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Dogtooth [Analyse]

[Massive Spoiler voraus]

In dem griechischen Drama Dogtooth lassen wohlhabende Eltern ihre mittlerweile erwachsenen Kinder völlig isoliert von der Außenwelt aufwachsen – keine Medien, keine Schule, kein Verlassen des Grundstücks. Wenn die Mutter hinter verschlossener Tür mit ihrem Mann telefoniert, halten die Kinder das für Selbstgespräche – ein Telefon existiert in ihrer Welt nicht. Schon aus diesen Sätzen wird klar: der Film handelt von Realität und davon, was sie ausmacht, wie sie entsteht.

Die Motivation der Eltern bleibt diffus, aber letztlich sind sie Eltern: sie wollen ihre Kinder vor etwas bewahren, vor dem Unheil jenseits des meterhohen, blickdichten Gartenzauns. Des Nachts beratschlagen sie sich über das, was am Morgen zur Realität ihrer Kinder werden soll: Die Mutter ist schwanger, Drillinge und einen Hund wird sie austragen, nein, doch lieber Zwillinge.

Platon allenthalben

Man denkt an das Höhlengleichnis Platons, die Kinder sehen von der ‚echten‘ Welt nur die Schatten. Flugzeuge am Himmel sind in ihrem Kosmos Spielzeugflieger, die gelegentlich abstürzen und dann tatsächlich (dank der Mutter) im Garten als solche zu finden sind. Würde jemand etwas anderes behaupten, die Kinder würden ihm nicht glauben. Zur Konstruktion von Realität gehört auch die Sprache. Täglich werden den Kindern Wörter beigebracht. Aber „Autobahn“ bedeutet hier keineswegs Autobahn, sondern „sehr heftiger Wind“. Dadurch wird die Welt der Kinder rein gehalten, denn was wir unter dem Begriff Autobahn verstehen, hat in ihrer Welt seinen sprachlichen Platz verloren – und damit seine Realität. Die Kinder selbst wiederum tragen keine Namen. Das Benennen soll etwas Heiliges bleiben, etwas Unhintergehbares, die Beziehung zwischen Begriff und Gegenstand eine entdeckte Wahrheit mit großem W. Die Namen, die Eltern ihren Kindern geben, entlarven das Benennen aber als das was es ist: Konvention.

Keine vollkommene Isolation

Trotz aller Anstrengung erhält die heile Welt Risse, ist die Isolation nicht perfekt. Die Tochter bekommt zwei Videokassetten zwischen die Finger, schaut nachts heimlich die Filme und ist fortan für das Paradies verloren. Ihre erste Reaktion besteht darin, sich einen Namen zu geben. Bruce will sie von nun an heißen, auch wenn sie das Konzept der Namensgebung nicht begreifen kann, sondern nur die in den Filmen beobachtete Kausalität imitiert. Jemand ruft „Bruce“, also dreht sie sich zu ihm um. Dennoch: mit der Namensgebung, der Selbstdefinition, betritt das Individuum die Bühne.

Bruce‘ Umgang mit dem filmischen Erweckungserlebnis bleibt generell auf Mimesis beschränkt. Unfähig, die neu gehörten Wörter in ihrer einzelnen begrifflichen Bedeutung zu entschlüsseln, kann sie nur die emotionale Bedeutung der Szenen verstehen und reagiert fortan mit dem Rezitieren ganzer Sätze auf entsprechende Situationen, mitunter verstörend präzise. Bruce ahmt nach wie vor nur nach, was sie gesehen, vorgelebt bekommen hat. Die Außenwelt, die mittels der Filme in ihr Leben herein gebrochen ist, bringt sie nicht näher an die Realität, nur näher an eine andere, ebenso konstruierte.

Der Dogtooth beginnt zu wackeln

Einmal erkannt, dass ein Jenseits des Gartenzauns existiert, rückt die Frage nach der Grenze von Realität in den Mittelpunkt des Films. Dem Mythos der Familie zufolge muss erst der namensgebende Dogtooth ausfallen, bevor man das Grundstück verlassen kann. Natürlich wird er das nie, es ist der Schneidezahn eines Erwachsenen. Aber dank der Filme kennt Bruce einen Ausweg: Zähne können auch ausfallen, wenn sie einen Schlag abbekommen.

