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Talking Story

American Psycho [Analyse]

[Massive Spoiler voraus (auch das Buch betreffend)]

Schon im Titel und im Namen der Hauptfigur Patrick Bateman klingt an, was in der Geschichte verfolgt wird. Eine Art Sittengemälde der spezifisch amerikanischen Art des Psychopathen, die den noch vereinzelten Psychopathen Norman Bates aus Hitchcocks 50er-Jahre-Klassiker Psycho längst übertrifft und auf so häufige Art reproduziert, dass gleichzeitig die Frage nach der Verstrickung des amerikanischen Traums in diesen Sittenverfall aufgeworfen wird. Was für ein Satz. Sauerstoffmaske anlegen. Es geht los.

Dialektik des Individualismus

In diesem New York zählt das Eierschalenweiß der Kreditkarte und die Art, wie man die Weste unter dem Sakko trägt, mehr als das eigene Gesicht. Wer man ist, ist unbedeutend. Nur vor dem Hintergrund dessen, was man hat (eine Reservierung im hippsten Restaurant der Stadt etwa), erhebt sich so etwas wie eine Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz. Natürlich führt gerade diese Moral direkt in die Beliebigkeit der beteiligten Personen. Und so ist es kein Wunder, dass niemand die sich anhäufenden Opfer Batemans zu vermissen scheint. Was mit Morden an Obdachlosen und Prostituierten beginnt, nach denen ohnehin niemand fragt, entwickelt sich zu freimütigen Morden an Kollegen und Ex-Freundinnen. Doch die Grenze, die Bateman hier unter zunehmendem Kontrollverlust zu überschreiten scheint, löst sich auf in der Identitätslosigkeit auch dieser gut situierten, vermeintlich integrierten (worin?, dröhnt es) Opfer seiner Gewaltexzesse. Die Konsumgesellschaft dieses Melting Pots der übleren Sorte verschluckt das Individuum.

Realität ohne Subjekte

Ein Privatdetektiv (Willem Dafoe) findet zwar den Weg in Batemans (Christian Bale) Büro, doch seine Ermittlungen geraten bald ins Stocken, als der vermisste Wall-Street Broker in London gesehen wird – oder auch nicht. Selbst Batemans Anwalt, dem dieser ein ohrenbetäubendes Geständnis aufs Band spricht, amüsiert sich über den vermeintlichen Mordfall. Er habe doch vor zwei Wochen mit Paul in London zu Mittag gegessen, was soll das Ganze? Batemans Verbindung zur Realität wird zunehmend in Frage gestellt. Hat er vielleicht den Falschen ermordet? Sich in der Adresse geirrt?

Das ist einerseits irre komisch und andererseits eine beißende Pointe. Die Wahrheit und mit ihr das Rechtssystem bestehend aus Ermittlern und Anwälten hat keinen Platz in einer Welt ohne Subjekte. Genau solch eine Welt zeigt der Film aber. Eine Welt voller hypermaskuliner Kleiderständer, die sich morgens ihre Gesichtsmasken von den Augen pulen, darunter aber nicht entscheidend Menschlicheres zum Vorschein bringen.

Identität nur jenseits der Extreme

American Psycho ist daher ein Film über Identität, der nach den kleinen Unterschieden fragt, die für gewöhnlich aufgeblasen herausgestellt werden: Hier die Guten, dort die Bösen, da der karriereorientierte Wall-Street Yuppie, hier der kaltblütige Serienmörder. Dort, wo sich die Geschehnisse von American Psycho ereignen, sind diese Unterschiede längst nivelliert. Die Unterscheidung zwischen den mit allerlei nichtssagenden Konsumgütern ausstaffierten Individuen fällt so schwer, dass der Begriff Individuum selbst auf die Probe gestellt wird. Am unteren Ende der Hierarchie sind die Individuen wiederum derart vom Entzug von jeglichem Konsum gezeichnet, dass auch hier eine Unkenntlichkeit Einzug hält, die es nicht erlaubt, den einen Obdachlosen vom anderen zu unterscheiden.

Irgendwo zwischen diesen beiden Extremen scheint eine Mitte zu liegen, die den zweifelsohne nötigen Konsum zum Erhalt des eigenen Lebens und der eigenen Distinktion zulässt, jedoch nicht in die völlige Selbstauflösung führt, in der man selbst nur noch Konsumgut ist. Gleich einem Soldaten, der nichts weiter als die an seiner Brust hängenden Abzeichen mehr darstellt, also Kanonenfutter oder General ist, in völliger Ignoranz gegenüber seiner Menschlichkeit. Doch in American Psycho fehlen Figuren dieser gemäßigten Mitte. Einzig der Privatdetektiv, der Bateman aufgrund des rätselhaften Verschwindens seines Kollegen ins Visier nimmt, scheint die normale Bevölkerung zu repräsentieren. Allerdings dauert es nicht lange, bis auch er die Orientierung verliert und selbst nicht mehr weiß, ob der Gesuchte nun noch lebt oder nicht.

Konsum bis in den Kannibalismus

Batemans Gewaltexzesse werden dabei im gleichnamigen Buch ebenso detailliert beschrieben wie die Outfits der Kollegen oder das Essen im Restaurant. Der Unterschied zwischen diesen Tätigkeiten ist also bloß ein gradueller, und letztlich nicht einmal mehr das. Als Bateman beginnt, die Leichen zu essen, sie also wortwörtlich als Konsumgut zu begreifen, erreicht das Geschehen sein Höchstmaß an Ekel. Gleichzeitig verschwimmen die Grenzen zwischen täglicher Arbeit und nächtlicher Triebauslebung zusehends. Im Buch fällt sogar manches Mittagessen zugunsten eines Leichenschmauses aus. Der Film hält sich hier etwas zurück und beschränkt sich auf die spätere Offenbarung von Batemans Taten (in einer schönen Reminiszenz an The Texas Chainsaw Massacre).

Dieser Kannibalismus ist nur die logische Folge einer vollständigen Konsumorientierung, die das Gegenüber zunächst beim Geschlechtsverkehr als bloßes Mittel zur eigenen Befriedigung begreift und schließlich in aller Konsequenz auch nichts moralisch Falsches oder gar (noch wahnwitziger) Abstoßendes mehr daran finden kann, den Körper des Anderen zu verspeisen.

Heilig ist nur der Konsument

Das einzige Tabu, das Bateman aufrechterhält, ist jenes, das die eigene Aufmerksamkeit nach innen richtet und damit den Verzehr behindert: der Selbstkonsum. Trotz aller Psychosen und Wahnvorstellungen (ein Geldautomat fordert Bateman auf, ihn mit einer streunenden Katze zu füttern) beginnt Bateman nie, sich selbst zu verletzen oder zu bestrafen. Sogar die Selbstbefriedigung ist an den Beginn der Handlung gesetzt und geht in der Folge über in zur Masturbation verkommenem Sex. Die Pornos, die Bateman in der Videothek ausleiht, sind schnell nur noch Anschauungsunterricht, mit dem er seine in die Tat umzusetzenden Fantasien beflügelt. Dieses Tabu dient der Erhaltung des eigenen Egos, dem Konsum darf nicht der Konsument wegbrechen, geschweige denn ein Reflexionsprozess bei diesem einsetzen – ganz wie im echten Leben.

Beziehungen – mit wem denn?

Die Unfähigkeit, tiefergehende Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen, reiht sich in dieses Schema ein. Bateman kann die Menschen nicht losgelöst von ihrem Gebrauchswert betrachten, ob tatsächlich oder nur zur Schau gestellt. Dieses Be- und Verurteilen der Menschen in seiner Umgebung macht es ihm unmöglich, sie als das zu betrachten, was sie jeweils sind. Nur zufällig fallen seine Urteile mit dem Wesen der Leute zusammen („Dieses selbstgefällige Arschloch“), die er größtenteils entweder verabscheut oder für gnadenlos langweilig hält (insbesondere Frauen).

Gleichzeitig stellt sich die Frage, wie es Bateman auch gelingen sollte, mit Menschen seines Schlags ernsthafte Beziehungen zu führen, die selbst keine Subjekte mehr darstellen. Allein seine Sekretärin Jean, die qua sozialem Status schon einer anderen Spezies angehört, scheint so etwas wie genuine Zuneigung für Patrick zu empfinden, also tatsächlich dem Subjekt Patrick Bateman näher kommen zu wollen. Was wiederrum nicht für sie spricht. Denn ein Subjekt Bateman gibt es für die Mitwelt eigentlich nicht, sondern nur dessen Visitenkarte, seine Anzüge und seinen makellosen Teint. Patrick selbst scheint das zu spüren, weshalb er von dem eigentlich an ihr geplanten Mord absieht und sie als Einzige unbehelligt aus seiner Wohnung entlässt. Das wirft die Frage auf, ob er überhaupt ein Mörder ist, verschont er doch das einzige Individuum, das ihm begegnet. Tötet er nur Nicht-Subjekte, wo sind dann die Opfer?

Alles nur ein Traum?

Am Ende versucht Bateman, sich einer gerechten Strafe auszusetzen. Zu diesem Zweck läuft er zunächst in den nächtlichen Straßen New Yorks Amok und spricht dann seinem Anwalt ein Geständnis auf Band. Doch Bateman muss feststellen, dass ihm keiner glaubt. Mehr noch, seine Verbrechen verfangen nicht in der Realität, sie geschehen, werden aber von niemandem zu Kenntnis genommen. Selbst das Appartement seines Kollegen, in dem er diesen hingerichtet hat, wird längst neu vermietet, und ein Paul Allen soll dort nie gewohnt haben. Für einen Moment stellt sich die Frage, ob Bateman all das nicht nur geträumt hat.

Doch welchen Unterschied würde das machen? Die Realität, an der Bateman sich orientiert, ist längst in Auflösung begriffen. Bar jeder Subjekte und einer von ihnen konstruierten Wirklichkeit wäre das Morden nicht einmal dann unstrittig, wenn Leichen präsentiert werden könnten. Diese Buch wie Film seit Erscheinen begleitende Frage kann daher nicht kriminalistisch lauten: Lebt Paul Allen oder nicht? Sondern: Gibt es ihn?

