Wer schreibt, ist Weltenbauer. Aber gilt das für alle Genres und Gattungen? Wann ist es besonders wichtig? Und gibt es je nach Genre unterschiedliche Herangehensweisen? All das und mehr in diesem Auftakt zur dreiteiligen Worldbuilding-Serie auf Lektorat Bauer.
Zunächst einmal zur Definition: Worldbuilding beschreibt den Vorgang, eine fiktionale Welt zu entwerfen oder – in einer abgeschwächten Form – ein Setting, also bestimmte Aspekte einer Geschichte, die davon abgesehen in der bekannten Welt spielt. Allerdings gibt es hier bereits eine wichtige Unterscheidung: Wenn Autorinnen auf Instagram darüber schreiben, wie sie „im Worldbuilding feststecken“, meinen sie damit meist eine Art von Vorarbeit, bevor es an das eigentliche Schreiben ihrer Geschichten geht.
Inhaltsverzeichnis
1. Worldbuilding als Prozess vor dem Schreiben
Sie betreiben also Worldbuilding als einen Prozess, der sie darauf vorbereiten soll, eine Geschichte innerhalb der erdachten Welt zu erzählen. Sie entwerfen eine Geografie, eine fiktive Weltgeschichte, vielleicht sogar eine Sprache – aber notieren noch keinen einzigen Satz im Manuskript. Umgekehrt gibt es jedoch auch jenes Worldbuilding, das innerhalb des Manuskripts stattfindet, also direkt an den Leser gerichtet ist. Im Gegensatz zum vorgelagerten Prozess des Worldbuildings geht es hier also um eine Technik: wie bringe ich all die Informationen über die fiktive Welt an die Leserin? Wie etabliere ich eine solche Welt, während ich erzähle?
Zur Veranschaulichung ein paar Beispiele: Schreibst du einen Liebesroman, der im New York des Jahres 2025 spielt, steht Worldbuilding sehr weit unten auf deiner Prioritätenliste. Weder musst du im Vorfeld eine fiktive Welt auf dem Reißbrett entwerfen noch im Manuskript selbst darauf achten, die Welt möglichst elegant zu etablieren. Denn die Welt ist dem Leser und dir ja bereits bekannt. Was du allerdings tun könntest und womöglich solltest: Recherche betreiben. Spielt New York als Stadt eine wichtige Rolle für deine Geschichte, etwa weil ein Stadtviertel und dessen Eigenheiten besonders im Mittelpunkt stehen, solltest du auch in der Lage sein, dieses möglichst realitätsnah darzustellen. Wenn der große Fluss bei dir etwa Mississippi oder Big River heißt, obwohl eigentlich der Hudson gemeint ist, reißt das deine Leserinnen nämlich aus der Geschichte.
2. Recherche ist das Gegenteil von Worldbuilding
Schreibst du hingegen an einem Spionage-Thriller im Kalten Krieg, ergibt es Sinn, sich mit den relevanten Waffensystemen vertraut zu machen, die dein Held stehlen will. Als Autorin bist du also nicht von der nötigen Vorarbeit befreit, nur weil deine Geschichte in der Realität (ob gegenwärtig oder vergangen) spielt. Sie ist nur eine andere. Das führt zur zweiten wichtigen Unterscheidung: Geschichten, die in der Realität spielen, bedürfen der Recherche. Geschichten, die in einer fiktiven Welt spielen, bedürfen des Worldbuildings als Prozess vorab und als Technik im Manuskript selbst.
Allerdings gibt es auch Hybridformen. Nehmen wir Jurassic Park: Der Reiz der Geschichte besteht zu 50 Prozent aus den geklonten, lebenden Dinosauriern und zu 50 Prozent aus deren Kollision mit unserer Realität. Dementsprechend musste der Autor Michael Crichton einerseits Worldbuilding betreiben, sich also überlegen, wie genau die lebenden Dinosaurier im 20. Jahrhundert überhaupt möglich werden. Andererseits musste er Recherche betreiben, um den realen Mechanismus – das Klonen der Dinos – und die verschiedenen Dino-Arten realitätsnah beschreiben zu können. Denn die Leser sollten ja keine Monster-Geschichte mit ausgedachten Bestien präsentiert bekommen, sondern eine Erzählung über Dinosaurier.