Hat man selbst einen Dogtooth? Einen Gartenzaun? Und wann ist das letzte Mal etwas passiert, dass sich nicht mehr in die eigene Realität integrieren ließ? An diesem Punkt beginnen viele Filme ihre Geschichten. Dogtooth ist ein großartiger Film über diesen Punkt.

Takeaways

  • spüre dem Skurillen nach, um die eigene Realität zu erhellen
  • lies auch nicht-fiktionale Texte
  • stelle keine Fragen, sondern erzähle eine Geschichte, die Frage kommt dann von selbst
  • wenn es X in Y nicht gibt, träufele einen Tropfen X in Y und sieh zu, was passiert
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Toni Erdmann [Analyse]

[Massive Spoiler voraus]

Ein Vater der Alt-68er besucht unangekündigt seine Tochter, die sich in Bukarest als Unternehmensberaterin den Verheißungen einer Karriere hingegeben hat. Dort angekommen stellt der Vater fest, dass er sich erst auf die Suche nach seiner Tochter begeben muss. Sie ist aus der ihm bekannten Welt verschwunden.

Winfried Conradi ist Musiklehrer, hat ein Faible für skurrile Komikeinlagen und lebt so vor sich hin, irgendwo in einem Dorf im Rheinland. Hinter seiner stoischen Gelassenheit blitzt eine Resignation vor dem Leben auf. Eine Eigenschaft, die sich auch in seiner Tochter wiederfindet und die letztlich die Schablone bildet, vor der die beiden wieder zueinander finden. So gut es eben geht.

Bewohner zweier Welten

Ines Conradi ist eine Blüte des Turbokapitalismus. Egozentrisch, neurotisch, manchmal wirkt es, als drohe ihre blasse Haut vor lauter Anspannung über den Knochen zu zerreißen. Für eine große Consultantfirma wickelt sie ein Outsourcing-Projekt in Rumänien ab. Dort wo der sozialistische Traum einst jäh in der kommunistischen Wirklichkeit ankam und sich nun reiche Westfirmen mit der Ineffizienz osteuropäischer Arbeitsweisen herumschlagen müssen. Regisseurin Maren Ade zeigt nie etwas von der Stadt Bukarest, wie auch Ines sich nicht die Zeit nimmt, sich einmal umzuschauen. Was sie aber zeigt, ist das Panorama der Bohrtürme, die den Boden ausbeuten, bewirtschaftet von ebenso ausgebeuteten Arbeitern. Damit ist der Ton des Films gesetzt.

Zweckrationalität nach Feierabend

Jenseits der Meetings und Präsentationen entspinnt sich am Abend das soziale Miteinander der Businesswelt, was nichts anderes heißt, als dass auch die Freizeit im Dienst der Karriere steht: Das Abendessen ist die Chance auf einen neuen Kunden. Der Selbstzweck ist aus dieser Welt verbannt. Ines bewegt sich routiniert auf diesem Parkett und doch scheint sich der Boden unter ihr aufzutun. Hinter der Fassade lauert die Leere des Pappmachés. Ihr Vater Winfried spürt das und versucht dem Elend auf die ihm und seiner Generation angestammte Weise beizukommen. Spaghetti kochen, mal wieder über Werte sprechen.

Doch die Diskrepanz zwischen den beiden Welten von Tochter und Vater ist zu groß. Des Vaters Worte verfangen nicht mehr in einer Welt, in der Moral Pose ist. In der der Großkunde das Outsourcing zwar will, aber eine Beratungsfirma benötigt, die dies an seiner statt einfordert. Ines legt die Plattitüden ihres Vaters frei, die Verquickung seines relativen Reichtums mit dem Schicksal der Ölarbeiter. Zum Geburtstag schenkt Winfried seiner Tochter eine Käsereibe und – Geld. Vater und Tochter bewohnen verschiedene Universen. Auftritt Toni Erdmann.

Die Maske als Mittel der Annäherung

Mit falschen Zähnen, Perücke und lila Sakko betritt ein Alter Ego des Vaters die Businessbühne, das dort nicht hineinpasst. Die Leute reagieren verwirrt, aber freundlich auf den Sonderling. Seine Tochter treibt er mit seiner Darbietung an den Rand des Wahnsinns. Schließlich beschließt sie, das Spiel mitzuspielen und dem Vater einen Einblick in ihre Welt zu gewähren, der längst nicht immer angenehm ist. Durch seine Maskerade gelingt es Toni jedoch, inmitten der Maskenträger einen doppelten Boden in das Geschehen einzuziehen. Er spiegelt den Bewohnern dieser surrealen Welt ihre eigene Kostümierung vor und findet dadurch einen Zugang zu seiner Tochter, die sich der Herrschaft der Maske durchaus bewusst ist, sie jedoch schlicht für notwendig hält.