Takeaways

  • Nimm etwas, und steigere es bis in seine absurdesten Konsequenzen hinein. Dann schreib sie auf.
  • Wenn du über die fatalen Folgen von X schreibst, suche nach einem damit verwandten Tabu – und brich es
  • Die Realität deiner Geschichte hängt von ihren Protagonisten ab, nicht von der unseren
  • Um Beziehungen wirkungsvoll zu schildern, musst du zuerst beeindruckende Subjekte schaffen
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The Favourite [Analyse]

[Massive Spoiler voraus]

Leiden oder Langeweile, mehr halte das Leben nicht bereit, gab Arthur Schopenhauer im 19. Jahrhundert zu Protokoll. Denn entweder man führe ein prekäres Leben mit allerlei Entbehrungen und Knechtschaft oder aber man sei den Niederungen der Lebensnotwendigkeiten entkommen und müsse erkennen, dass ungehemmter Konsum frei von jedweder Mühsal noch viel sinnloser ist als das Dasein der Besitzlosen. Vorhang auf für The Favourite.

Aufeinanderprallende Welten

Unter dem Brennglas des Hofes prallen diese beiden Lebenszustände aufeinander wie nirgends sonst. Die Dienerschaft lebt in beständiger Angst vor den Launen der Obrigkeit, die sich derweil Hummerwettrennen und Schminkexzessen hingibt. Der Stoff, von dem Lanthimos erzählt, ist in dieser Umgebung also bestens aufgehoben, denn The Favourite handelt nur vordergründig von Intrigen und Irrsinn. Eigentliches Sujet sind das Leiden und die Langeweile.

Es herrscht Krieg zwischen England und Frankreich. Doch die englische Königin Anne (Olivia Colman) versinkt in Depressionen, die „Tragik ist ihr ständiger Begleiter“. Umschmeichelt und gleichsam kontrolliert von ihrer engsten Vertrauten Lady Sarah (Rachel Weisz) hält sie die Geschicke des Reichs nur noch pro forma in den Händen. Die Opposition im Parlament fordert Friedensverhandlungen, Lady Sarah aber will noch tiefer in die territorialen Eingeweide des Feindes vordringen – obwohl (oder weil?) ihr Mann an der Front kämpft. In dieses Schauspiel platzt Sarahs Cousine Abigal (Emma Stone) hinein, die ihren Adelstitel verloren hat und am Hofe einen Neuanfang wagen will. Lady Sarah zeigt sich gütig und weist ihr einen Platz in der Küche zu. Doch Abigail hat andere Pläne.

Identifikationsfigur gesucht

In der Folge entspinnt sich zwischen den beiden Cousinen ein Kampf um die Gunst der Königin, der mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln geführt wird. An diesem Punkt verliert sich der Film schnell in der Beliebigkeit des höfischen Daseins. Ein echter Grund für die Motivationen der beiden Anti-Heldinnen ist nicht auszumachen. Lady Sarah führt selbst einige Male die Liebe an, die sie an die Königin und an das Reich und deren beider Wohl binde. Doch überzeugen kann ihr berechnendes und distanziertes Agieren langfristig weder den Zuschauer noch die Königin. Letztere ist Lady Sarahs Definition von Liebe spätestens dann überdrüssig, als Abigail beginnt, sie mit der zuckrigen Anmaßung namens Bewunderung zu überschütten.

Desillusionierte Dekadenz

Abigail wiederum möchte zurück in den Adelsstand, sie träumt von ausschweifenden Gelagen. Zunächst tritt sie dabei als vom Schicksal Gezeichnete auf und bietet dem Zuschauer die einzige echte Identifikationsfigur. Doch schon bald offenbart sich hinter der gutmütigen und allzu nachvollziehbaren Oberfläche, hinter dem Wunsch nach ein bisschen Würde und Friede, ein Mensch, der für den eigenen Vorteil jeden Nachteil Dritter in Kauf nimmt. Zurück im aristokratischen Zirkel ergreift Abigail dann auch nicht die Freude über das Erreichte, sondern eben die Langeweile, übertüncht mit einer morbide anmutenden Feierwut, als sei sie verzweifelt auf der Jagd nach eben jenem Glück, das das Leben in der höfischen Dekadenz aus der Perspektive der Besitzlosen doch verspricht.

Manchmal macht es Spaß, Königin zu sein

Lady Sarah hingegen erkennt ihre Niederlage auf stoische Weise an, so dass es fast scheint, als sei sie froh darüber, die ewige Langeweile und die Macht um der Macht willen gegen ein bisschen echtes Leiden eintauschen zu können. Die Königin hat ihre Depressionen derweil auch mit ihrer neuen Vertrauten nicht überwunden. Zwar dürfen ihre Kaninchen, die die Namen ihrer zahlreichen totgeborenen Kinder tragen, nun frei in den Gemächern herumtollen. Aber diese Befreiung gegenüber der emotionalen Käfighaltung unter Lady Sarah ist ebenfalls nur eine scheinbare. Die Bejahung der eigenen Tragik mündet ebenso wenig in Akzeptanz wie ihre Verdrängung. So entdeckt die Königin dann doch noch ihren Herrschaftswillen als letzte Bastion des Trosts. In einer psychedelischen Sequenz zwingt sie Abigail dazu, sie sexuell zu befriedigen:

„Mir ist schwindlig, ich muss mich irgendwo festhalten“ (packt Abigail an den Haaren).

The Favourite

In diesem Moment realisiert Abigail die unveränderte eigene Abhängigkeit, ihr Ausgeliefertsein an die Launen der Königin. Aus dem Leiden gibt es kein Entkommen, es sei denn, man ist selbst die Herrscherin. Dann aber droht eine völlig andere, nicht weniger schmerzhafte Form der Ernüchterung. Die Szene blendet über in das Gewimmel der Kaninchen, das eine Spur von Ewigkeit vermittelt, vom ewigen, sinnlosen Gewimmel am Hofe wie anderswo.

Auf die Not des Hungers folgt das Erbrechen

Als Siegerin aus dem Kampf um die Krone geht so letztlich doch Lady Sarah hervor, deren stoische Würde ihr als Einzige die Tragik nimmt. Nichts sei umsonst, merkt sie an, angesprochen auf ihren Wunsch, den Krieg gegen Frankreich auszudehnen, obwohl ihr Mann bei den Truppen weilt – und sie sei bereit, ihren Preis zu zahlen. Dieser Erkenntnisvorsprung unterscheidet sie von den übrigen Protagonisten. In all der Sinnlosigkeit hat sie eine Leiden-Schaft für sich entdeckt. Ähnliches hatte auch schon Schopenhauer vorgeschlagen.

Lanthimos bebildert dies eindrücklich: Wo Abigail erst ausgehungert Brot in sich hineinstopft, um sich später nach den Gelagen herzhaft zu übergeben und die Königin den täglichen Kuchen ohnehin stets postwendend wieder zurück auf den Teller befördert, muss Lady Sarah erst vergiftet werden, bevor sie sich erbricht. Die Langeweile der Verdauung ist ihr fremd. Sie hat sich einen Hunger bewahrt, weshalb ihr Körper auch nicht gegen Überfressung rebellieren muss.

Plotting als Verweigerung

Lanthimos Verzicht auf einen ausgearbeiteten Plot, das Dahinplätschern der Exzesse, nimmt dem Film seine leichte Konsumierbarkeit, die anhand der schillernden Charaktere und großen Schauspielleistungen problemlos möglich gewesen wäre. Das kann man dem Werk als Makel auslegen. Aber gerade diese Unkonsumierbarkeit verleiht dem Gezeigten eine Unruhe und Sinnlosigkeit, die den Zuschauer auf das zentrale Thema des Films zurückwerfen: Entweder man leidet an dieser Sperrigkeit von The Favourite oder man langweilt sich. In jedem Fall aber sieht man der Zergliederung menschlicher Befindlichkeiten zu, deren Art und Weise bereits eine Pointe enthält. Auch wenn Lanthimos diesmal nicht das Drehbuch schrieb: So viel Konsequenz ist ihm zuzutrauen.

Unterstellt man dem Regisseur diese Absicht, ergibt auch das unerwartete Genre des Kostümfilms Sinn. Denn Lanthimos Filme (allen voran der grandiose Dogtooth) machten bisher durch eine gewisse Reduziertheit von sich reden. Die Kostüme und Perücken jedoch legen dem Stoff gerade eine Ebene der totalen Oberflächlichkeit bei, von der aus die Abgründe von Leiden und Langeweile noch an Tiefenschärfe gewinnen. So wird The Favourite zu einem Film, der das bloße Vehikel für einen anderen Stoff darstellt. Das muss man nicht mögen. Aber vielleicht sollte man es gesehen haben.

Takeaways

  • Du darfst alle Regeln des Erzählens brechen, wenn du es gut begründen kannst
  • Eine Dreieckgeschichte funktioniert, wenn alle Ecken miteinander in Verbindung stehen (per Winkel, Schenkel und Satz des Pythagoras)
  • Wirkungsvolle Metaphern ergeben sich unter anderem aus den Wünschen und Zielen der Protagonisten und erlangen so Bedeutung
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The Texas Chainsaw Massacre [Analyse]

[Massive Spoiler voraus]

Tobe Hoopers The Texas Chainsaw Massacre ist ein Klassiker des Slasher-Kinos. Von seiner verstörenden Wirkung hat das Machwerk bis heute nichts verloren. Zwischen den Morden erzählt es von wirtschaftlichem Niedergang, gescheitertem Hippietum und dem Wert der Familie. Doch seine bedrückende Kraft zieht der Film aus der beispiellos vollendeten Verfleischlichung seiner Protagonisten. Eine Analyse.

Das Grauen entsteht im Kopf

Sommer 1973. Ein VW-Bus voller Twentysomethings strandet im Nirgendwo des texanischen Hinterlands. Bald darauf macht ein wortloser Hühne mit blutverschmierter Metzgerschürze Jagd auf die fünf Freunde, hängt sie bei vollem Bewusstsein an Fleischerhaken auf und zerstückelt sie mit einer Kettensäge.

