht vor einem wütendem Mob. Und überhaupt, wer sollte uns dabei zuhören?

Aber das ist ja gerade der Trick: Der Leser hört zu. Das verschafft dir als Autor die Freiheit, auszuholen. Und nimmt dich in die Pflicht, nicht bei der Realität stehenzubleiben, sondern zu konstruieren, zu modellieren, zu erschaffen.

Der Gradmesser für eine gesunde Portion Unrealismus sind die mitgehörten, halböffentlichen Gespräche im Café, in der S-Bahn oder auf dem Büroflur: Selbst wenn jemand bei einer solchen Gelegenheit etwas wirklich Spannendes erzählt, würden wir das so nicht drucken wollen. Es ist zu inkonsistent, zu wirr, zu sehr Rohmaterial.

Was nicht heißt, dass gute Dialoge nicht wirr und roh sein können. Durchaus. Aber eben an den richtigen Stellen, im richtigen Maß, mit gutem Grund – also weil du als Autorin sie so konstruiert hast.

3. Figuren spracclich unterscheiden

„Voll krass.“
„Ja, mega.“
„Shit, da hinten kommt Herr Opitz!“
„Na, Kids? Mega Wetter, oder?“

fiktives Beispiel

Es gibt sie nicht nur im Dialog, aber hier tritt sie direkt und schonungslos zutage: die Stimme deiner Figuren. Je nach Alter, Milieu, Geschlecht, Träumen, Ängsten und vielem mehr sprechen sie mit einer anderen Stimme. Und zwar ausnahmlos, jede einzelne Figur. Denn auch wenn die Kassiererin an der gotttverlassenen Tankstelle irgendwo im ausgedörrten Hinterland nur eine Zeile Text hat, ist sie ein Individuum mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Sie kann nicht so sprechen wie der Mathematik-Professor, der sich zu ihr an die Theke verirrt hat.

Gleiches gilt für Herrn Opitz. Der offenbar deutlich älter als die beiden Jugendlichen ist, und in irgendeinem Sinne eine Autoritätsperson. Der einzige plausible Grund, ihn hier so sprechen zu lassen, wie die ihm unterstellten Kinder, ist eine ausgeprägte Midlife Crisis. Das wäre dann guter Dialog. Sonst ist es falsch.

4. Bescheidene Inquits verwenden

Ein Inquit, das ist eine die wörtliche Rede begleitende Formel. Bei Dialogen sind Inquits also gezwungenermaßen allgegenwärtig. Etwa bei: „Du spinnst doch“, sagte er. Doch Autoren lieben das Ausschweifende. Das Üppige. Deshalb lassen sie sich oft dazu verleiten, auf den schmalen Schultern der Inquits tonnenweise Ballast abzuwerfen. Das sieht dann schnell so aus:

„Ich kann nicht glauben, dass du das gerade gesagt hast“, stellte sie mit hochrotem Kopf fest.
„Hab ich aber!“, donnerte Hans trotzig.
„Du machst es nicht besser“, jaulte sie beinahe wehleidig.

fiktives Beispiel

Überfrachtete Inquits in jeder Zeile. Das Tückische an diesen Inquits ist, dass sie dem Gesagten die Kraft nehmen. Sie ziehen die Aufmerksamkeit des Lesers auf sich. Und sind, in all ihrer Deutlichkeit, dabei streng genommen Fälle von Infodump und/oder des berühmten „Show, don’t tell“. Denn dass Jack hier trotzig donnert, hat der Dialog schon gezeigt – „Hab ich aber!“ ist eine wunderbar kindisch-trotzige Zeile. Die wird hier nun aber einkassiert, beschnitten, für nebensächlich erklärt.

Dabei verstoßen diese Inquits auch gegen ein Grundgebot des Erzählens: Überfrachte den Leser nicht mit Eindrücken. Er kommt sonst nicht mit. Und, noch schlimmer: Es entstehen keine Bilder in seinem Kopf. Wie es anders geht, zeigt die redigierte Version des Dialogs:

„Ich kann nicht glauben, dass du das gerade gesagt hast.“ Ihr Gesicht lief rot an.
„Hab ich aber!“, brüllte Hans. Die kleinen Arme hatte er in die Hüften gestemmt.
„Du machst es nicht besser.“

fiktives Beispiel

Das ist natürlich keine Hochliteratur, aber auf einmal doch Literatur. Durch das Kürzen der Inquits kriegt der Dialog Platz zum Atmen. Verloren geht dabei nichts. Und du als Autor gewinnst Raum zur Entfaltung: die kleinen, in die Hüften gestemmten Arme – das ist ein Bild! Der trotzig donnernde Hans ist keins.

Es gibt noch eine weitere Besonderheit bei Inquits. In ihrer guten, bescheidenen Form (sagte sie, flüsterte er, wurde er gefragt) können sie trotzdem noch grundfalsch daherkommen. Nämlich dann, wenn du als Autorin allzu kreativ wirst. Also den durch die Kürzung gewonnenen Platz gleich wieder breitbeinig mit den Inquits besetzen willst: donnerte Hans, lachte sie, ließ er sie wissen.

Hier werden Verben benutzt, die die Handlung (jemand sagt etwas) allzu blümerant ausdrücken, also ebenfalls ganz viel Bedeutung mitbringen, die a) stört, siehe oben oder b) keinen Sinn ergibt. Oder hast du schon mal einen Satz gelacht? Eine Antwort genickt („Das geht“, nickte sie)? Ich fürchte nein.

Wie aber soll man das dann machen, die Sache mit den Inquits? Ganz einfach, zum Beispiel so:

Dann hörte der Motor auf zu brummen, und draußen schrie eine Stimme: „Die Toten hierhin, habt ihr Tote dabei?“
„Verflucht“, rief der Fahrer zurück, „verdunkelt ihr schon nicht mehr?“
„Da nützt kein Verdunkeln mehr, wenn die ganze Stadt wie eine Fackel brennt“, schrie die fremde Stimme. „Ob ihr Tote habt, habe ich gefragt!“
„Weiß nicht.“
„Die Toten hierhin, hörst du? Und die anderen die Treppen hinauf in den Zeichensaal, verstehst du?“
„Ja, ja.“
Aber ich war noch nicht tot, ich gehörte zu den anderen, und sie trugen mich die Treppe hinauf.

Heinrich Böll – „Wanderer, kommst du nach Spa …“

Rief, schrie, und oftmals auch einfach gar kein Inquit. So einfach kann es sein. Und doch so gehaltvoll. Der Trick ist: Vertraue deinen Worten und vertraue deinen Lesern. Wenn es gut geschrieben ist, wird es verstanden werden. Wenn es nicht gut geschrieben ist, werden aufgeschwemmte Inquits es nicht retten.

5. Nutze Beschreibungen

Dialoge können ein Feuerwerk sein. Knall, Boom, Peng! Dann braucht es kaum mehr als die Dialogzeilen selbst. Doch dafür bedarf es bestimmter Voraussetzungen. Vor allem muss hinreichend klar sein, wer spricht. Und wer bedeutet in dem Fall nicht nur, welche Figur, sondern auch, wer diese Figur ist. Ist das noch nicht etabliert, sind Beschreibungen zwischen den Dialogzeilen eine hervorragende Möglichkeit, die Figur zu charakterisieren:

„Und ihre Mutter, was tat ihre Mutter in solchen Situationen?“
Da war eine Macke im Linoleum-Boden, eine dicke, schwarze Macke, Jürgen konnte sie von seinem Platz aus deutlich sehen.
„Sie weinte.“
„Machte es das schlimmer?“
„Lauter. Es war ein lautes Weinen.“ Am liebsten hätte er eine Walnuss darin verrieben, farblich hätte das gepasst und sich mit der Zeit festgetreten. Vielleicht sollte er nächstes Mal eine mitbringen.
„Gibt es etwas, das Sie sich in diesen Momenten von ihr gewünscht hätten?“ Jürgen sah auf.
„Ja, ich … das Küchenmesser.“

fiktives Beispiel

Das könnte der Anfang eines Romans sein. Natürlich trägt hier der Dialog, vor allem die Fragen des Gegenübers, die inhaltliche Hauptlast. Aber die Beschreibungen charakterisieren Jürgen, etwas, das die Dialogzeilen selbst nicht leisten können. Und so beginnt der Leser sich für Jürgen zu interessieren. Nicht allein deshalb, weil er offenbar eine schlimme Kindheit hatte. Schlimme Kindheiten gibt es viele. Aber diese eine hier, Jürgens schlimme Kindheit, die Kindheit des Mannes, der sich Gedanken über eine Macke im Linoleum macht, während er darüber ausgefragt wird – die ist interessant.

Was für Figuren gilt, gilt natürlich auch für die Welt deiner Geschichte. Auch sie kann in eingeschobenen Beschreibungen beiläufig während deines Dialogs charakterisiert werden.