Schmerzhaft nahes Kino

An diesem Punkt wandelt sich der Film. Die Fremdschamkomik der ersten Stunde weicht einer schonungslosen Erkundung seiner Protagonisten, die bisweilen schmerzhaft ist und nur deshalb so gut funktionieren kann, weil die beiden Darsteller (Sandra Hüller und Peter Simonischek) selbst eine übermenschliche Performance aufbieten, die das Wechselspiel zwischen An- und Ablegen der Masken stets glaubhaft wirken lässt. Gleichwohl ist die Motivation des Maskenspiels bei den beiden grundverschieden. Während Winfried die Maske aufsetzen muss, um seiner Tochter näher zu kommen, muss Ines ihre Maske ablegen, um ihrerseits Nähe zulassen zu können. Doch bereit ist sie nicht dazu, stets entgleitet ihr die Maskerade versehentlich. Nie nimmt sie sich die Freiheit, nichts verkörpern zu müssen. Winfried hingegen hat sich Zeit seines Lebens die Freiheit genommen, keine Maske zu tragen und damit auch das Scheitern seiner Beziehungen zu Ehefrau und Tochter in Kauf genommen.

Keine moralische Wertung

Maren Ade verweigert hierbei klug eine Wertung. Weder Winfrieds noch Ines Welt sind realer als die andere. Beide sind auf ihre Weise am Glück gescheitert. Winfried brach mit der Moral seiner Eltern und hat sich fortan für nichts mehr verstellt, auch nicht für das Gelingen einer Ehe. Ines hingegen hat eine neue Moral gefunden. Sie diktiert die selbstlose Aufopferung für das eigene Ego, was natürlich im Wegfall des Ichs mündet, so dass niemand mehr übrig bleibt, der die Ernte einfahren könnte.

Das Gemeinsame dieser Haltungen und damit von Vater und Tochter ist die Resignation. Derjenige, der am Ende des Films keine Wandlung durchlaufen hat, bleibt allerdings Winfried. Er wähnt sich zwar letztendlich am Ziel, aber befreit hat er seine Tochter nicht. Die ist jetzt auf dem Sprung nach Singapur, das nächste Projekt steht an. Ihren kurzzeitigen Ausbruch, von Ade großartig halb als Zusammenbruch, halb als Rebellion inszeniert, hat sie hinter sich gelassen. Gelernt hat sie, den Vater anzunehmen, seiner Sicht auf die Dinge nicht die Berechtigung abzusprechen.

In der Schlussszene des Films eignet sie sich sogar seine falschen Zähne an, wie zum Zeichen ihrer Erlösung vom Wahn der Perfektion. Doch als sie diese wieder ablegt, noch bevor Winfried ein Foto schießen kann, verrät ihr Blick ins Nichts eine schlimme Ahnung: die Maskerade, das ist der Ort, an dem sie sich wohlfühlt. Jenseits davon lauert doch nur das eigene Ich und seine ganze ewige Unglücklichkeit. Das Leben des Vaters eben.

Takeaways

  • lass Welten kollidieren
  • ohne Wertung werden die Dinge interessanter
  • prüfe die kontraintuive Sicht auf ein Motiv, das Gegenteil des Geläufigen
  • nutze unwahrscheinliche Reaktionen des Umfelds, um Dramatik zu erzeugen
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The Power of the Dog [Analyse]

[Massive Spoiler voraus]

In der Ranch, die die Burbank-Brüder betreiben, spukt es. Ein Geist läuft durch die Bildmitte, durch den Hintergrund, seine Sporen klirren. So muss es sein, so ist es beabsichtigt. Denn Phil Burbank (Benedict Cumberbatch), der diesen Geist verkörpert, macht nicht die Pferde scheu. Er treibt Rose (Kirsten Dunst), die Frau seines Bruders, in die Alkoholsucht. Unterdrückt alles Schwache.

Das hat viel Raubeiniges, wie bei John Wayne, viel Stummes, wie bei Eastwoods Blonder, und viel Vulkanisches unter der Oberfläche, kurz vor dem Ausbruch.