„It’s a film about meat“, so Regisseur Hooper und so eindeutig auch seine Inszenierung. Der vermeintlich unschuldigen Diskussion über die Vorteile des Bolzenschussgeräts, das im Gegensatz zum Vorschlaghammer das Vieh sofort tötet, folgt wenig später ein Mord mit Letzterem, der dann auch prompt zwei Schläge erfordert. Die Maske des als Leatherface in die Filmgeschichte eingegangen Mörders besteht aus den Hautfetzen seiner Opfer, also aus Leder. Überhaupt ist die degenerierte Familie der Sawyers nicht zufällig zu kannibalistischen Mördern geworden, sondern führt nur die eigene Familientradition fort. Eine arbeitslos gewordene Schlachter-Dynastie hat das Vieh, nicht aber die Profession gewechselt.

Anstatt die Schlachtung der Opfer minutiös zu zelebrieren, wie es die jahrzehntelange Indizierung des Films vermuten ließe, zeigt Hooper ausgesprochen wenig Gore-Szenen. Das Grauenvolle geschieht, ohne dass der Zuschauer es direkt beobachten könnte. Stattdessen rattert die Kettensäge, wackelt der Holzboden.

Die Parallele zur Fleischindustrie wird hier unübersehbar: Eine verstörende Anonymität hält Einzug im Akt des Tötens. Leatherface bringt diese als gesichtsloser und stummer Täter ohnehin schon mit, die beiläufige, explizit nur im Kopf des Zuschauers stattfindende Gewalt verstärkt dieses Empfinden zusätzlich. Als die letzte Überlebende auf dem Ladedeck eines vorbeifahrenden Pick-Ups entkommt, setzt Hooper seine Schlusspointe. Allem Anschein nach ist das Mädchen wahnsinnig geworden. Ihr Intellekt hat das Grauen nicht überlebt, sie wurde zu Vieh und Vieh wird sie bleiben.

Ein veganes Manifest?

All dies kann man als Kritik am Fleischkonsum verstehen. Wenn eines der Mädchen während der Diskussion zu Beginn des Films um einen Themenwechsel bittet, da sie Fleisch doch eigentlich möge, ist dies in Zeiten von Tierethik und veganer Rügenwalder aktueller denn je. Aber diese Interpretation übersieht die Funktion der implizierten Nähe zwischen Fleisch und Mensch.

Fernab aller intellektuellen Scherereien ist The Texas Chainsaw Massacre vor allem ein Film, der den eigenen Körper erfasst. Die dröhnende Tonspur, die schnellen Schnitte und die unentwegt schmutzige Optik machen den Film zu einem primär sinnlichen Erlebnis. Zu Hitze, Staub und Schweiß gesellt sich erst Blut, dann Spinnweben, Rost, Federn, blanke Knochen. Nichts ist vor dem Verfall gefeit, selbst die Häuser verlottern.

Die eigene Fleischlichkeit erfahren

Das Grauen, das der Zuschauer empfindet, vermischt mit einer Spur von Ekel, speist sich vor allem aus der sorgsam vorbereiteten Animalisierung der Protagonisten. Während die Sawyers bereits zu empathiebefreiten, aber keineswegs gänzlich gefühlslosen Bestien degeneriert sind, erleiden ihre Opfer mit fortschreitender Filmdauer im Ergebnis dasselbe Schicksal, wenn auch auf anderem Wege. Die Tötung per Vorschlaghammer, der Einsatz des Fleischerhakens und die anschließende Verwahrung in der Gefriertruhe reduzieren die Protagonisten brutal auf ihre Körper, auf ihr Fleisch und ihre Knochen. Als die Gruppe sich in das fremde Anwesen begibt, betritt sie ein Schlachthaus und wird selbst zu Vieh.

In der Auflösung dieser anfangs scharf dargestellten Dissonanz zwischen Mensch und Fleisch spielt sich zweierlei ab. Die Menschen werden zu Fleisch degradiert, das Fleisch selbst wiederum feiert die Wiederentdeckung seiner Leiblichkeit. Das gegrillte Rindfleisch von der Tankstelle und die von Leatherface kredenzten Überreste der Opfer haben sich am Ende des Films angenähert. Sie sind nun beide Fleisch und bestehen beide unmissverständlich aus Leichenteilen. Konsequent verneint der Film dabei den immer stärker werdenden Wunsch nach Reinigung, nach Sauberkeit, nach Plastikschachtelidylle.

Insofern stimmt es, wenn man The Texas Chainsaw Massacre eine veganisierende Wirkung unterstellt. Der Film hallt auch dann noch nach, wenn das Steak bereits auf dem Teller liegt. Doch dies bleibt ein Nebeneffekt. Die als Kritik am Fleischkonsum interpretierbaren Szenen fragen nach dem Unterschied zwischen Tier und Mensch. Eine nachdrückliche Antwort auf diese Frage liefern die Sawyers. Aus ihr speist sich die unerreicht verstörende Kraft des Films.

Takeaways

  • Die wirklich großen Monster sind keine oberflächlichen Schablonen des Bösen
  • Beschreibungen und Details sind machtvolle Verstärker einer Grundstimmung, aber bilden nicht selbst die Grundstimmung
  • Foreshadowing ist dann am effektivsten, wenn es mehr als eine Funktion erfüllt und mit einem Teil der Geschichte in Verbindung steht
  • Lass deine Figuren allmählich gegen ihren Willen zu etwas ihrem Wesen Entgegengesetztem werden, um große Gefühle auszulösen
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Shape of Water [Analyse]

[Massive Spoiler voraus]

Guillermo del Torros Shape of Water ist ein Kritikerliebling. Selbst den Oscar für den besten Film konnte ihm niemand streitig machen. Am Film selbst kann das nicht liegen. Sondern eher am Hollywood-Zeitgeist und an einer offenen Rechnung mit King Kong. Ein Versuch der Analyse.

Überdeutliche Figuren

Eine stumme Frau (Sally Hawkins) verliebt sich in Aquaman (Doug Jones). Aquaman ist aber Gefangener der amerikanischen Regierung und soll exekutiert werden, weil nur ein Toter ein „wunderbarer Neger“ ist. Natürlich will einer der Wissenschaftler das verhindern, der zugleich ein russischer Spion ist (Michael Stuhlbarg). Also ist die stumme Frau Elisa nicht allein, ihre schwarze Kollegin (Octavia Spencer) und ihr schwuler Nachbar (Richard Jenkins) helfen ihr ohnehin. Doch Obacht: Der böse weiße Mann Strickland (Michael Shannon) aus der kapitalistisch ergaunerten Vorstadtidylle hat bereits sein Lager neben Aquaman aufgeschlagen!

Ach, übrigens. Der schwule alte Nachbar ist ein brotloser Künstler, der trinkt und vom Fortschritt (es gibt jetzt Fotos) überholt wurde, gefeuert von dieser unbarmherzigen Firma, die doch tatsächlich keine Verwendung mehr für ihn hatte. Elisa und ihre Kollegin sind freilich Reinigungsfrauen, unterste soziale Schublade also. Und Aquaman entstammt natürlich dem Reich der Azteken, wo die Regierung nicht nur neokolonialistisch Öltürme baut, sondern auch noch die einheimischen Gottheiten kidnappt. Diese Fülle an Überdeutlichkeit wird dem Film als Qualität ausgelegt, entpuppt sich in der weiteren Umsetzung aber als Hypothek.

Ein formloser Film

Denn Shape of Water hätte ein sehr guter Film werden können. Ein Film über Sprache, übers Gehörtwerden und Nichtgehörtwerden, über die Liebe selbst. Aber Shape of Water ist ein Film, der selbst keine Form hat, wie die oben angesprochene Überfülle an politischen Konnotationen andeutet. Im Kern seiner Geschichte bleibt der Film zwar ein Stück über die Entdeckung des Subjekts im Objekt – Quelle von Empathie und Schaudern zugleich. Die Mehrheit will diesen Erkenntnissprung dann meist nicht mitgehen und daraus entspinnt sich die ganze Tragik (Frankenstein, Die Schöne und das Biest, ja selbst Romeo und Julia). Für die Regierung ist Aquaman ein Forschungsobjekt. Für die Putzfrau Elisa hingegen ist er Subjekt. Erst ein faszinierendes Subjekt, dann ein Subjekt der Begierde.

Aber dieser erzählerische Kern wird allenthalben verlassen, um Subplots einzufügen, deren einzige Funktion darin zu liegen scheint, noch einer diskriminierten Minderheit Leinwandzeit zu verschaffen. Als böten der entwurzelte Fremdling und die ausgestoßene, stumme Arbeiterin nicht genügend Zündstoff. Als dürfe man niemanden vergessen. Das macht Shape of Water zu einem handwerklich schlechten Film, trotz aller visuellen und akustischen Brillanz.

Absage an die Assimilation

Dabei liegt in der für den Mainstream mutigen, weil bejahenden Haltung zur Liebe zwischen Mensch und (vermeintlichem) Monster durchaus Sprengkraft und gehöriges Potential. Muss in Die Schöne und das Biest das Monster erst noch zum Mensch werden, bevor die Liebe sein darf, ist das hier nicht länger von Belang. Darin liegt das wahre kritische Moment des Films: Werde wie wir, dann können wir dich lieben, ist ein alt- wie neokolonialistischer Anspruch an die Fremden. Shape of Water hätte sich damit begnügen können, diesen Twist zu erkunden, und es wäre vermutlich ein großartiger Film geworden.

King Kongs alte Rechnung

Dennoch begleicht Shape of Water so eine filmhistorische Rechnung mit einem alten Bekannten in Hollywood. Im ersten, spektakulären King Kong-Film von 1933 darf die blonde Frau den Affen noch nicht lieben. Im Schatten seines Angesichts hat sie vor allem zu schreien. Lieben muss sie letztlich doch den weißen Mann. Gut 70 Jahre später ist die Beziehung zwischen Affe und Starlet in Peter Jacksons Remake dann bereits vielschichtiger. Hier kullern die Tränen, aber lieben muss Ann Darow trotzdem den weißen Retter. In Shape of Water schließlich darf endlich gevögelt werden. Das Rassentabu ist aufgehoben, weil es keine Rassen mehr gibt. Und der weiße Mann, der Elisa heldenhaft zu Hilfe eilt, ist schwul und daher fürsorglich unbeteiligt (ein Klischee in sich selbst). Kong nickt del Torro anerkennend zu, dort oben, vom Olymp der Filmgeschichte. Auch wenn ein ausgestochener Nebenbuhler noch progressiver gewesen wäre.