3. Fantastisch oder realitätsgetreu?
Damit sind wir schon mittendrin in der Frage, für welches Genre Worldbuilding relevant ist und für welches eher nicht. Wie bereits dargelegt, ist für jene Geschichten, die einfach in der Realität spielen (Liebesromane, Familiendrama, Mittelalter-Epos, Erotik) oder diese explizit zu ihrer Grundlage machen (Spionage-Thriller, Biografische Erzählungen, Wissenschafts-Thriller) das Worldbuilding ziemlich vernachlässigbar. Wichtig ist es hingegen für all jene Genres, die sich von der Realität entfernen: Science-Fiction, Fantasy, dystopische und utopische Romane, Alternate History Fiction.
Der wohl offensichtlichste Fall ist hierbei sogenannte High Fantasy: Es wird eine ganze Welt entworfen, die mit der unseren nicht in Verbindung steht – wie bei Der Herr der Ringe oder Game of Thrones. Low Fantasy ist stattdessen in unsere Realität eingebettet, und setzt auf einzelne Fantasy-Elemente, die aber ebenfalls gut durchdacht sein wollen, also auch des Worldbuildings bedürfen. Dazu zählt etwa Harry Potter. Dystopische oder utopische Romane leben im Kern von einer zentralen Prämisse, etwa einer Zombie-Apokalypse, die mit all ihren Konsequenzen ebenfalls zu einem Worldbuilding führt: Gibt es noch einen funktionierenden Staat? Wenn nicht, wie wird mit dem Machtvakuum umgegangen? Wovon leben die Menschen? Wie wird man zum Zombie und was passiert dann mit einem?
4. Romantasy und Climate Fiction?
Allerdings sind die Genre-Grenzen im 21. Jahrhundert längst nicht mehr so klar umrissen. Vielmehr hat sich eine Vielzahl an neuen Kombinationen etabliert. Romantasy etwa vereint Fantasy und den Liebesroman (Twilight), Climate Fiction befasst sich mit möglichen Zukünften auf Basis des real prognostizierten Klimawandels. Für all diese Mischformen und Nischen-Genres gilt allerdings dennoch: Sofern du mit ihnen in eine fiktive Welt driftest, wird Worldbuilding notwendig, selbst wenn die Realität noch eine Rolle spielt.
Zwei Ausnahmen zu dieser Regel gibt es noch: Historische Romane befassen sich per Definition mit einer vergangenen, aber realen Welt. Deshalb verlangen sie den Autoren oft eine aufwendige Recherche ab. Allerdings kann die genutzte Epoche derart weit zurückliegen, dass die sich aus der Recherche ergebende Welt für den Leser so fremd ist, dass zwar nicht der Prozess des Worldbuildings notwendig wird, sehr wohl aber die Technik des Worldbuildings. Denn dem Leser muss in diesem Fall ebenso eine ihm unbekannte Welt erklärt werden, mit eigenen Gesetzen, Sozialgefüge und Lebensweisen, als wäre sie frei erfunden. Die Bräuche der Liang-Dynastie sind uns für gewöhnlich kaum besser bekannt als jene des Auenlandes.
5. Historische Romane als Ausnahme
Außerdem gibt es ein Genre, dass zwar übernatürliche und fantastische Elemente noch und nöcher enthält, dabei allerdings gerade nicht von Worldbuilding profitiert: Sogenannte Traumliteratur. Hier stößt die Protagonistin zwar in unbekanntes Terrain vor, aber weil das Ganze als Traum oder fantastische Episode eingeordnet wird, wird diese unbekannte Welt nicht ausbuchstabiert oder erklärt. Vielmehr verwendet die Autorin einiges an Mühe, das Unerklärliche zu bewahren und das Entdecken in den Vordergrund zu stellen. Ein konsistentes Ganzes wird also nicht gesucht, wie auch Träume selten in sich stimmig sind. Das wohl prominenteste Beispiel für eine solche Traumliteratur ist Alice im Wunderland. Gemeinsam mit Alice folgen wir dem weißen Kaninchen und kommen aus dem Staunen nicht mehr heraus. Absurdität folgt auf Absurdität, darin liegt der Charme der Geschichte. Vorab diese Welt auszuleuchten und zu erklären, würde dies zunichte machen.
Ohnehin sollte man beim Worldbuilding als Technik nicht auf groß angelegte Erklärungen setzen. Wie genau du dein Worldbuilding aber betreiben solltest – vorab als kreativen Prozess und anschließend, beim Schreiben selbst als Technik – besprechen wir in den nächsten beiden Teilen der Serie.
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