Hypermaskulinität als Schreckgespenst

Phil ist der althergebrachte Prototyp des Western-Mannes, nur eben auf die Spitze getrieben. Wer seinem Ideal von Männlichkeit nicht gerecht wird, muss mit den Konsequenzen leben. Zum Beispiel Peter, der gerade erst erwachsen gewordene Sohn der Frau seines Bruders George (Jesse Plemons). Peter bastelt Papierblumen, tanzt Hula-Hoop.

Phil begreift Rose als Schmarotzerin, die nur auf Geld aus ist. Das sagt er ihr und allen anderen. Ob sie es hören wollen oder nicht. Tatsächlich verliert Phil durch sie seinen Bruder. Fortan schlafen sie nicht mehr im selben Zimmer. Allerdings ist sein Bruder ohnehin ein anderer Typ Mann. Er badet, trägt feinen Zwirn. Ist so weich und sanftmütig wie mollig. Für all das wird er von Phil aufgezogen. Dominiert.

Keine Gefahr also. Anders Peter. Der ist, was er ist, so weh es auch manchmal tut, wenn die Machos zuschlagen. Und das ist ein Problem für Phil. Denn er ist nicht, was er ist. Ahnen wir früh. Phil, dieser Ultramacho, hat ein kleines Geheimnis. Und ja, es ist das, was Sie denken.

Bildsprache wie mit dem Dampfhammer

Die Regisseurin Jane Campion hat sich dafür entschieden, einen filmischen Film zu drehen, das heißt, ganz wie es das Genre mag, auf jedes unnütze Wort zu verzichten und stattdessen die Bilder sprechen zu lassen. Aber dadurch verrät sie allzu viel all zu früh, vielleicht weil sie Bilder aus dem gleichnamigen Roman The Power of the Dog von Thomas Savage (1967) übernimmt. Die hingebungsvolle Pflege des Sattels seines alten Mentors Bronco Henrey, die Art, wie Phil das Innere einer Papierblume berührt, in den Boden gerammte Pfähle – die Liste ist lang und nicht subtil. In einem Roman können diese Bilder beiläufig „gezeigt“ werden, in einem Film sind sie notwendig leinwandfüllend und niemals unschuldig, kein filmisches Bild ist das. So wirkt das (Homo-)Erotische dieser Bilder wie mit dem Trichter eingeflößt.

Mit Vollgas auf die Klische-Klippen zu

Ebenso mag es in den 60er Jahren kein Klischee gewesen sein, dass Homophobie vor allem in den Seelen lauert, in denen eigene Homosexualität unterdrückt wird. 2022 wurde das selbst in Kantinen so oft besprochen, dass man es nicht mehr unfallfrei erzählen kann. Dementsprechend plump wirkt die Aufhängung. Gepaart mit den betont anspruchsvollen Bildern sticht die Trivialität dieser Küchenpsychologie noch deutlicher hervor.

Mangelnde Glaubwürdigkeit

Was von manchen Kritikern als Dekonstruktion toxischer Männlichkeit begriffen wird, hält daher in Wahrheit nichts Neues, Kluges, Intelligentes über Männlichkeit und ihre Grenzen bereit. Verheerender für die Geschichte ist jedoch die Unglaubwürdigkeit der handelnden Figuren, die vermutlich den üblichen Schwierigkeiten bei einer Romanverfilmung geschuldet ist. Weshalb Phil die Frau seines Bruders quält, lässt sich noch nachvollziehen. Warum diese sich als verwitwete, alleinerziehende Betreiberin eines kleinen Restaurants und somit als gestandene Frau so gar nicht dagegen zur Wehr setzt, bleibt jedoch unverständlich. Der Zuschauer kommt zu dem Schluss: Phil ist kein Mann. Er ist ein Gespenst, dem nichts entgegenzusetzen ist.

Auch Phils plötzliche Zuneigung zu Peter wirkt seltsam unmotiviert. Peter erwischt ihn beim Nacktbaden im See. Phil jagt ihn davon. Beim nächsten Aufeinandertreffen nimmt er Peter dann unter seiner Fittiche. Was hat ihn dazu veranlasst? Er kann nicht wissen, dass Peter die Muscle Magazines gefunden hat, die in der Nähe des Sees von ihm aufbewahrt werden. Will er Rose nun auch dadurch quälen, dass er ihren Sohn zu einem der seinen erzieht?