Das sexuelle Verlangen ist in Shape of Water derweil nur dann positiv besetzt, wenn es weiblich bestimmt ist. Etwa wenn Elisa morgens vor der Arbeit in der Badewanne masturbiert oder wenn sie Aquaman verführt. In diesen Momenten ahnt man die Kraft, die feministische Statements in einem Film entwickeln könnten, wenn sie nicht plakativ daherkommen. Diese Subtilität wird aber gleich wieder eingerissen, wenn Fiesling Stricklands Sexualität als so desinteressiert am Gegenüber dargestellt wird, dass Sex für ihn wieder zur Masturbation wird.

Gibt es weibliche Übergriffigkeit?

Aquaman ist indessen in seinem Verlangen so kastriert, wie Freud es sich nicht besser hätte vorstellen können. Trotz aller Nacktheit trägt er nicht mal einen sichtbaren Penis mit sich herum (das das geht, zeigte Watchmen). In Verbindung mit seinem Eightpack gerinnt dieser gewöhnungsbedürftige optische Leckerbissen dann ironischerweise zum Äquivalent des 50er-Jahre-Frauenbilds: ein bedürfnisloses Stück Fleisch und verehrungswürdige Gottheit zugleich. Der Vorwurf der Vergewaltigung ist in Shape of Water wie in der Ehe von damals dennoch undenkbar. Weibliche Sexualität ist unschuldig. Der Widerspruch zwischen Gottheit und Fleischbeschau wird aufgehoben, wo sie aus freien Stücken waltet. Obwohl man ja schon mal darüber nachdenken könnte, ob Aquaman überhaupt versteht – nein, lieber nicht.

Die Erklärung für die unwahrscheinliche Liebe zwischen Elisa und Aquaman ist derweil so klischeebeladen, dass sie vermutlich gar nicht ernst genommen werden soll. Er nimmt Sie so wie sie ist (stumm, sozial benachteiligt), ihre Unvollkommenheit existiert für ihn nicht. Wow. Natürlich, wenn man kurz drüber nachdenkt, dann ist sie für ihn nur deshalb vollkommen, weil er die gesellschaftliche Norm nicht kennen kann, weil er keinen Hebel findet, um sie zu diskriminieren. Und natürlich ist sie eben doch nicht perfekt für ihn, weil sie ihm nicht in sein Reich folgen kann, so ganz ohne Kiemen. Doch auch dafür gibt es eine Lösung. Du kannst schließlich alles werden, wenn du nur willst (a. k. a. Kapitalismus ist super, wenn du nur fest daran glaubst).

Du musst nur fest dran glauben

Es genügt also nicht. Ein paar gute Metaphern heben den Film nicht aus seiner Beliebigkeit heraus, aus seiner angestrengten Haltung, aus seinem Kitsch. Was die Oscarjury geritten hat, dieses Werk als besten Film auszuzeichnen, muss im Dunkeln bleiben. Wenigstens hat sich del Torro eine selbstironische Schlusspointe aufgehoben. Das pathetische Happy End ist nüchtern betrachtet ein Selbstmord: Elisa geht ins Wasser. Vielleicht möchte der Regisseur uns also nur mitteilen, dass es kein Entkommen gibt. Dass die Liebe nicht das ändert, was du bist. So viel Subversivität übersteigt freilich den Interpretationsrahmen, so dass auch hier, haha, nur die Hoffnung bleibt. Und eine Faust gen Himmel für Kong.

Takeaways

  • Auch wenn du ein großes Thema behandelst, das sich gerade um Inklusion dreht, musst du deine Geschichte fokussieren und zuspitzen
  • Auch für dich als Schriftstellerin gilt: Mach dich nie mit einer Sache gemein, auch nicht mit einer guten
  • Hüte dich vor der Bejahung einer Ideologie, während du eine andere dekonstruierst
  • Kontrast ist nur dann ein wirkungsvolles Stilmittel, wenn beide Seiten nicht zum Klischee verkommen
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Feinde – Hostiles [Analyse]

[Massive Spoiler voraus]

Der Neo-Western Feinde – Hostiles verhandelt die Frage nach der Halbwertszeit von Moral – subtil, klug, doch am Ende verliert sich der Film im Schema F.

Hostiles ist ein langsamer Film. Langsam schleichen sich die Zweifel ins ausgemergelte Gesicht von Captain Joseph Blocker, denen ein endlich wieder grandioser Christian Bale allmählich Ausdruck verleiht. Am Ende seiner über 20 Jahre währenden Dienstzeit in der Armee ist der Captain ein hadernder Mann. Mit Unmut registriert er den gesellschaftlichen Wandel im Amerika am Ende des 19. Jahrhunderts. Indianer sind nun keine Wilden mehr. Die Idee der Menschenrechte ist die schiefe Ebene hinabgeschlittert und soll jetzt auch für Cheyenne, Comanchen und Apachen gelten.

Captain Blocker aber hat sein Leben damit zugebracht, die Indianer zu bekämpfen, sie zu behandeln wie die Tiere, die er in ihnen sah. Das hat ihm Anerkennung eingebracht, Auszeichnungen und Pensionsansprüche. Aber was ist sein Lebenswerk jetzt noch wert, fragen die Nahaufnahmen? Und gibt es eine Moral jenseits der Moral unserer Zeit, aus der Schuld erwächst, unabhängig von den zeitlich begrenzten Umständen unserer Taten? Bei Schnaps und Kerzenschein erinnert den Captain ein Kamerad an die guten alten Zeiten: „Weißt du noch, wie du den Indianer von Kopf bis Fuß aufgeschlitzt hast?“ Sie lachen, sehnsüchtig, und hängen einer Welt nach, in der sie und ihre Talente einen Platz hatten. Eine grandiose Charaktereinführung.

Kein Land für alte Männer

Nun ist für Captain Blocker der letzte Auftrag eingetroffen. Er soll einen sterbenskranken Indianerhäuptling aus der Gefangenschaft zurück in dessen geheiligtes Land in Montana geleiten. Freiheit für Bestien, so klingt das in den Ohren des Captain. Blocker hat einen ganzen Sack voll Gründe, Häuptling Yellow Hawk und seine Brut zu hassen und zählt die Namen seiner von ihm ermordeten Freunde auf. Doch Befehl ist Befehl. So beginnt für den Captain ein Trip durch die eigene Vergangenheit, mit der Last der Gegenwart auf den Schultern.

Der Film könnte es sich einfach machen und die Geschichte vom guten Indianer erzählen, den Blocker jetzt endlich kennenlernt. Vorerst widersteht er dieser Versuchung.  Der Treck gabelt eine traumatisierte Frau auf, deren Familie von Indianern niedergemetzelt wurde. Mann, Kind, Hof und Baby. Die explizite Darstellung ihres Leidens wirkt wie eine Bastion gegen den herkömmlichen Hollywood-Pathos von klar definiertem Gut und Böse. Alle Beteiligten scheinen in Schuld verstrickt. Beim Anblick der „Rothäute“ entfährt ihr ein stummer Schrei – das Feindbild ist real, der Hass hat seine Berechtigung, so die ersten unfassbar intensiven 30 Filmminuten.

Klug erzähltes Kino – fast

Regisseur Scott Cooper verzichtet so zwangsläufig auf den moralischen Zeigefinger. Kein Korrektiv schreitet ein, die klassische moralisch integre Identifikationsfigur fehlt. Wir sehen bloß dabei zu, wie die Schuld ganz von selbst in die Gesichter der Protagonisten kriecht, langsam, aber unaufhörlich. Nur dank dieser Zurückhaltung funktioniert der Film, kann er sein Thema überhaupt annähernd erschöpfend behandeln.

Als der Trupp schließlich in einer Stadt Halt macht und dort einen weiteren Gefangenen aufnimmt – diesmal einen weißen Soldaten – spitzt sich der innere Konflikt des Captains zu. Ihm gegenüber sitzt ein Mann, der zum Tode verurteilt ist, weil er Indianer abgeschlachtet hat. Der einzige Unterschied zwischen dem Gefangenen und dem Captain besteht darin, dass Blocker das vor 5, 10, 20 Jahren getan hat, als es moralisch opportun war. Folgerichtig lässt Joseph den Gefangenen am Baum anketten und verbannt seine eigene Vergangenheit in das Dunkel der Nacht.

Hostiles bringt also genügend Material mit, um ein großer Film zu sein – schon die Log Line ist grandios. Doch unter den provokanten Fragen und Problemstellungen wabert dann doch der Hollywood-Plot voran. Samt Szenen, in denen sich die weiße Witwe von der indianischen Lady die Haare flechten lässt oder in denen Indianer und weißer Mann Seite an Seite ums Überleben kämpfen. Alter Häuptling und alter Captain nähern sich an. Die Tatsache, dass Hass zu Anerkennung diffundiert, der Erkenntnis weicht, dass man mit dem Feind mehr gemein hat, als mit denen, die man beschützt, ist an sich noch kein Klischee. Doch Cooper verpasst es, diese Wandlung plausibel zu machen. Seine Handlungsfäden, die Witwe, der zum Tode verurteilte Indianermörder, liefern wunderbare Widerstände für die Wandlung Blockers – aber Cooper setzt ihnen nichts entgegen.

Freunde werden Feinde wie von Zauberhand

Den Abgrund der Geschichte umschifft der Film dadurch, opfert ihn einem vorhersehbaren Happy End. Am Boden des Plots lauert die Frage wie und ob es möglich ist, dass ein Mensch eine Moral aufgibt, die sein Leben rechtfertigt. Cooper scheint sich früh auf ein „Ja, natürlich!“ festgelegt zu haben, ohne dies jedoch weiter motivieren zu können. Die Kriegsmüdigkeit des Captains, die Gespräche bei Feuerwasser und Nachtwache – sie verweisen auf eine Verbitterung, die dem Erkenntnisvorsprung entwächst, zu wissen, wie der Krieg ist. Im fernen Washington können sie lange vom Frieden reden, von Menschenrechten. Hier draußen, da richten Menschen einander zugrunde und mit sich die Menschlichkeit. Wozu also Gnade und für wen?