Hast du einen Text geschrieben, der von einem Lektorat profitieren könnte? Informiere dich über alles, was du über das Lektorat literarischer Texte wissen musst. Oder schicke deinen Text an kontakt@lektorat-bauer.de und erhalte ein kostenloses Probelektorat samt unverbindlichem Angebot.
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Once Upon a Time In… Hollywood [Analyse]

[Massive Spoiler voraus]

Quentin Tarantinos Schaffen ist ein ganzes eigenes Buch wert (vielleicht schreibe ich das noch). Wer sein Werk chronologisch verfolgt, wird eine Steigerung erkennen. Von der Lust an der Unterhaltung über Herzensprojekte, die bestimmte Kino-Traditionen abfeiern, steigern sich seine Filme spätestens mit Inglourious Basterds zunehmend zu gehaltvollen Studien bestimmter Themen: Die Macht des Kinos (Basterds), der Preis der Zivilisation (Hateful Eight). Sein bislang letztes Werk Once Upon a Time In… Hollywood legt noch eine Schippe drauf.

Arbeit am Mythos

Sharon Tate sitzt in Gestalt von Margot Robbie im Kino und sieht sich ihren eigenen Film an. Auf der Leinwand erscheint die echte Sharon Tate. Robbies Tate erfreut sich an deren Schauspiel und den Reaktionen des Publikums. Während sich die echte Tate vor dem echten Dean Martin zum Affen macht, gewinnt man als Zuschauer die leise Ahnung, dass die echte Tate nichts Außergewöhnliches hatte und nicht annähernd an die Anmut Margot Robbies heranreicht. Der Film im Film, ein Motiv, das aus Inglourious Basterds bekannt ist, bricht so in Tarantinos achtem Film genau das auf, was er auf der Oberfläche nostalgisch zu verherrlichen scheint: den Mythos Hollywood.

Filme im Film

DiCaprios Rick Dalton dabei zuzusehen, wie er am Western-Set einen Bösewicht mimt, also eigentlich DiCaprio als diesen Bösewicht zu sehen, bis er schließlich nach einer halben Ewigkeit endlich den Text vergisst und der Zuschauer fast erlöst zurück in den eigentlichen Film findet, hinaus aus dem Film im Film, durchbricht die vierte Wand noch radikaler. Sie ist durchbrochen und gleichzeitig nicht, denn der Hauptfilm umschließt diesen Durchbruch wie eine schützende Plasikfolie.

Das erzeugt ein Gefühl von Dankbarkeit, Dank dafür, zurück in der gewählten Welt zu sein. Tarantino präsentiert so das Destillat des Kinogangs auf dem Silbertablett: die Weltflucht. Eine eigentlich triviale Erkenntnis. Er ergänzt sie aber um die oft übersehene Tatsache, dass Weltflucht immer auch bedeutet, in eine andere Welt eintauchen zu müssen, sofern die Weltlosigkeit und damit der Suizid keine Optionen sind. Once Upon a Time in… Hollywood ist eine Hymne an diese anderen Welten und schwelgt in seiner akribischen Versessenheit auf Kulissen und Ausstattung geradezu in deren Macht.

Eskapismus dank realer Anleihen

Doch das Ganze liegt noch wahnwitziger. Der Film mutet nur deshalb zeitweise wie eine Geschichte an, weil man meint, ihren Ausgang zu kennen. So gesehen beginnt Tarantinos Film noch lange vor den Opening Credits. Nämlich als er bekannt gibt, dass sich der Film lose mit den Morden an Sharon Tate und ihren Freunden befasst. Ein reales Ereignis lauert so im Hintergrund des mäandernden Leinwandgeschehens und gibt diesem, in dem es selbst die vierte Wand in die andere Richtung durchbricht, überhaupt eine Art von Suspense, von Erwartungen und damit Konsumierbarkeit. Die Grenze zwischen den beiden Welten verwischt also, Fiktion blendet über in Realität und umgekehrt.

Dieses wahnwitzige Experiment geht nie ganz auf, weil Tarantino vor allem im Mittelteil eine Spur zu viel ins Risiko geht und die Immersion letztlich abreißt, als der Zuschauer sich an die opulenten Bilder und den kalifornischen Vibe gewöhnt hat. Aber es führt geradewegs zur eigentlichen Pointe dieses kino-intellektuellen Turmbaus zu Babel: Am Ende war alle Anspannung umsonst, denn die Tate-Morde finden nicht statt. Am Ende wird hier ein Märchen erzählt, verdammt nochmal, lest den Titel, und der Film findet zu sich selbst, weil er zum ersten Mal überhaupt ganz Film wird.

Kein Schauspiel eines Schauspielers, das von einem Schauspieler gespielt wird, keine eigens abgedrehten, vermeintlichen Retroschinken im Fernseher, kein Bruch mit der vierten Wand mehr – und gerade deshalb: Katharsis. Katharsis im doppelten Sinne also, denn nicht nur die Tate-Morde bleiben aus, auch der Film beginnt endlich. Sprich das Kino darf endlich seine Macht entfalten, die ja letztlich in nichts anderem gründet als in seiner Fähigkeit, die Realität zurechtzubiegen und Märchen lebendig werden zu lassen (auch hier lässt Inglourious Basterds grüßen).

Tarantino auf der dritten Meta-Ebene

Paradoxerweise gerinnt der finale Akt so zum Fremdkörper im Film (abermals ein Film im Film also), weil er so ganz Film sein darf. Die besten Szenen, die diesen letzten 30 Minuten vorangehen, sind folgerichtig ebenfalls jene, in der sich erzählerische Episoden vollziehen dürfen, Brad Pitts Cliff Booth auf der Hippie-Ranch, Cliff Booth und sein Pitbull, Bruce Lee am Set. In diesen Szenen ist Tarantino ganz Tarantino. Doch was ihm an Altersmilde glücklicherweise abgeht, hat er an Wahnwitz dazugewonnen, weshalb Once Upon a Time in… Hollywood gerade kein Episodenfilm ist wie seine größten Meisterwerke (Pulp Fiction, Inglorious Basterds). Die Episoden durchbrechen das beinahe Dokumentarische, das Geplänkel, die Arbeit am Mythos.

So muss auch die herrliche Denunziation des realen Bruce Lee verstanden werden, verkörpert durch einen fiktiven Bruce Lee, der so verflucht echt aussieht, dass der Moment, in dem er sich die Sonnenbrille vom Gesicht reißt, selbst schon zu einem Bruch mit der vierten Wand wird: Achso, das ist gar nicht der Echte! Bruce Lee muss als Mythos ebenso wie Hollywood, Sharon Tate, Polanski („jung, talentiert, verweichlicht“) und Hippietum der Lächerlichkeit preisgegeben werden, damit der Film auf seine eigentliche Aussage zulaufen kann: Die Realität wird bevölkert von tausend kleinen Göttern – ehrlich macht sich dabei nur das Kino, das nie den Anspruch erhebt, real zu sein. Eine Welt bestehend aus Lügen, in der nicht gelogen wird.

Eine Feier des Kinos

Daher fällt die Wahl des Helden auf denjenigen, dessen Beruf es ist, sogar in der absoluten Fiktion, im Hollywoodfilm, noch eine Fiktion aufrechtzuerhalten: Stuntman Cliff Booth. Cliff steht über den Dingen, haust hinter der Leinwand eines Autokinos in einem Trailer mit seinem Pitbull und scheint ganz und gar zufrieden. Selbst ein LSD-Trip führt ihn nicht ins Abseitige, die halluzinogene Droge nicht zur Verblendung. „Seid ihr überhaupt echt?“, wirft Cliff den Manson-Mördern mit einer Lakonie an den Kopf, die seit Indiana Jones Absage an einen Säbelkampf nicht auf Leinwand zu sehen war.

Natürlich nicht, aber, und das ist die ganze Farce auf den Punkt gebracht, doch „So echt wie ein scheiß Donut!“, wie ihm mit geladener Waffe versichert wird. Das enthemmte Lachen des 55-jährigen Brad Pitts legt sich warm um die Schulter des Zuschauers. Endlich einer, der sich nicht am eigenen Mythos abarbeitet und keinem fremden aufsitzt. Nur ein solcher Mann kann das Angebot eines Blowjobs von Hippiemädchen Pussycat ablehnen, ist Sex mit schönen jungen Mädchen doch auch immer Arbeit am eigenen Mythos.