Der Twist bleibt aus

Man kann darüber hinweggehen und es als ambivalente, schwer durchschaubare Figurenzeichnung abtun, die den Zuschauer bis zum Finale im Unklaren lässt. Doch auch dort werden diese Fragen nicht beantwortet. Dementsprechend wartet man auf den einen großen Twist, der all dem Unerklärlichen Sinn verleiht, den Spuk erklärt. Und auf den Vulkanausbruch, der seit den ersten Bildern angekündigt wird. Leider ist der Twist am Ende nur ein halbgarer, da er der Erzählung nichts hinzufügt. Der Ultramacho wird vom Softie hintergangen und ins Reich der Historie geschickt. Erneut: Trivialität.

So ist The Power of the Dog trotz der gemächlichen, filmischen Erzählweise am Ende weder subtile Charakterstudie noch raffinierter Abgesang auf hypermaskuline Geister der Vergangenheit. Für Letzteres hätte Campion dem Ganzen etwas erzählerisch Neues hinzufügen müssen. Für Ersteres hätte die Figurenzeichnung runder ausfallen müssen.

Takeaways

  • motiviere die Handlungen deiner Figuren
  • erkläre, zu gegebener Zeit, das für dein Publikum Unerklärliche
  • übernimmt keine alten Motive, ohne sie auf Aktualität zu prüfen
  • mache dich mit den Spezifika deines Mediums vertraut
  • manchmal ist ein Bild weniger das beste Bild

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Es (2017) [Analyse]

Die Kleinstadt Derry wird alle 27 Jahre von einem kinderfressenden Clown heimgesucht. Eine Gruppe nerdiger Kids stellt sich ihm dieses Mal in den Weg. Doch der Clown macht sich ihre tiefsten Ängste zu eigen.

[Massive Spoiler voraus]

Die Neuverfilmung von Stephen Kings 1200-Seiten-Roman Es hätte ein Meisterwerk werden können. Heraus gekommen ist ein Film, der nicht für sich stehen will. Das liegt zum einen an der grundsätzlichen Entscheidung, den Film in der Zeit der Romanerscheinung spielen zu lassen, also in den 80er Jahren statt wie im Buch in den 50ern. Allerdings bleibt Regisseur Andy Muschietti zum anderen auch was den Horror angeht einiges schuldig.

80er-Hype und lahmer Horror

Wer in den letzten Jahren das Horrorgenre verfolgt hat, allen voran die Filme von James Wan (The Conjuring, Insidious), der wird nicht umhin können, Muschiettis Inszenierungen als unsaubere und weichgespülte Kopie des State of the Art auzufassen. Wo Wan den Spannungsbogen bis zum Äußersten ausreizt, kann Muschiettis meist nicht anders, als dem Zuschauer möglichst schnell seine Monster zu präsentieren. Doch das Wesen des Horrors bleibt der Suspense, die kaum auszuhaltende Erwartung des Zuschauers vor dem Grauen. Nicht das Grauen selbst. Dies hat Wan erkannt und das Grauen, sprich die gezeigten Monster, stets mit einem perfekt inszenierten Überraschungseffekt verknüpft, der die aufgebaute Spannung plötzlich löst. Die sogenannten Scarejumps, die uns aus dem Kinosessel hüpfen lassen.

Muschiettis bedient sich dieser Methodik zwar zwangsläufig auch, aber er verfehlt sie, weil ihm das Timing fehlt. Zudem bleiben die Monster selbst harmlos. Die vermodernde Wasserleiche etwa, die ein hypochondrisches Kind heimsucht, ist gerade komisch genug designt, um den unbedarften Zuschauer nicht zu überfordern. Ohnehin ist die Technik der Jumpscares zu plump, um weiterhin schablonenhaft zu faszinieren: seltsamer Vorgang in der Ferne – Schnitt – ängstliches, ungläubiges Gesicht des Opfers – Schnitt – Nahaufnahme des Monsters samt überbordenden Soundeffekten – we got it.

Agatha Christie lässt grüßen

Diese handwerklichen Mängel und mainstreamtauglichen Zugeständnisse fallen umso schwerer ins Gewicht, da Muschietti sich 45 Minuten Zeit nimmt, um die sieben Kids einzuführen, die sich später Es entgegenstellen. Was in diesem Fall eben heißt, dass jedes der Kinder Es begegnen muss und somit seiner größten Angst, als die sich Es manifestiert. In Ermangelung wirklich grusliger Szenen gerät diese Exposition monoton. Man fühlt sich an die Agatha-Christie-Verfilmungen mit Sir Peter Ustinov erinnert, die die Hälfte der Spielzeit damit zubringen, wirklich jeder Figur ein potentielles Motiv für den erst noch zu begehenden Mord unterzujubeln.