Doch Blocker hört niemand mehr zu, beispielhaft am Colonel dargestellt, der keine Einwände gegen den Auftrag gelten lässt. Was also veranlasst Blocker dazu, seine Meinung aufzugeben? Auf diese Fragen liefert der Film keine Antworten. Alles, was er ihnen entgegen zu bringen scheint, ist der Pathos des Gleichheitsideals, die uralte Überzeugungskraft der Empathie. Blocker sieht irgendetwas ein, erkennt im Häuptling aus irgendeinem Grund ein Individuum, das ihm nicht nur unendliches Leid zugefügt hat, sondern auch Vergebung verdient. Damit ist Hostiles dann im gewohnten Hollywood-Fahrwasser angekommen und verliert all seine Wucht.

And the winner is… Kitsch!

Weshalb die Schlussszene des Films, eine quälend langgezogener Abschied am Bahnsteig zwischen Captain und leidlich ins Herz geschlossener Witwe, nicht dem Schnitt zum Opfer gefallen ist, bleibt schließlich Coopers Geheimnis. Natürlich lässt Blocker den Zug zunächst fahren, nur um dann im letzten Moment doch noch aufzuspringen. Hier zeigt sich exemplarisch die Schamlosigkeit des Regisseurs, der besinnungslose Hang zum Kitsch, dem seine eigentlich klug konstruierte Geschichte zum Opfer fällt.

Takeaways

  • Wenn die innere Logik deiner Geschichte kein Happy End zulässt, dann respektiere das
  • Verlass dich nicht auf ein Absolutes oder das Gute, das die Widerstände deines Protagonisten hinwegfegt – finde den Schlüssel zum Sieg (oder zur Niederlage) in ihm
  • Deine Figuren sind klüger als du: Höre ihnen zu und erkenne, wie sie sich entwickeln können – und wie nicht
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Talking Story

Jurassic World 2 [Analyse]

[Massive Spoiler voraus]

Der wesentliche Unterschied zwischen einem Pornofilm und einem Spielfilm besteht in der Art und Weise wie der Zuschauer bei Laune gehalten wird. Im Porno gibt es ein Setting, klar verteilte Rollen, Regieanweisungen, mitunter sogar Dialog – aber das Interesse des Betrachters steht und fällt mit den dargebotenen Schauwerten. Im Spielfilm gibt es all dies plus einen Konflikt. Idealerweise trägt dieser Konflikt den Film und sorgt dafür, dass wir zwei Stunden auf eine Leinwand starren, obwohl wir nicht im Minutentakt entblößte, aneinander reibende Genitalien zu Gesicht bekommen.

Konflikte gesucht

Der Konflikt, mitunter gleich mehrere, sorgt beim Spielfilm für die nötige Reibung. Wann immer man das Gefühl hat, eine Spielfilmszene funktioniere nicht richtig, kann man sich daher eine simple Frage stellen: Welcher Konflikt wird in dieser Szene ausgehandelt? Findet man auf diese Frage keine Antwort, hat das Drehbuch meist ein Problem. Wenn eine Pornoszene nicht funktioniert, dann allein aus dem Grund, weil nichts passiert, d. h. es geht nicht ordentlich zur Sache oder man darf es nicht sehen.

Jurassic World 2: Das gefallene Königreich ist nun ein Spielfilm, dessen Macher sich wohl als Pornofilmproduzenten verstehen. Sie vertrauen nämlich darauf, dass die Urzeit-Viecher ähnliche Urinstinkte wachrütteln wie der detailgetreue Anblick kopulierender Artgenossen. Konflikte, Charakterentwicklung oder gar so etwas wie ein Subtext (über den das erste Reboot durchaus noch verfügte) fehlen völlig. Die Dinos sollen von ihrer Insel gerettet werden, weil ein Vulkanausbruch selbige unter sich zu begraben droht. Der aufmerksame Leser wird die Stirn runzeln: Gelingt die Rettung der Saurier? Wer hat seine Finger im Spiel? Und was wenn die Urzeitechsen aufs Festland rübermachen? Ein wunderbarer Konflikt scheint sich aufzutun.

Keine Schauwerte in Sicht

Leider gerät die durchaus solide Ausgangsprämisse zur actiongeladenen Exposition – keine 30 Filmminuten verstreichen bis alle obigen Fragen beantwortet sind. Das allein wäre kein Drama. Man kann problemlos einen neuen zweiten Konflikt inszenieren, der sich aus dem ersten ergibt. Aber Jurassic World 2 verzichtet darauf. Fortan reiht sich Actionsequenz an Actionsequenz. Aus der Frage, was mit den Dinos zu tun sei und wie dies geschehen könne, wird stumpfes Werden-die-Guten-überleben und Können-sie-entkommen? Oder anders ausgedrückt: Die „Handlung“ hat bis hierhin getragen, jetzt wird endlich gebumst.

Selbst das könnte man dem Film verzeihen, denn er verfügt schließlich über Dinos, also dem Adventure-Pendant zu nackten Brüsten. Aber die anschließenden 90 Minuten kann man sich in etwa so vorstellen, als hätte King Kong das Broadway-Theater nie verlassen. Keine Kavallerie, kein Empire State Building, kein Monster-trifft-Zivilisation. Bloß kleinteilige Schleich-Orgien im Halbdunkel. Dieser Porno knipst das Licht aus.

Figurenentwicklung Fehlanzeige

Es soll grandiose Erotikfilme geben, in denen Nacktheit ebenfalls nur sparsam eingesetzt wird, die Charaktere und deren Chemie untereinander aber den Rest besorgen. Die Diskussion schauspielerischer Leistungen kommt bei Jurassic World jedoch gar nicht erst in Gang, weil weder Chris Pratt noch Bryce Dallas Howard (Gold) irgendetwas darzustellen hätten. Was will Pratts Figur, was ist seine alte Wunde, welche Hindernisse hat er zu überwinden, wie verändert sich sein Charakter im Lauf der Geschichte? Das sind Fragen der Figurenentwicklung, die ein gutes Drehbuch für gewöhnlich beantwortet, weil es seinen Charakteren etwas mit auf den Weg gibt. Pratt aber sieht einfach nur gut aus und tut absurde Dinge. Sein On-Off-Sidekick Howard hat sich derweil von der knallharten Geschäftsfrau aus Teil 1 zur Dino-Aktivistin gewandelt (sic!) – nur um dann im aktuellen Aufguss gar keine Ambitionen mehr zu haben, außer, sie ahnen es, gut aussehen und absurde Dinge tun.

Das Motiv der Bösewichte reiht sich nahtlos in dieses Absurditäten-Kabinett ein. Natürlich, so viel hohle Kapitalismuskritik muss sein, die Bösen wollen mit den Dinos ordentlich Rendite machen. Da die Idee Dino-Park bzw. Dino-World seitdem letzten Desaster so tot ist wie die deutsche Atomkraft muss allerdings eine alternative Einnahmequelle her. Und wer, wenn nicht das böse Militär, könnte eine solche sein? Dinos als unübersehbare, kaum zu wartende, kostenintensive und stets kurz vor dem Hungertod stehende Geheimwaffe – vergessen ist der Drohnenkrieg oder die atomare Bedrohung, die symmetrischen Kriege dieser Welt können jetzt mit Dinos ausgefochten werden. Da so eine Urzeitechse allerdings einen ziemlichen Dickschädel besitzt, muss sie manuell per Laserpointer aufs Ziel geprägt werden (sic!). Der Saurier als Kätzchen aus dem neuesten YouTube-Video. It’s just a prank, bro!

Selbst der Grusel gelingt nicht

Die Schauplatzknauserei hätte bei aller Tristesse wenigstens das Potential gehabt, für die nötige Beklemmung zu sorgen, von der sich die Sequels Stück für Stück emanzipiert haben. Unvergessen bleibt die Caféteria-Szene des ersten Jurassic Park. Doch statt Raptoren (die sind jetzt gut, weil Pratt hat mal einen mit der Flasche aufgezogen) kommt die größte anwesende Urzeitechse zum Einsatz und statt einer quälend langsamen Verfolgungsjagd kredenzt Jurassic World 2 billigste Retortenware.

Das Böse ist hinter dieser Tür, hämmert uns die Kamera in den Kopf – nur um dann das Böse durch diese Tür springen zu lassen. Die Inszenierung erinnert hierbei stark an die reüssierenden Haunted-House-Streifen à la Insidious: die langsam nach dem Opfer greifende Dino-Klaue in Großaufnahme, das Geschrei im Bett kauernder Kinder. Die Kunstfertigkeit eines James Wan geht den Beteiligten jedoch ab – hier versinkt niemand im Kinosessel. Bezeichnenderweise verkennt die Regie zudem den eigenwilligen Gruselfaktor der Original-Trilogie, wenn sie diesen auf eine herkömmliche Horrorästhetik reduziert.

Exemplarisch für diesen Film darf dann auch noch Jeff Goldblum, Park-Veteran der ersten Stunde, vor der Kamera Platz nehmen. Er tut dabei, sie ahnen es, genau nichts. Aber immerhin hat man ihn gesehen. Und zwar bei Tageslicht, perfekt ausgeleuchtet. Das ist doch auch was.

Nach über zwei Stunden Spielzeit ist die Messe schließlich gelesen. Ganz wie nach dem Genuss eines Pornofilms fühlt man sich ein wenig beschmutzt. Wenn der Reizstrom der Bilder nicht mehr mitreißt, die eigene Erregung abklingt, fragt man sich, was man hier eigentlich macht. Man möchte schleunigst raus aus diesem Kinosaal, wieder unter echte Menschen, mit echten Problemen. Doch keine Sorge: Das Leben findet einen Weg.