Herabgesetzte Hippies

Prominentestes Ziel der ganzen Demystifizierung ist aber die Hippiebewegung. „Fuckin‘ Hippies!“ brüllen Cliff und Rick abwechselnd und als letzterer in ein Kostüm mit Hippie-Optik schlüpfen soll, kann er das kaum ertragen. Von Freiheit oder Liebe statt Krieg machen ist bei den auftretenden Blumenmenschen derweil nichts zu spüren. Das hat seine Gründe: Mit Once Upon a Time in… Hollywood bebildert Tarantino einen Wendepunkt der Bewegung. An jenem 9. August 1969 endeten die 60er-Jahre, wie die amerikanische Autorin Joan Didion einmal gesagt hat. Die Manson-Family, irrgeleitete Hippiekinder, ermorden fünf Menschen und schmieren mit dem Blut ihrer Opfer das Wort „Pig“ an die Wand, bei einem anderen Mord auch Songtitel der Beatles, „Helter Skelter“. Im Film hausen sie auf einer ehemaligen Film-Ranch, deren blinden Besitzer sie kaltgestellt haben. „Sie liebt mich!“, entgegnet dieser seinem alten Kumpel Cliff, als der ihm die Augen öffnen will und sitzt selbst erblindet noch einem Mythos auf.

Sektenführer Charles Manson zeigt Tarantino dabei als das einzige unangetastete Mysterium. Keine 10 Sekunden ist er auf der Leinwand zu sehen, aber immer präsent. „Warte nur, bis du Charlie kennenlernst!“, säuselt das Hippiemädchen Cliff ins Ohr, während 5.000 Kilometer entfernt amerikanische Soldaten bei der Ankunft in Vietnam denselben Satz zu hören, aber Charlie (US-Codename für die Vietcong) ebenfalls kaum vor die Linse kriegen. Die Freiheit, von der die Hippies träumen, schließt eine Welt ohne Mythen ein. Aber kaum sind die alten eingerissen, erheben sich neue, nicht weniger falsche aus der Asche: Death to piggies.

Wer ist dein Stuntman?

Die Aufgabe, vor der DiCaprios Rick Dalton steht und die tatsächlich so etwas wie einen Plot konstruiert, reiht sich in all die Arbeit am Mythos ein. Er muss damit aufhören, ständig seinen eigenen Mythos kreieren zu wollen. Stotternd kriecht er durch sein reales Leben, um vor der Kamera Figuren zum Leben zu erwecken, die nicht weiter von dem entfernt sein könnten, was er eigentlich ist. Selbstzweifel zerfressen seine Künstlerseele. Sie betreffen jedoch nicht so sehr sein schauspielerisches Talent, sondern vielmehr die Frage, was er als Star, also als Mythos, verkörpert. „I’m a has-been“, verzweifelt er an Cliffs starker Schulter, der ihm notfalls auch die Fernsehantenne repariert und durch L.A. spazieren fährt, kurz: der längst auch im realen Leben alle Momente der Wahrhaftigkeit für ihn übernimmt.

Als die Hippies schließlich in sein Zuhause eindringen, gewinnt Rick plötzlich seine Tatkraft zurück. Er eilt in den Geräteschuppen und kehrt mit einem Flammenwerfer zurück, eine alte Filmrequisite, die ihm damals noch zu heiß war, und fackelt die Hippies über den Haufen. Der Kinosaal bricht in dieser Szene in schallendes Gelächter aus, weil niemand erwartet, dass der verzagte, Margeritas trinkende Rick tatsächlich zu so etwas in der Lage ist: Wenn Cliff den Abend nicht rettet, bricht die Hölle los.

Rick muss seinen Mythos preisgeben

Aber Cliff fährt verletzt im Krankenwagen davon. Rick bleibt zurück und verfängt sich nach seiner Verwandlung prompt in so etwas wie einem Leben. Sharon Tate fragt über den Türsprecher was los war und lädt ihn zu sich ein. Cliff wird nun nicht länger gebraucht, weil Rick endlich bei sich angekommen ist. Die Kamera erhebt sich in die Vogelperspektive. Sharon umarmt Rick als hätten sich zwei endlich gefunden, als hätte Rick nun endlich auch etwas von diesem unwiderstehlichen Charisma, das nur die Menschen haben, die ganz bei sich sind. Wie Margot Robbies Sharon Tate, aber offensichtlich nicht die Echte. Katharsis Nummer 3.

Und natürlich bleibt das alles ein Märchen, Once upon, denn in der Realität gibt niemand so schnell die eigenen Mythen auf, schon gar nicht die, die ihn selbst betreffen. Und natürlich gerieten die Hippies in dieser Nacht des 9. August 1969 nicht an Cliff Booth und Rick Dalton. Aber mit der Kinokarte hat der Zuschauer sich ja gerade das gekauft: Ein Ticket in eine andere Welt, weil Weltlosigkeit keine Option ist. Anders gesagt: Solange wir ins Kino gehen, geht es irgendwie weiter. Davon handelt Once Upon a Time in… Hollywood auf einer vertrackten Meta-Ebene. Ein paar Stufen Himmelsleiter weiter unten ist es ein Film über die todbringende, lähmende Kraft von Mythen.

Takeaways

  • Wenn du deinem Protagonisten einen Verbündeten an die Seite stellst, wähle ihn weise: Woran mangelt es deinem Helden?
  • Es gibt nicht zu viele Meta-Ebenen, nur zu wenig funktionierenden Plot
  • Episoden können grandios sein, aber das höchste Level des Erzählens ergibt sich immer aus ihrem Zusammenspiel
  • Die Historie ist dein Verbündeter, wenn es um Suspense, Dramatik und Erwartungen geht

Manche Dinge müssen einfach gesagt werden. Das macht es dir als Autorin mitunter leichter. Aber manchmal auch verdammt schwer. Denn gute Dialoge zu schreiben, will gelernt sein. In diesem Artikel erfährst du alles über die größten Fallstricke beim Verfassen deiner Dialogszenen – und wie du es richtig machst.

1. Realistisch bleiben!

Sich an der Realität zu orientieren, ist auch beim Schreiben von Dialogen ein guter erster Rat. Aber was heißt das konkret? Zunächst einmal solltest du deine Figuren nicht so sprechen lassen, wie du denkst, dass Menschen oder genauer, Menschen ihres Schlages, sprechen. Was das bedeutet? Stell dir vor, wie Stefan Raab sich über Rapper lustig macht: „Ey yo, Bruder, was geht ab, alter! Fetter Scheiß, yo!“ Genau so solltest du deine Rapper nicht sprechen lassen. Das ist klischeebeladen, aber vor allem ist es: unrealistisch. Es reißt den Leser aus der Geschichte.

Stattdessen solltest du dir erstmal Interviews mit Rappern anschauen, Kool Savas hören und ein Rap-Battle auf YouTube anschauen. Dann wirst du schnell merken, dass diese Leute durchaus eine eigene Sprache sprechen. Aber eben keine Stefan-Raab-Fantasiesprache. Sondern ihre, seit Jahrzehnten gewachsene, mit ihrer Kultur verwobene Sprache. Gleiches gilt für jedes andere Milieu: Die Bankentürme in Frankfurt Main, den tiefen Pott der Backsteinsiedlungen oder das Bundeskanzleramt.

Von der generellen Sprache deiner Figuren abgesehen, gibt es noch einen weiteren, sehr beliebten, unrealistischen Fehler beim Dialoge schreiben:

„Hallo Max, wie geht es dir?“
„Ganz gut, Timo, danke.“
„Gehst du heute noch raus, Max?“
„Mal sehen, was Mama sagt, Timo.“

fiktives Beispiel

Du hast es bereits erraten: Lass deine Figuren nicht dauernd ihre Namen sagen. Wir tun das nicht. Im Gegenteil: Psychologen haben herausgefunden, dass wir es sehr mögen und unser Gegenüber sympathisch finden, wenn es oft unseren Namen sagt. Weil es eben nicht der Normalfall ist.

2. Unrealistisch bleiben!

Ha, erwischt! Du dachtest wohl, Dialoge zu verfassen, sei eine einfache, widerspruchslose Angelegenheit. Weit gefehlt. Denn so sehr wir Realismus benötigen, um den Äußerungen unserer Figuren das nötige Maß an Authentizitä und Glaubwürdigkeit zu verleihen, so sehr benötigen wir Unrealismus um die Leser zu interessieren:

„Ja, manchmal ist mir, als ob ich selber hinter mir herliefe. Ich will davon! Vor mir selber davonlaufen. Aber ich kann nicht! Kann mir nicht entkommen. Muss … muss den Weg gehen, den es es mich jagt! Und rennen … rennen, endlose Straßen! Ich will weg, ich will weg! Und mit mir rennen die Gespenster … von Müttern, von Kindern. Die gehen nie mehr weg.