Die Nostalgie ist altbekannt

Aber immerhin sind da noch die 80ies, dieses herzhafte Kindheits-Jahrzehnt jener, die damals schon alt genug waren, um Stephen Kings Roman zu lesen. Gremlins, Goonies, New Kids on the Block – die Anleihen sind unübersehbar und machen Spaß. Der Cast ist stark und vereint sich tatsächlich zu einer verschworenen Gemeinschaft, deren Verbundenheit authentisch wirkt. Wenn sie BMX-Rad fahren, Arcadespiele zocken oder ihre Schulhefte zu Beginn der Ferien in den Mülleimer kippen, wohnt man dem Geschehen mit diebischer Freude bei.

Allerdings hat auch hier kürzlich eine andere Produktion die Messlatte deutlich zu hoch gelegt. Stranger Things war schlicht das bessere 80ies-Revival. Natürlich hat sich genau dieses Stranger Things wiederum stark an Filme wie Goonies und die Es-Fernsehfilme angelehnt, aber eben überzeugender. Warum dann auch noch einer der Hauptdarsteller von Stranger Things gecastet wurde, bleibt das Geheimnis der Produzenten. Der Buchvorlage zu folgen und die 50er Jahre als Schauplatz zu wählen, hätte die Chance geboten, stattdessen etwas Neues zu kreieren.

Im Kern eine grandiose Story über das Erwachsenwerden

Die grundsätzliche Metapher des Films sowie des Buches bleiben brilliant: Es ist nicht mit dem Clown Pennywise identisch, sondern etwas viel Älteres, Dunkles, Böses, das verschiedene Gestalten annimmt, je nach den Ängsten seiner Opfer. Um das Böse zu besiegen, müssen die Kinder ihre Ängste hinter sich lassen oder von ihnen in Gestalt von Es verzehrt werden. Dafür aber müssen sie sich von ihren Eltern emanzipieren. Denn fast alle Ängste der Kinder, ob nun vor Krankheiten, vor der eigenen Geschlechtlichkeit oder vor einem Gemälde wurden ihnen von ihrem Elternhaus vermacht.

Die Kinder müssen also erwachsen werden. Die Erwachsenen in Derry hingegen sind auf eine Art Kinder geblieben. Sie leben mit ihren Ängsten, ohne sich je mit ihnen konfrontiert zu haben. Anders als bei den Kindern wirken ihre Ängste nur noch unterbewusst, sind von der sichtbaren Oberfläche verschwunden. Ihre Lebensweise wird von Angst bestimmt, ohne dass sie es bemerken – und bestimmt ihren Umgang mit ihren Kindern. Deshalb können die Erwachsenen die Blutfontänen und die roten Luftballons von Pennywise auch nicht sehen. Sie leben längst mit ihren Ängsten, nicht mehr gegen sie.

Realität vs. Angst

So ist es dann auch der Satz „You’re not real!“, der die Wende einleitet. Es ist für die Kinder fortan nicht länger das personifizierte Grauen, sondern eine Illusion, der man entgegentreten muss. Genau wie die Angst vor Spinnen, vor anderen Menschen, vor dem anderen Geschlecht. Letzterer geht es schließlich in der Schlussszene des Films an den Kragen. Der erste Kuss markiert unweigerlich die Abnabelung vom Elternhaus. Die Tatsache, Liebe jenseits des Schoßes der Mutter gefunden zu haben, beraubt diese ihrer Heiligkeit und Autorität. Während die meisten von uns diesen Schritt wohl vollzogen haben, ist es längst nicht selbstverständlich, sich den übrigen, sehr individuellen Ängsten zu stellen. Es ist ein Film über dieses Umdrehen, über das Nicht-Länger-Weglaufen und bezieht daraus seinen Wert, fügt der Vorlage jedoch nichts hinzu, sondern unterläuft ihre Brillanz.

Takeaways

  • laufe keinen Trends hinterher
  • suche nach der grundlegenden Metapher deiner Geschichte
  • krieg dein Handwerk auf die Reihe, aber überrasche dein Publikum
  • Exposition muss heutzutage schneller gehen
  • in der Metapher steckt die Lösung des zentralen Konflikts