Takeaways

  • Wenn deine Geschichte für die große Leinwand gemacht ist, nutze ihre gesamte Breite und versteck deine Schauwerte nicht im stillen Kämmerlein
  • Auch für Abenteuergeschichten gilt: Lass Welten aufeinander prallen! Der Professor, der Dschungel und die Nazis (Indiana Jones), Die Forscher, Touristen und ausgebüchste Dinosaurier (Jurassic Park)
  • So profan du deine Geschichte auch planen magst, vernachlässige niemals die Charakterzeichnung
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Talking Story

Funny Games [Analyse]

[Massive Spoiler voraus]

Zwei junge Männer terrorisieren eine Kleinfamilie in ihrem Urlaubsdomizil, bis der Zuschauer das Geschehen auf der Leinwand kaum noch ertragen kann. Schleichend und durch und durch böse bricht die Gewalt in die gutbürgerliche Idylle hinein. Michael Haneke (Das weiße Band) inszeniert mit Funny Games einen beklemmenden Abgesang auf mediale Gewaltdarstellung, der heute vielleicht aktueller ist denn je.

Ein höflicher, junger Mann klopft an die Tür der Familie und bittet um ein paar Eier. Nachbarschaftshilfe, so normal wie geboten in dieser bürgerlichen Welt, in der Gewalt keinen Platz mehr hat. Doch kaum wird der Bitte entsprochen, entspinnt sich eben jene Gewalt, wie als Entlarvung des utopischen Charakters einer gewaltlosen Gesellschaft. In dieser ist die Gewalt nicht verschwunden, sie ist nichts von außen Hinzukommendes. Sie ist bloß sublimiert und ritualisiert, nicht zuletzt auch in Gestalt der Unterhaltungsindustrie, wie Haneke in den folgenden 80 Minuten verdeutlicht.

Gewalt in der bürgerlichen Mitte

Die erste gezeigte Gewalthandlung in Funny Games ist dann auch wider Erwarten keine sadistische Grausamkeit seitens der Täter. Das Ehepaar streitet im Auto um die Wahl des Radiosenders, zwei Hände treffen sich, eine gewinnt die Oberhand. Es sind auch nicht die Täter, die das erste Mal zuschlagen. Der Vater verteilt eine Ohrfeige, um die Unverschämtheit der beiden jungen Männer zu sanktionieren. Diese vergesellschaftlichte Form der Gewalt stellt sich jedoch als wirkungslos heraus, sobald sie auf rohe Gewalt trifft, ja sie gibt erst den vermeintlichen Anstoß zur anschließenden Eskalation. Wenig später ist die Familie in der Gewalt der jungen Männer, der Schäferhund erschlagen, der Vater blutig geprügelt.

Die beiden Täter werden dabei gerade als Teil der bürgerlichen Gesellschaft dargestellt: Adrett gekleidet, gewählte Ausdrucksweise und in der Lage, mit einem Golfschläger umzugehen. Umso quälender stellt sich die Frage nach dem Warum des Gewaltausbruchs. Doch alle Rationalisierungsversuche seitens des Vaters ernten nur den Hohn der beiden Männer. Der Sadist widersteht der Einordnung, das ist sein eigentliches und einziges nicht-bürgerliches Merkmal. Das Böse lauert nicht irgendwo da unten, am Boden des gefürchteten sozialen Abstiegs. Oder bloß in der niederen Herkunft, die die Täter spöttisch in fiktiven Lebensgeschichten skizzieren und sogleich als solche entlarven. Es kommt aus der Mitte der Gesellschaft. Auch deshalb wird das eigene Anwesen samt seiner Mauern und dem meterhohen Tor zum unüberwindbaren Hindernis, als sich der Familie schließlich die Möglichkeit zur Flucht bietet.

Die Ohnmacht des Patriarchen

Im Gewaltverzicht, im Räsonieren, um nicht gewalttätig sein zu müssen, schwingt stets auch die Frage nach einem Verlust von (imaginierter und idealisierter) Maskulinität mit. Wie in Nocturnal Animals befindet sich der Vater auch in Funny Games als Führungsfigur und Beschützer in einer besonders prekären Situation. Er enttäuscht alle Erwartungen, auch die eigenen, als er mit nicht sublimierter Gewalt konfrontiert wird. Seine Beschützerrolle vermag er auf dem gesellschaftlichen Parkett auszufüllen, jenseits davon ist er selbst auf tragische Weise Schutzsuchender.

Haneke inszeniert diesen Verfall der Vaterfigur schonungslos. Als die Männer die Ehefrau dazu nötigen, sich zu entblößen, zwingen sie den Vater, ihr den entsprechenden Befehl zu geben. Die Kamera fängt dabei nicht die ohnehin unerträgliche Demütigung der Frau ein, sondern das konsternierte Gesicht des Vaters, des ohnmächtigen Patriarchen, dessen Macht allein auf dem Konsens des Gewaltverzichts gründet. Dort wo der Mensch dem Menschen wieder unverblümt ein Wolf sein kann, ist Vater ohne Vater Staat hilflos. Es ist schließlich der Sohn als noch nicht völlig in die Bürgerlichkeit Erzogener, der dem Überleben und der erforderlichen Gegengewalt am nächsten kommt.

Bürgerliche Moral in all ihrer Absurdität

Ihm verhüllen die Männer im Vorfeld der Szene das Gesicht. Er soll die nackte Haut seiner Mutter nicht mit ansehen müssen. Haneke verhöhnt hier die bürgerliche Moral (vor allem die amerikanisch geprägte, Anlass des Shot-by-Shot-Remakes Funny Games US Jahre später für den amerikanischen Markt), die uns zwar vor blanken Brüsten schützen will, jedoch kein Problem mit der künstlerischen Darstellung von Mord und Totschlag hat. Überhaupt dekonstruiert der Film die bürgerlichen Moralvorstellungen indem er sie zuspitzt und in die Enge treibt.

Die titelgebenden „Funny Games“ sind sadistische Spielchen, in denen die Opfer vor Entscheidungen gestellt werden, die sie nicht bewältigen können, weil sich ihre Moral in Dilemmata verfängt. „Wer soll sterben?“, wird die Mutter gefragt, ihr Sohn oder ihr Ehemann und es kann keine Antwort darauf geben. Konfrontiert mit der ungeschönten Wirklichkeit versagt die Moral als Handlungsanleitung. In einem Moment der Hoffnung kommen die Eheleute zu sich, doch sie bleiben unfähig, zu handeln. Sie halten sich damit auf, darüber zu diskutieren, wer allein beim gewässerten, möglicherweise reparablen Telefon zurückbleiben soll. Die Bürgerlichen föhnen das Telefon, das ist ihr ganzer Akt.

Dem Zuschauer aufs Auge geschaut

Funny Games problematisiert nicht nur die visuellen Inhalte von Filmen als Form der Gewaltverherrlichung, sondern auch die filmischen Funktionsweisen. In der eindringlichsten Szene des Films verharrt die Kamera minutenlang auf dem Grauen, ohne dass etwas passiert. Der Zuschauer, der seinem Wesen nach der Kamera ausgeliefert ist, wird so vom neckischen Spiel der Kamera mit seiner Sehnsucht nach Offenbarung, wie es Monster- und Horrorfilme (etwa der aktuelle Godzilla) oft zelebrieren, vom Sehenwollen also, zu einem Sehenmüssen genötigt. „Wer sitzen bleibt, macht sich schuldig“, sagt Haneke folgerichtig über Funny Games.

Der Film führt den Zuschauer also in einen trotz aller Obszönität wohlvertrauten Bereich des Konsums und macht diesen dann unkonsumierbar. Unterhaltung als Gewalterfahrung statt Gewalterfahrung als Unterhaltung. Der eigentliche Exzess findet dabei stets jenseits der Kamera statt, der visuelle Reiz wird dem Voyeur verweigert. Die Befriedigung des Zuschauers bleibt daher aus. Erst diese Nicht-Befriedigung eröffnet den Raum für eine Form der Gewalterfahrung, in der diese wahrgenommen und zugleich abgelehnt werden kann. Das Auge ist als Medium zu leicht verführbar. Kein Gore dieser Welt kann uns wirklich treffen, im Gegenteil: In Zeiten von Saw 1-7 und LiveLeak.com ist visuell dargestellte Gewalt entweder banalisiert oder ästhetisiert.

Der Komplize auf der anderen Seite der Leinwand

Den vielleicht kontroversesten Punkt des Films bilden jene Szenen, in denen die Täter die filmtheoretische vierte Wand durchbrechen und sich direkt an den Zuschauer wenden. Augenzwinkernd ziehen sie ihn in die Mitwisser- und Mittäterschaft, sofern er eben nicht abschaltet oder den Kinosaal verlässt. Das zentrale Motiv des Films bildet die zynische Wette, die zwischen der Familie und den Tätern geschlossen wird: Überlebt die Familie bis zum nächsten Morgen oder nicht? Im Kontext des Films erscheint diese Wette als sadistisch und abartig, aber tatsächlich basiert beinahe jeder Action- oder Horrorfilm auf dieser simplen Struktur. Überleben die Protagonisten und wenn ja, wie und wenn nein, wie nicht?

Durch das Ignorieren der vierten Wand wird diese Struktur aufgebrochen und der Zuschauer als eigentlicher Motor der Gewalt entlarvt. „Ist es schon genug? Sie wollen doch ein richtiges Ende?“, befragt einer der Täter das Publikum und fragt dabei auch nach der Motivation einen gewalttätigen Film zu schauen. Geht es wirklich um die Geschichte, also um das Ob des Überlebens, oder doch nur um das Wie des Überlebens und Sterbens? Und natürlich ist es bereits zu diesem Zeitpunkt genug, moralisch betrachtet. Aber der Film läuft weiter, denn er ist kein moralisches Werk. Er ist und bleibt Unterhaltung. Die Moral tritt erst durch den Zuschauer hinzu, der sich von ihm unreflektiert unterhalten lässt.

Haneke gelingt es, Funny Games jenseits dieses üblichen Unterhaltungsfaktors und gerade deswegen zu einem sehenswerten Film zu machen. Als die Täter schließlich seelenruhig über einen Film diskutieren, wird die Ausgangsfrage von Funny Games erstmals deutlich: Der Protagonist dieses Films ist in einem fiktiven Universum gefangen, getrennt von seiner Familie. Doch einer der Beiden wirft ein: Ist Fiktion denn nicht real? – Wieso? – Man sieht sie doch im Kino.