Fritz Lang – „M – Eine Stadt sucht ihren Mörder“

Natürlich würden wir nie so reden. Die Sprache ist hier dem Milieu entsprechend (ein mittelloser Mörder) einfach gehalten, aber deswegen nicht weniger gemacht. Sie bedient sich eines eindrücklichen Bildes, das sie mit betörender Effektivität ausführt. Aber wann reden wir schon in Bildern? Doch erst recht nicht vor einem wütendem Mob. Und überhaupt, wer sollte uns dabei zuhören?

Aber das ist ja gerade der Trick: Der Leser hört zu. Das verschafft dir als Autor die Freiheit, auszuholen. Und nimmt dich in die Pflicht, nicht bei der Realität stehenzubleiben, sondern zu konstruieren, zu modellieren, zu erschaffen.

Der Gradmesser für eine gesunde Portion Unrealismus sind die mitgehörten, halböffentlichen Gespräche im Café, in der S-Bahn oder auf dem Büroflur: Selbst wenn jemand bei einer solchen Gelegenheit etwas wirklich Spannendes erzählt, würden wir das so nicht drucken wollen. Es ist zu inkonsistent, zu wirr, zu sehr Rohmaterial.

Was nicht heißt, dass gute Dialoge nicht wirr und roh sein können. Durchaus. Aber eben an den richtigen Stellen, im richtigen Maß, mit gutem Grund – also weil du als Autorin sie so konstruiert hast.

3. Figuren spracclich unterscheiden

„Voll krass.“
„Ja, mega.“
„Shit, da hinten kommt Herr Opitz!“
„Na, Kids? Mega Wetter, oder?“

fiktives Beispiel

Es gibt sie nicht nur im Dialog, aber hier tritt sie direkt und schonungslos zutage: die Stimme deiner Figuren. Je nach Alter, Milieu, Geschlecht, Träumen, Ängsten und vielem mehr sprechen sie mit einer anderen Stimme. Und zwar ausnahmlos, jede einzelne Figur. Denn auch wenn die Kassiererin an der gotttverlassenen Tankstelle irgendwo im ausgedörrten Hinterland nur eine Zeile Text hat, ist sie ein Individuum mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Sie kann nicht so sprechen wie der Mathematik-Professor, der sich zu ihr an die Theke verirrt hat.

Gleiches gilt für Herrn Opitz. Der offenbar deutlich älter als die beiden Jugendlichen ist, und in irgendeinem Sinne eine Autoritätsperson. Der einzige plausible Grund, ihn hier so sprechen zu lassen, wie die ihm unterstellten Kinder, ist eine ausgeprägte Midlife Crisis. Das wäre dann guter Dialog. Sonst ist es falsch.

4. Bescheidene Inquits verwenden

Ein Inquit, das ist eine die wörtliche Rede begleitende Formel. Bei Dialogen sind Inquits also gezwungenermaßen allgegenwärtig. Etwa bei: „Du spinnst doch“, sagte er. Doch Autoren lieben das Ausschweifende. Das Üppige. Deshalb lassen sie sich oft dazu verleiten, auf den schmalen Schultern der Inquits tonnenweise Ballast abzuwerfen. Das sieht dann schnell so aus:

„Ich kann nicht glauben, dass du das gerade gesagt hast“, stellte sie mit hochrotem Kopf fest.
„Hab ich aber!“, donnerte Hans trotzig.
„Du machst es nicht besser“, jaulte sie beinahe wehleidig.

fiktives Beispiel

Überfrachtete Inquits in jeder Zeile. Das Tückische an diesen Inquits ist, dass sie dem Gesagten die Kraft nehmen. Sie ziehen die Aufmerksamkeit des Lesers auf sich. Und sind, in all ihrer Deutlichkeit, dabei streng genommen Fälle von Infodump und/oder des berühmten „Show, don’t tell“. Denn dass Jack hier trotzig donnert, hat der Dialog schon gezeigt – „Hab ich aber!“ ist eine wunderbar kindisch-trotzige Zeile. Die wird hier nun aber einkassiert, beschnitten, für nebensächlich erklärt.

Dabei verstoßen diese Inquits auch gegen ein Grundgebot des Erzählens: Überfrachte den Leser nicht mit Eindrücken. Er kommt sonst nicht mit. Und, noch schlimmer: Es entstehen keine Bilder in seinem Kopf. Wie es anders geht, zeigt die redigierte Version des Dialogs:

„Ich kann nicht glauben, dass du das gerade gesagt hast.“ Ihr Gesicht lief rot an.
„Hab ich aber!“, brüllte Hans. Die kleinen Arme hatte er in die Hüften gestemmt.
„Du machst es nicht besser.“

fiktives Beispiel

Das ist natürlich keine Hochliteratur, aber auf einmal doch Literatur. Durch das Kürzen der Inquits kriegt der Dialog Platz zum Atmen. Verloren geht dabei nichts. Und du als Autor gewinnst Raum zur Entfaltung: die kleinen, in die Hüften gestemmten Arme – das ist ein Bild! Der trotzig donnernde Hans ist keins.

Es gibt noch eine weitere Besonderheit bei Inquits. In ihrer guten, bescheidenen Form (sagte sie, flüsterte er, wurde er gefragt) können sie trotzdem noch grundfalsch daherkommen. Nämlich dann, wenn du als Autorin allzu kreativ wirst. Also den durch die Kürzung gewonnenen Platz gleich wieder breitbeinig mit den Inquits besetzen willst: donnerte Hans, lachte sie, ließ er sie wissen.

Hier werden Verben benutzt, die die Handlung (jemand sagt etwas) allzu blümerant ausdrücken, also ebenfalls ganz viel Bedeutung mitbringen, die a) stört, siehe oben oder b) keinen Sinn ergibt. Oder hast du schon mal einen Satz gelacht? Eine Antwort genickt („Das geht“, nickte sie)? Ich fürchte nein.

Wie aber soll man das dann machen, die Sache mit den Inquits? Ganz einfach, zum Beispiel so:

Dann hörte der Motor auf zu brummen, und draußen schrie eine Stimme: „Die Toten hierhin, habt ihr Tote dabei?“
„Verflucht“, rief der Fahrer zurück, „verdunkelt ihr schon nicht mehr?“
„Da nützt kein Verdunkeln mehr, wenn die ganze Stadt wie eine Fackel brennt“, schrie die fremde Stimme. „Ob ihr Tote habt, habe ich gefragt!“
„Weiß nicht.“
„Die Toten hierhin, hörst du? Und die anderen die Treppen hinauf in den Zeichensaal, verstehst du?“
„Ja, ja.“
Aber ich war noch nicht tot, ich gehörte zu den anderen, und sie trugen mich die Treppe hinauf.

Heinrich Böll – „Wanderer, kommst du nach Spa …“

Rief, schrie, und oftmals auch einfach gar kein Inquit. So einfach kann es sein. Und doch so gehaltvoll. Der Trick ist: Vertraue deinen Worten und vertraue deinen Lesern. Wenn es gut geschrieben ist, wird es verstanden werden. Wenn es nicht gut geschrieben ist, werden aufgeschwemmte Inquits es nicht retten.

5. Nutze Beschreibungen

Dialoge können ein Feuerwerk sein. Knall, Boom, Peng! Dann braucht es kaum mehr als die Dialogzeilen selbst. Doch dafür bedarf es bestimmter Voraussetzungen. Vor allem muss hinreichend klar sein, wer spricht. Und wer bedeutet in dem Fall nicht nur, welche Figur, sondern auch, wer diese Figur ist. Ist das noch nicht etabliert, sind Beschreibungen zwischen den Dialogzeilen eine hervorragende Möglichkeit, die Figur zu charakterisieren:

„Und ihre Mutter, was tat ihre Mutter in solchen Situationen?“
Da war eine Macke im Linoleum-Boden, eine dicke, schwarze Macke, Jürgen konnte sie von seinem Platz aus deutlich sehen.
„Sie weinte.“
„Machte es das schlimmer?“
„Lauter. Es war ein lautes Weinen.“ Am liebsten hätte er eine Walnuss darin verrieben, farblich hätte das gepasst und sich mit der Zeit festgetreten. Vielleicht sollte er nächstes Mal eine mitbringen.
„Gibt es etwas, das Sie sich in diesen Momenten von ihr gewünscht hätten?“ Jürgen sah auf.
„Ja, ich … das Küchenmesser.“

fiktives Beispiel

Das könnte der Anfang eines Romans sein. Natürlich trägt hier der Dialog, vor allem die Fragen des Gegenübers, die inhaltliche Hauptlast. Aber die Beschreibungen charakterisieren Jürgen, etwas, das die Dialogzeilen selbst nicht leisten können. Und so beginnt der Leser sich für Jürgen zu interessieren. Nicht allein deshalb, weil er offenbar eine schlimme Kindheit hatte. Schlimme Kindheiten gibt es viele. Aber diese eine hier, Jürgens schlimme Kindheit, die Kindheit des Mannes, der sich Gedanken über eine Macke im Linoleum macht, während er darüber ausgefragt wird – die ist interessant.

Was für Figuren gilt, gilt natürlich auch für die Welt deiner Geschichte. Auch sie kann in eingeschobenen Beschreibungen beiläufig während deines Dialogs charakterisiert werden.

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Star Wars: Herkunft und Schicksal [Analyse]

[Massive Spoiler voraus]

Der epischste Vater-Sohn-Konflikt aller Zeiten spielt sich im Weltraum ab. Luke Skywalker will werden wie sein Vater vor ihm, und, wie sich herausstellt, bedeutet das, gerade nicht so zu werden wie sein Vater (deshalb ist es der beste Plottwist aller Zeiten!). Dieser wiederum bemüht sich, seinen Sohn genau dazu zu verleiten. Einer Versuchung, der Luke nur widerstehen kann, in dem er den Glauben an seinen Vater als Idol aufrechterhält: „Es gibt noch Gutes in ihm.“ Dieser grandiose Plot legt die Basis für zwei wesentliche Begriffe im Star-Wars-Universum: Herkunft und Schicksal.

Jenseits der Biologie

Der Krieg der Sterne war stets mehr Mythologie als Parabel. Die naheliegende Metaphorik eines Herr der Ringe war in der Geschichte über Luke Skywalker nie zu finden. Schon weil eine Rassenlehre à la Tolkien in George Lucas‘ Galaxie keinen Platz hatte. Die Menschen waren weder habgierig noch leicht zu verführen, ebenso wenig gab es eine Rasse, die in Würde und Erhabenheit mit den Elben vergleichbar gewesen wäre, im Gegenteil: der Jedi-Orden war ein Meltingpot, die Macht eine universelle Kraft zwischen allem Lebendigen.

Auch die den Geschichten übergeordneten Bedrohungen – der Ring der Macht und der Todesstern – unterscheiden sich fundamental hinsichtlich ihrer Dimension. Der Todesstern ist lediglich eine Waffe, die ultimative Vernichtungsmaschine, aber alle Ähnlichkeit mit der Atombombe verschwindet hinter der völligen Abwesenheit einer Ambivalenz. Nie kommen die Rebellen oder die Jedi auf die Idee, selbst den Todesstern besitzen zu wollen. Der Ring der Macht hingegen entpuppt sich als Bürde für jeden, dem er in die Hände fällt. Am meisten für die Rasse der Menschen, die davon träumen, ihn selbst in der Schlacht einzusetzen und unfähig sind, ihn zu vernichten, als sich ihnen die Chance bietet.

Mythische Macht

So wenig wie es im Krieg der Sterne eine biologische Dimension gibt, an deren Grenzlinien Kriege verlaufen könnten, existiert eine territoriale Unterscheidung: Der Krieg der Sterne ereignet sich im leeren Raum. Jeder Planet, der zum Schauplatz des Krieges wird, wird nur besucht, nie besessen. Stellvertreterkrieg reiht sich an Stellvertreterkrieg. Diese Schwerelosigkeit nimmt den Filmen einen weiteren Bezugsrahmen. Hier stirbt niemand für ein Königreich, hier wird keine menschliche Eitelkeit verhandelt. Streng genommen kommt selbst dem Imperium in dieser Schwerelosigkeit jedes konkrete Ziel abhanden. Der Imperator möchte die Rebellen vernichten, aber darüber hinaus gibt es kein Objekt der Begierde, keine ideologische Utopie. Die Herrschaft über die gesamte Galaxis lautet das totale Ziel, total und leer – und daher absolut böse.

Berufsarmeen ohne Emotionen

Die Klonkrieger und Sturmtruppen sind in ihrer Anonymität derweil so austauschbar, dass die Armee des Imperiums als formvollendete Berufsarmee daherkommt. Niemand wurde zu den Waffen gelockt, keine Brandrede hat Kampfeslust entfacht. Die berüchtigte Treffunsicherheit der Sturmtruppen steht dem nur auf den ersten Blick paradox entgegen. Die Professionalisierung des Heeres erspart den Generälen das Emotionsmanagement, aber sie kostet jede Euphorie. Das Gernetöten ist von diesen Schlachtfeldern verschwunden, vom Imperator selbst einmal abgesehen. Die Jedi wiederum reihen sich aus anderen Gründen in diese Emotionslosigkeit ein: Emotionen verführen.

Die Rebellen kämpfen ihrerseits nur gegen das Imperium, nicht aber für eine konkrete Vorstellung von galaktischem Leben. Allenfalls für sehr naive Begriffe von Freiheit und Republik, schwerelos in ihrer Verzweiflung und doch unverzagt: das absolut Gute.

Ein apolitischer Konflikt

Den Jedi nun liegt das Gleichgewicht der Macht am Herzen. Sie sind die konservativen Hüter einer Ordnung, in der nicht alles gut ist, ja nicht einmal alles gleich, sondern nur diffus ausgewogen. Der Krieg dieser Sterne ist apolitisch. Darin liegt die größte Schwäche der Jedi, ihre ewige Achillesferse: Der Versuchung durch die dunkle Seite der Macht, dem Reiz der ungezügelten Herrschaft, der Emotionalität, können sie ideell nichts entgegensetzen als die stoische Ahnung, dass Zorn und Hass zwar mächtig sein mögen, das eigentliche gute Leben aber nur in einer emotionalen Kälte zu finden ist.

Die Weltflucht der Jedi

Nicht von ungefähr treten die Jedi-Ritter wiederholt als diejenigen in Erscheinung, die vom Krieg der Sterne nichts mehr wissen wollen, die nicht einmal mehr einen Schüler bei sich aufnehmen möchten. Obi-Wan Kenobi, Yoda und jetzt Luke Skywalker waren die mächtigsten Jedi ihrer Zeit, doch der Weisheit letzter Schluss blieb die Einöde, die Abkehr von der Welt und ihren Unwägbarkeiten.

Yoda und Obi-Wan erwischt der Zuschauer zwar nie dabei, wie sie zweifelnd dem Sog der dunklen Seite der Macht gegenüber stehen, aber womöglich ist das ihr einziger Vorsprung an Standfestigkeit gegenüber der langen Reihe an Jedi, die Zeugnis ablegten für die grundsätzliche Ambivalenz der Macht. Die dunkle Seite kann nicht besiegt werden, weil sie nicht mit dem Imperator in den Abgrund gestoßen werden kann. Sie existiert wie die gute Seite zwischen den Dingen und damit auch stets zwischen den Jedis und der Welt. Der letzte Triumph der alten Meister besteht immer wieder nur darin, das Zwischen aufzulösen, indem sie die Welt aus ihrem Dasein verabschieden.

Der Jedi-Orden als Erziehungsanstalt

Als Hüter des Gleichgewichts sind die Jedi freudsche Kinder: bewahren oder zerstören, der Urkonflikt der psychoanalysierten menschlichen Seele entzweit die Jedi, ohne sie je endgültig in zwei getrennte Lager aufzuspalten. Darth Vader bleibt bis zuletzt ein wenig Anakin Skywalker und selbst Luke findet in Episode 8 zurück zu der Furcht, die ihn fast dem Imperator ausgeliefert hätte. Die Jedi spüren das Unbehagen in der Kultur. Der Jedi-Orden fungiert so gesehen als ausgeklügeltes Erziehungsprojekt für besonders begabte und damit besonders gefährliche Zeitgenossen. Die Geburt eines Jedi ist nie ausschließlich der Keim einer neuen Hoffnung, immer schon wirft die Möglichkeit des Systemversagens ihren Schatten voraus. Biologie und Nation würden diesen universellen Dualismus nur einschränken, sie wären Störfaktoren in der den niederen Umständen enthobenen und damit mythischen Welt des Sternenkriegs.

Das Schicksal eines jeden Jedi

In diese Ambivalenz drängt nun allerdings doch eine uralte Kategorie: der lange Schatten des Schicksals. Der Krieg der Sterne ist auch eine große Geschichte über das Elternsein, über Vererbung, Abstammung und Zugehörigkeit. Auf der Mikroebene halten diese scheinbar nebensächlichen Kategorien wieder Einzug. Die Geschichte der Jedis verdichtet sich zu einem Stammbaum, die Faszination der Abstammung trägt ödipale Züge. Wer ist mein Vater, wer meine Mutter, das sind oftmals Fragen, deren Beantwortung Risiken birgt, aber auch Türen öffnet und vor allem: Schicksal mit sich bringt.