Oder? Hier wendet sich Haneke gegen Tarantino und andere Apologeten der filmischen Gewalt, für die „Filme Filme sind“, – weiter nichts.

Takeaways

  • Mach das Böse nicht außerweltlich, sondern zeige seine Verbindungen zu der von ihm bedrohten Welt
  • Das Grauen lauert nicht in der expliziten Beschreibung an sich, sondern in der Unkonsumierbarkeit der gezeigten Gewalt
  • Wenn deine Opfer ohnmächtig sind, halte einen Grund dafür bereit
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Talking Story

Midsommar [Analyse]

[Massive Spoiler voraus]

Im schwedischen Hinterland sucht eine Gruppe Twentysomethings Zerstreuung, Forschungsmaterial und willige Blondinen. Stattdessen stoßen sie auf einen okkulten Flower-Power-Klan, der seine ganz eigenen Pläne hat und nicht viel vom Individualismus hält, denn die jungen Amerikaner in ihr Dorf getragen haben.

Am Anfang des Films steht die Auslöschung einer Familie, die, wie jeder Verlust dieser Art, ihre ganze Tragik dadurch erhält, dass jemand überlebt. Dani (die grandiose Florence Pugh) ist diese Überlebende. In ihrer monumentalen Trauer sucht sie Halt bei ihrem Freund Christian. Dessen Freunde raten ihm schon länger dazu, die Beziehung zu beenden. Angesichts der Trägödie verzichtet er darauf, ist jedoch schlicht nicht in der Lage, Dani beizustehen. Die alten Trost-Mechanismen (Christian = Christentum?) greifen nicht mehr. Nach Schweden kommt Dani trotzdem mit. Dort will einer der Jungs für seine Doktorarbeit das traditionelle Familienleben des Dorfes erforschen, aus dem Kumpel Pelle stammt.

„Show don’t tell“ in seiner ganzen Wucht

Dieser Auftakt ist eine famose Bilderabfahrt, die die Kunst des filmischen Erzählens mit ein paar Pinselzügen rehabilitiert. Hier wird gezeigt, nicht erklärt. Regisseur Ari Aster tut dies auf eine grandiose und zugleich unerbittliche Weise, die diesen Prolog derart verdichtet, dass es eine helle Freude ist.

Leider spielt die Haupthandlung allerdings im fernen, von der Mitternachtsonne ausgestrahlten Schweden, so dass die bedrückende Enge der dysfunktionalen Beziehung in New Yorker Studentenzimmern und die familiäre Tragödie zu Hause bleiben. Zwar tauchen beide Motive immer wieder auf, sowohl in drogeninduzierten Träumen als auch in der distanziert kältlichen Interaktion zwischen Dani und Christian, werden jedoch strikt auf ihre die weitere Geschichte grundierende Rolle reduziert. Dieses ist passiert, jenes passiert nun deshalb und allein das schauen wir uns jetzt an. Hier verliert Asters das Interesse für die interessanteste Dimension seines Films: Was genau passiert in einer derart toxischen Beziehung und wie findet man angesichts der Umstände aus ihr heraus? Der weitere Film erzählt: Keine Ahnung, aber so fühlt es sich an.

Schauplatzwechsel mit Tücken

Auch das hätte grandios sein können. Doch in Hälsingland angekommen, verliert der Film zunächst folgerichtig alles an erzählerischer Dichte und die vermittelnde Bildsprache weicht einer kubrickschen Fotografie. Midsommar mäandert durch die Weiten der Rituale, Gebäude und Menschen, die Asters im Dorf zusammenführt. Eine Handlung im Sinne einer voranschreitenden Kausalität, die durch Eingriffe der beteiligten Protagonisten aktiv verursacht wird, fehlt in diesem zweiten Drittel nahezu vollständig. Stattdessen wälzt sich eine Art unaufhaltsames Schicksal langsam vorwärts, das durch mythologische Wandstickereien bereits sehr früh im Film und sehr offensichtlich offenbart wird. Hier versteht es Aster nicht, auf dem schmalen Grat zwischen Suspense und Foreshadowing entlang zu balancieren und rutscht mehrmals ins Vorhersehbare.

Foreshadowing am Rand des Spoilerns

Diese Vorhersehbarkeit wird durch die bizarren Riten aufgebrochen, die die in weißen Gewändern umhertanzende Dorfgemeinschaft während eines 9-tägigen Festes abhält. Alsbald fördern diese Riten den wahren Charakter der vermeintlich harmonischen Gemeinschaft zu Tage, der sich irgendwo zwischen Leibesverachtung, Kollektivismus und Opferkult einreiht. Hierbei gerät die kubricksche Linse in den Händen Asters zu einem machtvollen Instrument, mit dem er im Zuschauer nagendes Unwohlsein erzeugt. Streng geomeotrisch angeordnete Tischreihen oder starr im Bild gehaltene verbotene Tempel vermitteln Harmonie und Künstlichkeit zugleich. Letztere verweist stets auf etwas Gemachtes und damit auf eine womöglich unheilvolle Absicht. Ersterer wohnt eine Abgeschlossenheit inne, aus der es kein Entkommen zu geben scheint. Das ist Horror jenseits aller Jumpscares.

Subtiler Horror

Im Zentrum der dem Stillstand nahen Geschichte steht weiterhin die Beziehung zwischen Dani und Christian und Danis damit verbundene Trauerarbeit. Der Verlust ihrer Familie schickt sie auf die Suche nach Geborgenheit. Unter dem Einfluss verschiedener Drogen verwächst sie buchstäblich mit der sie umgebenden Natur, während sie sich von Christian zusehends entfremdet. Hier bahnt sich eine Entwicklung an, die im Finale ihre volle Wirkung entfaltet.

Der Preis einer Geborgenheit spendenden Gemeinschaft ist die Unterordnung unter ihre Regeln. Der Preis der individuellen Freiheit ist die Entwurzelung, das freie Schweben im leeren Raum. Christian und seine Freunde stehen für und zelebrieren diese Art von Freiheit, die sie letztlich unvorsichtig in die Arme blonder Schwedinnen treibt. Dani findet in ihr jedoch keinen Trost. Als Vollwaise steht Individuation nicht auf ihrer Tagesordnung. Zuhause in New York zeigt sich Christian von den Anrufen Danis genervt, im okkulten Dorf schreien die Frauen gemeinsam mit Dani ihren Schmerz heraus.

Diese Kontrastierung läuft jedoch nicht auf eine Apologie der okkulten Tradition hinaus. Schon die Verwirrung der Jungs bei ihrer Ankunft verrät die Oberflächlichkeit des gemeinschaftlichen Glücks:

„Wie spät ist es?“

„9 Uhr abends.“

„Das kann nicht sein, der Himmel ist blau!“

„So ist 9 Uhr abends hier.“

Midsommar

Der Abgrund des Individualismus

Der Kult kann die Dunkelheit der Nacht nicht bannen, nur übertünchen. Die Studenten begegnen dem bald sehr realen Horror derweil mit der postkolonialen Toleranz des schuldbewussten Eindringlings. Angesichts des Grauens verweisen sie auf die eben vorhandenen kulturellen Unterschiede – und bleiben. Absolute Werte werden vom eigenen Profilierungsinteresse übertrumpft, sei es wissenschaftlicher oder sexueller Natur. Die Relativierung der Gewalt findet also auf beiden Seiten statt. Hier aufgrund individueller Glücksgeilheit, bei der Dorfgemeinschaft aufgrund kollektiver Zwänge, die natürlich auch nur durch das Versprechen individuellen Glücks zwingen können, dies jedoch niemals tatsächlich artikulieren, um niemanden auf die Idee zu bringen, sein eigenes oder fremdes Glück rebellisch einzufordern.

Midsommar ist daher eine Studie über die Unglückseligkeit des westlichen Individualismus, über die Sehnsüchte, die dieses Unglück hervorruft und über die Abgründe, die eine vermeintliche Alternative beherbergt und die die Menschheit bis zum Siegeszug dieses elenden Individualismus immer schon begleitet haben. Diese Abgründe werden im Finale unangenehm spürbar, wenn die Dorfgemeinschaft die präparierten Leichen der Freunde zum großen Opferfeuer aufreiht.

Hier hat Midsommar etwas von Texas Chainsaw Massacre, übertrumpft diesen aber noch an Schrecken, weil die menschenverachtende Grausamkeit durch eine Ratio unterfüttert ist, die einem höheren Ziel folgt. Doch hier wie dort hat eine Familienbande Antworten auf dröhnende Fragen des westlichen Lebens gefunden, die zu dessen Negation führen. Das Schicksalhafte, das sich aus der Abwesenheit eines echten Plots ergibt, gerinnt zu einer unheilvollen Gewissheit: Der Negation ihres eigenen Lebens und ihres Wertesystems stehen die New Yorker Studenten antwortlos gegenüber.

Das Finale definiert „Katharsis“ neu

Im Zuge des Finales verurteilt Dani ihren Freund schließlich zum Tod in den Flammen des Opferkults. Damit wird sie Teil der Gemeinschaft. Auf ihrem die gesamte Spielzeit über schmerz- und panikverzerrtem Gesicht breitet sich zum ersten Mal ein erleichtertes Lächeln aus, als Christian von den Flammen verzehrt wird. Man kann kaum anders als mitzugrinsen, so grandios und fanatisch ist dieser letzte Akt inszeniert. Aber auf dieser Seite der Leinwand lacht der Individualismus des Zuschauers, der Danis wütende Befreiung aus einer toxischen Beziehung bejubelt. Aus Danis Lächeln jedoch spricht die geglückte Verwurzelung eines einsamen Individuums in einer totalitären Gemeinschaft. Diese doppelte Katharsis ist eine erzählerische und inszenatorische Glanzleistung, die über alle dramaturgischen Schwächen im Mittelteil hinweg tröstet. Und Midsommar zu einem Film macht, der gesehen werden muss.