Im Krieg der Sterne ist die alte Ordnung noch intakt. Die Essenz geht der Existenz voraus, ein Jedi kann sich nicht selbst entwerfen, früher oder später holt ihn sein Schicksal ein. Die radikale Freiheit, von der die Rebellen vielleicht träumen mögen, bleibt dem Jedi versperrt. Die Bürde, die auf ihm liegt, ist dennoch eine der Verantwortung. Sein Schicksal schlägt ihn mit jener Gefahr für sich und andere, die nur vorherbestimmte Wesen entwickeln können: die Gefahr der Abtrünnigkeit, der Rebellion gegen das eigene Los. Auch hier bricht der Mythos in diese weit, weit entfernte Galaxis, stellt der Sternenkrieg nur die Kulisse für ein olympisches Familiendrama bereit. Anakin Skywalker, der Nullpunkt der Skywalker-Dynastie, wurde in Episode 1 zwar als eine Art unbefleckte Empfängnis dargestellt. Doch auch ohne Vater oder Mutter, die qua ihrer Natur mächtige Jedi zeugen, ereilt ihn ein vorherbestimmtes Schicksal: die Macht ist stark in ihm.

Reys nivellierte Herkunft

The Last Jedi bricht mit diesem mythischen Kern. Sie verabschiedet die alten Prämissen, schafft Platz für ein neues Universum, in dem sich niemand mehr damit aufhalten muss, wo er herkommt, welches Schicksal er hat und wer er ist. Die neue Jedi-Hoffnung Rey treibt ebenfalls das Mysterium ihrer Abstammung um, nur um dann zu erfahren, dass ihre Eltern allen Anschein nach herzlose Säufer waren. Der neue Oberbösewicht Kylo Ren hat schon in Das Erwachen der Macht seinen Vater getötet, wie zum Beweis, dass Abstammung nicht länger von Bedeutung ist.

The Rise of Skywalker kassiert diese progressive Sicht auf den Sternenkrieg dann wieder ein. Reys Herkunft wird erneut in Frage gestellt, nur um letztlich keine Antwort mehr darauf zu geben. Stattdessen wird sie in die Skywalker-Dynastie aufgenommen. Per Adoption, per Segen der Überväter und -mütter? Man weiß es nicht. Darin liegt ein befreiendes Moment: Du kannst eine Skywalker werden, ohne eine Skywalker zu sein. Gleichzeitig gilt: Aber eine Skywalker musst du schon werden, willst du etwas Großes sein. Und: Um deinen Platz zu finden, musst du dich würdig erweisen, vor einem größeren Ganzen, das dir deinen Platz zuweist.

Skywalkers Erbe

So ist die Sequel-Trilogie auf der Zielgeraden doch noch konservativ geworden und hat sich einem echten Aufbruch verweigert. Irgendwo zwischen Fachkräftemangel und offenen Grenzen, Integration und Assimilation, ist der Bruch mit dem Mythos hängengeblieben. Keine Skywalker zu sein, weder den Genen noch der Zugehörigkeit nach, nicht von ihnen ausgebildet zu werden, und dennoch den Frieden der Galaxis zu sichern: das wäre ein Star Wars des 21. Jahrhunderts gewesen. Aber dafür hätten sich die Macher von den Figuren der Original-Trilogie lösen und etwas Eigenes erzählen müssen. Da folgten sie dann doch lieber ihrem Schicksal.

Takeaways

  • Ein grandioser Plot besteht aus Gegenbewegungen, aus Anziehung und Abstoßung
  • Die Grundelemente deines Plots werden die Ideologie deiner Geschichte bestimmen
  • Der alte Konflikt zwischen Gut und Böse benötigt, mythisch genug, keine komplexe Motivation

Manche Dinge müssen einfach gesagt werden. Das macht es dir als Autorin mitunter leichter. Aber manchmal auch verdammt schwer. Denn gute Dialoge zu schreiben, will gelernt sein. In diesem Artikel erfährst du alles über die größten Fallstricke beim Verfassen deiner Dialogszenen – und wie du es richtig machst.

1. Realistisch bleiben!

Sich an der Realität zu orientieren, ist auch beim Schreiben von Dialogen ein guter erster Rat. Aber was heißt das konkret? Zunächst einmal solltest du deine Figuren nicht so sprechen lassen, wie du denkst, dass Menschen oder genauer, Menschen ihres Schlages, sprechen. Was das bedeutet? Stell dir vor, wie Stefan Raab sich über Rapper lustig macht: „Ey yo, Bruder, was geht ab, alter! Fetter Scheiß, yo!“ Genau so solltest du deine Rapper nicht sprechen lassen. Das ist klischeebeladen, aber vor allem ist es: unrealistisch. Es reißt den Leser aus der Geschichte.

Stattdessen solltest du dir erstmal Interviews mit Rappern anschauen, Kool Savas hören und ein Rap-Battle auf YouTube anschauen. Dann wirst du schnell merken, dass diese Leute durchaus eine eigene Sprache sprechen. Aber eben keine Stefan-Raab-Fantasiesprache. Sondern ihre, seit Jahrzehnten gewachsene, mit ihrer Kultur verwobene Sprache. Gleiches gilt für jedes andere Milieu: Die Bankentürme in Frankfurt Main, den tiefen Pott der Backsteinsiedlungen oder das Bundeskanzleramt.

Von der generellen Sprache deiner Figuren abgesehen, gibt es noch einen weiteren, sehr beliebten, unrealistischen Fehler beim Dialoge schreiben:

„Hallo Max, wie geht es dir?“
„Ganz gut, Timo, danke.“
„Gehst du heute noch raus, Max?“
„Mal sehen, was Mama sagt, Timo.“

fiktives Beispiel

Du hast es bereits erraten: Lass deine Figuren nicht dauernd ihre Namen sagen. Wir tun das nicht. Im Gegenteil: Psychologen haben herausgefunden, dass wir es sehr mögen und unser Gegenüber sympathisch finden, wenn es oft unseren Namen sagt. Weil es eben nicht der Normalfall ist.

2. Unrealistisch bleiben!

Ha, erwischt! Du dachtest wohl, Dialoge zu verfassen, sei eine einfache, widerspruchslose Angelegenheit. Weit gefehlt. Denn so sehr wir Realismus benötigen, um den Äußerungen unserer Figuren das nötige Maß an Authentizitä und Glaubwürdigkeit zu verleihen, so sehr benötigen wir Unrealismus um die Leser zu interessieren:

„Ja, manchmal ist mir, als ob ich selber hinter mir herliefe. Ich will davon! Vor mir selber davonlaufen. Aber ich kann nicht! Kann mir nicht entkommen. Muss … muss den Weg gehen, den es es mich jagt! Und rennen … rennen, endlose Straßen! Ich will weg, ich will weg! Und mit mir rennen die Gespenster … von Müttern, von Kindern. Die gehen nie mehr weg.

Fritz Lang – „M – Eine Stadt sucht ihren Mörder“

Natürlich würden wir nie so reden. Die Sprache ist hier dem Milieu entsprechend (ein mittelloser Mörder) einfach gehalten, aber deswegen nicht weniger gemacht. Sie bedient sich eines eindrücklichen Bildes, das sie mit betörender Effektivität ausführt. Aber wann reden wir schon in Bildern? Doch erst recht nicht vor einem wütendem Mob. Und überhaupt, wer sollte uns dabei zuhören?

Aber das ist ja gerade der Trick: Der Leser hört zu. Das verschafft dir als Autor die Freiheit, auszuholen. Und nimmt dich in die Pflicht, nicht bei der Realität stehenzubleiben, sondern zu konstruieren, zu modellieren, zu erschaffen.

Der Gradmesser für eine gesunde Portion Unrealismus sind die mitgehörten, halböffentlichen Gespräche im Café, in der S-Bahn oder auf dem Büroflur: Selbst wenn jemand bei einer solchen Gelegenheit etwas wirklich Spannendes erzählt, würden wir das so nicht drucken wollen. Es ist zu inkonsistent, zu wirr, zu sehr Rohmaterial.

Was nicht heißt, dass gute Dialoge nicht wirr und roh sein können. Durchaus. Aber eben an den richtigen Stellen, im richtigen Maß, mit gutem Grund – also weil du als Autorin sie so konstruiert hast.

3. Figuren spracclich unterscheiden

„Voll krass.“
„Ja, mega.“
„Shit, da hinten kommt Herr Opitz!“
„Na, Kids? Mega Wetter, oder?“

fiktives Beispiel

Es gibt sie nicht nur im Dialog, aber hier tritt sie direkt und schonungslos zutage: die Stimme deiner Figuren. Je nach Alter, Milieu, Geschlecht, Träumen, Ängsten und vielem mehr sprechen sie mit einer anderen Stimme. Und zwar ausnahmlos, jede einzelne Figur. Denn auch wenn die Kassiererin an der gotttverlassenen Tankstelle irgendwo im ausgedörrten Hinterland nur eine Zeile Text hat, ist sie ein Individuum mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Sie kann nicht so sprechen wie der Mathematik-Professor, der sich zu ihr an die Theke verirrt hat.

Gleiches gilt für Herrn Opitz. Der offenbar deutlich älter als die beiden Jugendlichen ist, und in irgendeinem Sinne eine Autoritätsperson. Der einzige plausible Grund, ihn hier so sprechen zu lassen, wie die ihm unterstellten Kinder, ist eine ausgeprägte Midlife Crisis. Das wäre dann guter Dialog. Sonst ist es falsch.

4. Bescheidene Inquits verwenden

Ein Inquit, das ist eine die wörtliche Rede begleitende Formel. Bei Dialogen sind Inquits also gezwungenermaßen allgegenwärtig. Etwa bei: „Du spinnst doch“, sagte er. Doch Autoren lieben das Ausschweifende. Das Üppige. Deshalb lassen sie sich oft dazu verleiten, auf den schmalen Schultern der Inquits tonnenweise Ballast abzuwerfen. Das sieht dann schnell so aus:

„Ich kann nicht glauben, dass du das gerade gesagt hast“, stellte sie mit hochrotem Kopf fest.
„Hab ich aber!“, donnerte Hans trotzig.
„Du machst es nicht besser“, jaulte sie beinahe wehleidig.

fiktives Beispiel

Überfrachtete Inquits in jeder Zeile. Das Tückische an diesen Inquits ist, dass sie dem Gesagten die Kraft nehmen. Sie ziehen die Aufmerksamkeit des Lesers auf sich. Und sind, in all ihrer Deutlichkeit, dabei streng genommen Fälle von Infodump und/oder des berühmten „Show, don’t tell“. Denn dass Jack hier trotzig donnert, hat der Dialog schon gezeigt – „Hab ich aber!“ ist eine wunderbar kindisch-trotzige Zeile. Die wird hier nun aber einkassiert, beschnitten, für nebensächlich erklärt.

Dabei verstoßen diese Inquits auch gegen ein Grundgebot des Erzählens: Überfrachte den Leser nicht mit Eindrücken. Er kommt sonst nicht mit. Und, noch schlimmer: Es entstehen keine Bilder in seinem Kopf. Wie es anders geht, zeigt die redigierte Version des Dialogs:

„Ich kann nicht glauben, dass du das gerade gesagt hast.“ Ihr Gesicht lief rot an.
„Hab ich aber!“, brüllte Hans. Die kleinen Arme hatte er in die Hüften gestemmt.
„Du machst es nicht besser.“

fiktives Beispiel

Das ist natürlich keine Hochliteratur, aber auf einmal doch Literatur. Durch das Kürzen der Inquits kriegt der Dialog Platz zum Atmen. Verloren geht dabei nichts. Und du als Autor gewinnst Raum zur Entfaltung: die kleinen, in die Hüften gestemmten Arme – das ist ein Bild! Der trotzig donnernde Hans ist keins.

Es gibt noch eine weitere Besonderheit bei Inquits. In ihrer guten, bescheidenen Form (sagte sie, flüsterte er, wurde er gefragt) können sie trotzdem noch grundfalsch daherkommen. Nämlich dann, wenn du als Autorin allzu kreativ wirst. Also den durch die Kürzung gewonnenen Platz gleich wieder breitbeinig mit den Inquits besetzen willst: donnerte Hans, lachte sie, ließ er sie wissen.

Hier werden Verben benutzt, die die Handlung (jemand sagt etwas) allzu blümerant ausdrücken, also ebenfalls ganz viel Bedeutung mitbringen, die a) stört, siehe oben oder b) keinen Sinn ergibt. Oder hast du schon mal einen Satz gelacht? Eine Antwort genickt („Das geht“, nickte sie)? Ich fürchte nein.

Wie aber soll man das dann machen, die Sache mit den Inquits? Ganz einfach, zum Beispiel so:

Dann hörte der Motor auf zu brummen, und draußen schrie eine Stimme: „Die Toten hierhin, habt ihr Tote dabei?“
„Verflucht“, rief der Fahrer zurück, „verdunkelt ihr schon nicht mehr?“
„Da nützt kein Verdunkeln mehr, wenn die ganze Stadt wie eine Fackel brennt“, schrie die fremde Stimme. „Ob ihr Tote habt, habe ich gefragt!“
„Weiß nicht.“
„Die Toten hierhin, hörst du? Und die anderen die Treppen hinauf in den Zeichensaal, verstehst du?“
„Ja, ja.“
Aber ich war noch nicht tot, ich gehörte zu den anderen, und sie trugen mich die Treppe hinauf.

Heinrich Böll – „Wanderer, kommst du nach Spa …“

Rief, schrie, und oftmals auch einfach gar kein Inquit. So einfach kann es sein. Und doch so gehaltvoll. Der Trick ist: Vertraue deinen Worten und vertraue deinen Lesern. Wenn es gut geschrieben ist, wird es verstanden werden. Wenn es nicht gut geschrieben ist, werden aufgeschwemmte Inquits es nicht retten.

5. Nutze Beschreibungen

Dialoge können ein Feuerwerk sein. Knall, Boom, Peng! Dann braucht es kaum mehr als die Dialogzeilen selbst. Doch dafür bedarf es bestimmter Voraussetzungen. Vor allem muss hinreichend klar sein, wer spricht. Und wer bedeutet in dem Fall nicht nur, welche Figur, sondern auch, wer diese Figur ist. Ist das noch nicht etabliert, sind Beschreibungen zwischen den Dialogzeilen eine hervorragende Möglichkeit, die Figur zu charakterisieren:

„Und ihre Mutter, was tat ihre Mutter in solchen Situationen?“
Da war eine Macke im Linoleum-Boden, eine dicke, schwarze Macke, Jürgen konnte sie von seinem Platz aus deutlich sehen.
„Sie weinte.“
„Machte es das schlimmer?“
„Lauter. Es war ein lautes Weinen.“ Am liebsten hätte er eine Walnuss darin verrieben, farblich hätte das gepasst und sich mit der Zeit festgetreten. Vielleicht sollte er nächstes Mal eine mitbringen.
„Gibt es etwas, das Sie sich in diesen Momenten von ihr gewünscht hätten?“ Jürgen sah auf.
„Ja, ich … das Küchenmesser.“

fiktives Beispiel

Das könnte der Anfang eines Romans sein. Natürlich trägt hier der Dialog, vor allem die Fragen des Gegenübers, die inhaltliche Hauptlast. Aber die Beschreibungen charakterisieren Jürgen, etwas, das die Dialogzeilen selbst nicht leisten können. Und so beginnt der Leser sich für Jürgen zu interessieren. Nicht allein deshalb, weil er offenbar eine schlimme Kindheit hatte. Schlimme Kindheiten gibt es viele. Aber diese eine hier, Jürgens schlimme Kindheit, die Kindheit des Mannes, der sich Gedanken über eine Macke im Linoleum macht, während er darüber ausgefragt wird – die ist interessant.

Was für Figuren gilt, gilt natürlich auch für die Welt deiner Geschichte. Auch sie kann in eingeschobenen Beschreibungen beiläufig während deines Dialogs charakterisiert werden.

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Talking Story

Werk ohne Autor [Analyse]

[Massive Spoiler voraus]

Der künstlerisch begabte Kurt Banert wächst im Nazi-Deutschland der 30er-Jahre auf, überlebt den Krieg und beginnt in der entstehenden SED-Diktatur seine Ausbildung zum Maler. Erst die Flucht in den Westen befreit ihn von den biederen sozialistischen Kunstidealen. In der Folge sieht er sich mit der bohrenden Frage konfrontiert, wozu er diese neue Freiheit nun eigentlich benutzen soll. Der Künstler und der Kampf mit seinem Werk.

Der ganz große Stoff

Der Stoff aus dem Florian Henkel von Donnersmarcks Geschichte ist (stark angelehnt an die Biografie Gerhard Richters und zugleich stark zugespitzt), bietet Raum für Mythen. Die Art und Weise wie Tom Schillings Kurt Banert mit seiner Begabung ringt, das geschichtsträchtige Panorama, in dem all das stattfindet – drei deutsche Staaten, zwei Diktaturen – die Frage nach der Kunst und ihrer Entstehung, die Enthemmung der Beteiligten. Man kann sich kaum etwas Größeres vorstellen, wenn man sich einmal auf diese Geschichte eingelassen hat. Vor allem auch deshalb, weil Donnersmarck damit seiner im Film prominenten eigenen Prämisse folgt: Er sieht nicht weg und zeigt deshalb Wahres, wie schon in Das Leben der Anderen, oder besser und schlimmer noch: Geschehenes, mit den Mitteln der Fiktion.