Takeaways

  • Übertreibe es nicht mit dem Foreshadowing
  • Wenn du dich gegen eine engagierte Handlung entscheidest, habe einen guten Grund dafür
  • Die Verletzung deiner Protagonistin muss mit dem Konflikt, dem Antagonisten oder dem gewählten Mittel in Verbindung stehen
  • Das Gefühl von Unausweichlichkeit erzeugst du nicht durch Beschreibungen, sondern durch erzählte Tatsachen und Verhältnisse
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Talking Story

Das Leben des Brian [Analyse]

[Massive Spoiler voraus]

Mit Das Leben des Brian schufen Monthy Python den frühen Gegenentwurf zu Mel Gibsons Passion Christi. Anstatt das Martyrium Jesu in epischer Breite und Detailverliebtheit darzustellen, nahmen sie dem Ganzen die Schwere. Brian (also Jesus) pfeift am Kreuz ein fröhliches Liedchen: Always look on the bright side of life!

Die Kirche lief dagegen Ende der 70er Sturm. Denn wenn Jesus nicht für uns und unsere Sünden am Kreuz gelitten hat, funktioniert die ganze Ritualmord-Sache nicht besonders gut. Jesus darf nicht pfeifen, sonst bleiben wir unerlöst. Die Pythons trafen die christliche Kirche mit ihrer Satire also mitten ins Herz.

Wie leidvoll ist die Freiwilligkeit?

Aber damit legten sie nebenbei auch einen wesentlichen Widerspruch der Religion offen: Jesus stirbt freiwillig am Kreuz, er unterwirft sich dem Willen Gottes und akzeptiert das Leiden. Wie viel Leiden kann in dieser Freiwilligkeit stecken? Oder anders gefragt: Wenn jemand für seine Lebensaufgabe (Schreiben, Kinder großziehen, Filme drehen, Tischlern, suchen Sie sich etwas aus) bereit ist, Höllenqualen zu leiden, kann man dann noch von Leiden oder Unglück sprechen?

Hier ist eine Unterscheidung notwendig. Es gibt das physische Leiden, dem Jesus oder die Mutter von vier Kindern nicht entkommen können. Die Dornenkrone oder die durchwachten Nächte, die Entbehrungen – sie verursachen reales körperliches Leid. Aber es gibt auch noch das emotionale Leiden, das davon bei gesunden Menschen recht unabhängig ist. Wir können uns schinden und trotzdem kein emotionales Leid verspüren. Mit Jesus am Kreuz treten im Film die beiden Formen des Leidens zum ersten Mal auseinander.

Das Leben des Brian als Tabubruch par excellence

Die weit wirkungsvollere Interpretation der Kreuzigung Jesu besteht also darin, sie als Metapher dafür zu verstehen, dass das Leid, mit dem jedes Leben unabänderlich verknüpft ist, seine Rechtfertigung erfahren kann, wenn es einem höheren Zweck dient. Dieser Zweck aber kann nicht ein abstrakter Gott sein oder ein Kollektiv. Auch Jesus stirbt nicht für uns oder für Gottes Willen. Er ist bereit, für seine individuelle Aufgabe zu sterben, die er in sich selbst gefunden hat.

Das Leben des Brian hatte zwar nicht die Absicht, die Unterscheidung zwischen den beiden Formen des Leids im erwähnten Sinne fruchtbar zu machen – die gute Seite des Lebens im Blick zu behalten, mündet im Film in einen recht stumpfen Hedonismus. Aber der große Tabubruch, die Prämisse der Passion Christi zu hinterfragen und ihr fröhliche Akzeptanz entgegenzusetzen, bildet den Ausgangspunkt für einen Mythos des Individuums.

Takeaways

  • Wenn du über ein großes Thema schreiben willst, dringe zu seinem Kern vor – und unterlaufe ihn
  • Schreibst du, obwohl es dich vieles kostet? Dann hör nicht auf
  • Humor allein trägt keine Geschichte
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Talking Story

Vice [Analyse]

[Massive Spoiler voraus]

Dick Cheney hat das 21. Jahrhundert auf dem Gewissen. Und diese dämlichen Zuschauer, die doch tatsächlich Fast & Furious gucken, anstatt politische Biopics. Damit ist der Inhalt von Adam McKays Vice treffend zusammengefasst. Ob es sich wirklich so verhält? Der dämliche Zuschauer erfährt es nicht, soll es aber glauben.

Was ist passiert? Dick Cheney (Christian Bale in dick) macht nach einigen Jahren als Taugenichts Karriere im politischen Washington. Er bringt es bis zum Verteidigungsminister unter Präsident Bush Senior und wendet sich dann der Privatwirtschaft zu. Bis ihn eines Sonntags ein Anruf erreicht, der ihn zurück auf die politische Bühne hievt: Bush Junior will ihn als seinen Vize-Präsidenten. „Das ist ein sinnloser Job“ insistiert Cheneys Frau Lynne (Amy Adams mit Bob), aber Dick denkt schon ein paar Schritte weiter.

Darf Satire Kitsch?

Vice nimmt sich die Zeit, diese Vorgeschichte zu erläutern und wird dadurch tatsächlich zu einem Biopic. Dem Film geht es weniger um die verhängnisvollen Jahre der Bush-Junior-Administration, sondern um das Leben des Mannes, der diese Administration geleitet hat. Noch während der Exposition driftet Vice das erste Mal in eine Form von Kitsch ab, die McKay neu definiert: Satire-Kitsch.

Cheney ist in jungen Jahren ein Trinker, ein hoffnungsloser Fall, aber seine Frau stellt ihm ein Ultimatum. Entweder er reißt sich verdammt nochmal zusammen oder sie geht. So enden Rosamunde Pilcher-Romane und so beginnt ein Film, der seinen Protagonisten demontieren möchte. Mit allen Mitteln und mit dem Dampfhammer, das heißt: Schon sein Motiv muss der Lächerlichkeit preisgegeben werden. Wegen einer Frau das Ganze also, haha, Schwachkopf.

Überambitionierte Dekonstruktion

Diese überambitionierte Herangehensweise zieht sich durch den gesamten Film. Nebenbei werden Themen wie Klimawandel, Framing, Vetternwirtschaft, Deregulierung, Lobbyismus und Aufhebung der Gewaltenteilung angerissen. Aber für nichts davon nimmt sich der Film wirklich Zeit. Anders als noch im genialen The Big Short geht es McKay nicht um die Sache (Bankencrash), sondern um den Täter (Cheney). Da kommen all diese großen und kleinen politischen Katastrophen zwar gelegen, um Cheney möglichst verdorben darzustellen, aber sie selbst sind kaum von Relevanz. So verkommt McKay zu dem, was er im Zuschauer oder gleich im amerikanischen Volk insgesamt anklagt: Die drögen politischen Realitäten opfert er seiner seichten Befriedigung. Was dem Durchschnitts-Amerikaner sein „American Idol“, ist für McKay in Vice die Demontage der realen Person Dick Cheney.

Fast folgerichtig verliert der Film dabei in Ton und Methode die kritische Distanz zu seinem Stoff, aus der allein heraus Bissigkeit und Treffsicherheit einer Satire entstehen können. Deshalb ist Vice auch keine bitterböse Satire, sondern nur ein ver-bitterter Film. Besonders deutlich lässt sich dies an den fehlenden Lachern feststellen: Während man bei The Big Short noch halb kopfschüttelnd, halb belustigt im Sessel saß, gelingt es Vice kaum einmal, für komische Momente zu sorgen. Dem Umgang mit der geradezu absurden Geschichte fehlt jegliche Souveränität.

Unsouveräne Haltung

Wenn McKay gegen Ende dann auch noch die Homosexualität von Cheneys Tochter benutzt, um dessen Skrupellosigkeit endgültig und unübersehbar zur Schau zu stellen, fühlt man sich daher fast peinlich berührt. Zudem wirft es die Frage auf, warum ein Film es nötig hat, dafür die intimen Beziehungen seiner Hauptfigur auszuschlachten, wenn diese Figur Krieg und Folter zu verantworten hat? Beinahe wirkt es, als hätte McKay hier zum ersten Mal Instinkt bewiesen: In den ersten 120 Minuten ist ihm die Demontage Cheneys einfach nicht recht gelungen.

Wie schon in The Big Short greift McKay auch in Vice zu allerlei inszenatorischen Kniffen. Standbilder mit Voice-Over, verfrühter Abspann und eine Nachrichtensprecherin Naomit Watts, die die Rolle der schaumbadenden Margot Robbie übernimmt. Doch anders als im Film über die Lehmann-Pleite wirken diese Tricks wie aus der Mottenkiste. Zum eigentlichen Geschehen tragen sie nichts bei. Auch der fast-allwissende Erzähler, der immer wieder aus dem Off ertönt oder in Gestalt von Jesse Plemons (Fargo, 2. Staffel) direkt die vierte Wand durchbricht, erreicht nicht die nötige Höhe.

So wirkt der Film unfertig und seltsam zerfasert. Daran ändern auch die durchweg guten Schauspielleistungen nichts, zumal sich allein Bale von seinen typischen Rollen abheben kann. Amy Adams wirkt wie immer besorgt und Sam Rockwell gibt sich wie so oft einfältig-texanisch. Auch für die Nebenrollen hat McKay keinen Platz in seiner Agenda gefunden.

Wegen all dieser Mängel hat Vice auch keinen Aufschrei ausgelöst, keine Debatte über die Bush/Cheney-Ära. In seinem anklagenden, unsouveränen Ton kann man den Film als Republikaner, ja selbst als Dick Cheney persönlich, allzu einfach beiseite lächeln. McKay muss sich die Frage gefallen lassen, ob er der Sache mit Vice nicht einen Bärendienst erwiesen hat. Und ob der Zuschauer nicht irgendwo Recht hat, wenn er statt dieses Biopics einfach Fast & Furios 8 schaut.

Take aways

  • verlass dich nicht auf Dinge, nur weil sie schon einmal funktioniert haben
  • auch für fiktives Schreiben gilt: Mach dich nie mit einer Sache gemein, auch nicht mit einer guten
  • habe eine Story, keine Agenda
  • wenn dein Stoff zum Lachen ist, du aber beim Schreiben nicht lachen musst, sei gewarnt