Der Stoff fliegt seinem Macher davon

Diese Mittel jedoch haben etwas Verführerisches an sich, wenn sie in Kontakt mit einem monumentalen Stoff wie diesem treten. Die Gefahr war groß, dass Donnersmarck der Versuchung erliegt, zu übertreiben, abzudriften in Kitsch und Pathos. Und tatsächlich: Das Pathos ist über die gesamten 188 Spielminuten unüberseh- und hörbar, der Kitsch schleicht sich immer dann ein, wenn der Regisseur Originalität vermissen lässt. Kamerakreisfahrten bebildern Momente der Ekstase, dicht folgt er Frauenkörpern von Fuß bis Kopf im Halbdunkel. Auf dem Boden liegende Kleider verkünden sexuelle Aktivität. Der böse Schwiegervater betrügt natürlich seine Frau mit dem Dienstmädchen. Ironischerweise tönt daher eine gewisse Selbstvergessenheit des Regisseurs aus einigen Bildern von Werk ohne Autor. In diesen Szenen scheint es fast, als sei Donnersmarck ausgelaufenen Pfaden der filmischen Darstellung gefolgt, weil er sie eben für Wahres hält. Und damit für schön, wie des Malers Tante diesem von Kindesbeinen an eintrichtert.

Das Wegsehen und damit im Filmischen das Nicht-Zeigen wird in Werk ohne Autor zum Sündenfall erkoren. Eine geniale Idee, weil sie die Historie spiegelt, durch die der Film sich wühlt. Im Hitler-Deutschland war Wegsehen gleichbedeutend mit der Ermöglichung der Katastrophe, in der DDR mäanderte man zwischen bürgerlichem Wegsehen und staatlichem Hinsehen und als Banert schließlich in der BRD der 60er Jahre aufschlägt, hüllt man sich dort noch in Schweigen bezüglich der Vergangenheit und damit der eigenen Schuld.

Hinsehen verboten?

Für den Künstler aber bedeutet das Hinsehen gleichzeitig das Arbeitenkönnen. Kunst und Moral erleben hier eine Verknüpfung jenseits einer stets vom Dogma bedrohten inhaltlichen Definition: Beide haben die Wahrheit zur Voraussetzung, mehr nicht. Der Schwiegervater als Antagonist wiederum ist aufgrund seiner Vergangenheit Zeit seines Lebens darum bemüht, dass die Leute weiterhin wegschauen, er selbst eingeschlossen – das ist hohe Plot-Kunst. Hier hebt der Film also spürbar zu einem großen Wurf an. Aber leider kommt er damit nie irgendwo an – er stürzt vielmehr.

Dem Dogma des Hinsehens folgt Donnersmarck konsequenterweise auch in seiner eigenen Arbeit. Dies hat zur Folge, dass sich das Gros der Kritiken zu Werk ohne Autor an den vermeintlichen moralischen Verfehlungen abarbeitet, die den Film durchziehen sollen, weil er eben zu genau hinsieht. Einer Figur mit der Kamera in die Gaskammer zu folgen ist zweifelsohne so gewagt, dass sich das Adjektiv krümmt, wenn man es benutzt. Die Bombardierung Dresdens als Gegenschnitt zu wählen, ist zumindest mutig. Vor dem Hintergrund, dass jedes Jahr in diesem Land Mahnwachen stattfinden, bei denen Rechtsradikale auf geschichtsklitternde Weise den Opfern des Bombenkriegs gedenken, ist es zudem auch unglücklich.

Moralisch konnotierte Kritik

Aber man kann die Montage dennoch kaum gegen den Regisseur wenden, spätestens dann nicht mehr, wenn er in derselben Szene das trostlose Ende deutscher Soldaten (die Brüder des Protagonisten) an der Ostfront bebildert. Diese Dreifach-Montage ist künstlerisch gerechtfertigt, weil alle drei Ereignisse den jungen Maler prägen werden. Die geliebte Tante wird ermordet, die geliebte Heimatstadt zerbombt, die Familie zerfällt in ihre Einzelteile. Zumal die Gaskammerszene zwar notwendigerweise ästhetisiert ist, wie alles was auf Film gezeigt wird, aber keineswegs stilisiert. Aller klassischen Musik zum Trotz beklemmt die Sequenz, man kann das Gezeigte kaum ertragen (nicht zuletzt dank der großartigen Arbeit von Saskia Rosendahl). Diese Zumutung an den Zuschauer dröhnt daher wie ein Appell: Verhindern lässt sich die Katastrophe nur, wenn man hinsieht.

Der zweite große moralische Kritikpunkt der Kritiker betrifft den Umgang des Filmes mit seinen Frauen. Zu oft zur Staffage reduziert, ihre Körper ästhetisiert bis hin zur Entmenschlichung – so die Vorwürfe. Und tatsächlich besteht der Film den berühmten Bechdel-Test nicht, sprechen doch eigentlich nie zwei Frauen miteinander. Hin und wieder sieht man sogar nackte Brüste.

Mindestens ebenso oft sieht man allerdings Tom Schillings blanken Hintern, auch wenn dabei zugegebenermaßen keine diesen Körper zelebrierende Kamerafahrt zum Einsatz kommt. Viel verstörender als das bisschen Wahrheit – Männer starren auf schöne Frauen und sind von ihnen inspiriert – gerät die Verquickung von künstlerischem Durchbruch und weiblicher Fruchtbarkeit. Erst als Banert zu seinem Stil gefunden hat, wird seine Frau doch noch schwanger. Der Künstler als Geburtshelfer, die Frau als Trägerin seiner Früchte. Hier hätte man die Kritik am Chauvinismus platzieren können, aber dafür hätte einem die Metapher natürlich auffallen müssen.

Unscharfe Charakterzeichnung

Trotzdem nähert man sich so einem entscheidenden Makel von Werk ohne Autor. Die Nebenfiguren bleiben allesamt, nicht nur weil und wenn es Frauen sind, blass und unterentwickelt. Woher nimmt der Schwiegervater seine fast schon karikaturhafte Bosheit? Was hindert die Tochter und seine Frau am Aufbegehren? Was will die Tochter eigentlich außer ihren Maler? Darauf hat Donnersmarck auf seiner Suche nach der Motivation seiner Hauptfigur keine Antwort gefunden. Vermutlich hielt er es auch nicht für besonders wichtig.

Bei dieser Suche scheint der Regisseur einen kleinen persönlichen Triumph erlebt zu haben, lange bevor die erste Szene überhaupt gedreht wurde. Vier Wochen lang traf Donnersmarck sich täglich mit Gerhard Richter, dem realen Vorbild seines Protagonisten. Wenn man so will, konnte man Richter bis dato als unerschlossenen Künstler begreifen. Als jemanden, der stets alle autobiographischen Deutungsversuche von sich wies und stattdessen seine Bilder sprechen ließ. Donnersmarck aber nimmt sich mit Werk ohne Autor unübersehbar heraus, Richters Betriebsgeheimnis auf die Spur gekommen zu sein.

Am Ende Banales

Das wäre für den Film nicht weiter schlimm, ja sogar förderlich, wenn die vermeintliche Erkenntnis nicht so abgedroschen wäre: Das Werk des Künstlers trägt tiefe autobiographische Furchen. Auf die (Kino-)Leinwand gebannt, mit dem Pathos einer großen Wahrheit, wirkt diese Einsicht noch banaler als ohnehin schon. Die eingangs etablierte Prämisse von der Wahrheit als notwendiger Erfüllungsgehilfin der Kunst, vom Hinsehen als heroischem Akt, kondensiert so zu einer Binsenweisheit.

Nach all dem Pathos hätte man aber einfach mehr erwartet als mystische Momente der kreativen Erleuchtung mit Blätterrascheln und einen Transfer der 8-Mile-Logik vom Ghetto in die Kunstakademie. So kann der Film sein Versprechen nicht einlösen und seine Höhe nicht halten. Aber zwischendurch ist Werk ohne Autor immer wieder brillant, nicht nur was den grundsätzlichen Plot angeht: die Art wie Paula Beer das erste Mal zu Tom Schilling ja-sagt, der erste Auftritt ihres Vaters, die Akribie des Pinselstrichs, das Grauen der Gaskammer, die lähmende Ohnmacht gegenüber der zwangssterilisierenden Staatsmacht, Stanniolpapier auf Nachthimmel. Man wünscht sich mehr solcher Filme, zumal aus Deutschland, die etwas wagen und deshalb wenigstens scheitern, wenn sie enttäuschen.

Takeaways

  • Fürchte dich nicht vor den ganz großen Stoffen
  • Berausche dich nicht an deinen vermeintlich großen Einsichten (jedenfalls nicht nach den ersten Revisionsschleifen)
  • Lass dich in deinem Erzählen nicht von den vorherrschenden Moralvorstellungen einschränken
  • Schreibe deine weiblichen Figuren nicht als Frauen, sondern stets zuallererst als Menschen