Ein Fenstersturz. Doch die Fensterbank ist zu hoch, um einfach über sie zu in die Tiefe zu fallen. Niemand hat etwas gesehen. Der Sohn ist ohnehin fast blind, vom Assistenzhund sind keine Aussagen zu erwarten und die Ehefrau (Sandra Hüller) – nun ja, die Ehefrau …
So kurz und knapp lässt sich das, was in Anatomie eines Falls passiert, zusammenfassen. Ein herkömmlicher Whodunit, möchte man meinen, vielleicht ein Polizeidrama (nicht wirklich) oder ein Gerichtsthriller (schon eher). Und tatsächlich passiert sonst nicht allzu viel, dreht sich das Geschehen vor allem um die Frage, wie und warum Samuel Maleski ums Leben gekommen ist. Klar, da ist der befreundete Anwalt der Ehefrau, und irgendwie sprühen da alte Funken zwischen den beiden. Und natürlich rückt die Beziehung der Eheleute in den Fokus, wird sie aufs Hochnotpeinliche durchleuchtet. Aber am Ende steht die Kamera doch viel im Gericht oder wartet gemeinsam mit den Protagonisten darauf, dass es (wieder) dorthin geht.
Realität und Fiktion verschwimmen
Allerdings, und da lässt Anatomie eines Falls das bloße Prädikat „handwerklich gut gemacht“ hinter sich, wartet der Goldene-Palme-Gewinner mit reichlich Subtext auf. Das beginnt mit der Entscheidung, die Eheleute mit den Vornamen ihrer Darsteller auszustatten: Sandra und Samuel. Beide sind Schriftsteller, Sandra schreibt autofiktional, verwebt also Erlebtes in ihre Geschichten, ja man könnte sagen, zieht erst aus ihrem eigenen Leben überhaupt den Stoff für ihre Erzählungen. Als ihr Sohn durch einen Unfall nahezu erblindet, wird daraus ihr drittes Buch. Bereits hier verwischen also die Grenzen von Realität und Fiktion.
Gleichzeitig enthält sich der Film stoisch jeglicher Eindeutigkeit. Den eigentlichen Mord, Unfall oder Selbstmord sehen wir nicht, nur bemühte Nachstellungen der Ermittler, Visualisierungen ihrer Spekulationen. Und selbst als wir per Rückblende, die eine authentische Audiodatei bebildert, die vor Gericht abgespielt wird, mitten in die langsame Eskalation eines Streits der Eheleute hineingeraten, wird uns der Anblick des Gewaltausbruchs verwehrt. Cut, zurück in den Gerichtssaal. Schreie, Schläge. Wer schlägt wen? Wer ist Opfer, wer Täter?
Mit Wahrheit nicht befasst?
Die dem 11-jährigen Sohn zur Seite gestellte Betreuerin weiß Rat: Wenn man einfach nicht weiß, was man glauben soll, muss man sich eben entscheiden. Das tut der Junge und erzählt vor Gericht eine bislang unbekannte Geschichte, die den Ausschlag gibt: Sein Vater habe ihm einst erklärt, dass er sich gefasst machen müsse auf den Tod des geliebten Hundes. Früher oder später wird er nicht mehr da sein. Das wird ein harter Schlag, aber die Welt geht davon nicht unter, Sohn. „Er hat von sich geredet“, liefert der Sohn selbst die naheliegende Interpretation. Die Geschichte des Sohnes ist die entscheidende: Sandra wird von den Geschworenen freigesprochen.
Und damit geraten wir in den erzählerischen Kern von Anatomie eines Falls. Wird Wahrheit entdeckt? Oder gemacht? Und wenn ja, wie? Sind Gerichte mit Wahrheitsfindung befasst? Sandras Anwalt verneint dies: „Es geht um das, was wir glauben.“
Auffällig auch die immer wieder von der Kamera eingefangenen Fotografien glücklicherer Tage: Sind sie Erinnerungen an Gewesenes? Oder die nachträgliche Konstruktion einer Pseudo-Vergangenheit? Wenn Wahrheit nichts Entdecktes ist, dann muss die Antwort lauten: Fotografieren ist nichts anderes als die Fabrikation von Beweisen. Schau doch, wie glücklich wir waren. Aber waren wir das?
Man muss sich entscheiden
Folgerichtig überlasst Regisseurin Justine Triet es dem Zuschauer, zu entscheiden, was passiert ist; wer schuldig ist und wer nicht. Eine eindeutige Auflösung, Höhepunkt eines jeden Whodunit, gibt es nicht. Trotzdem trifft der Film dabei eine Aussage: Die Wahrheit mit großem W, unabhängig von uns und unseren Vorlieben, Verwicklungen und Entscheidungen, gibt es ebenso wenig.
Und so zeigt Anatomie eines Falls mustergültig auf, wie man als Autor aus dem Gewohnten ausbrechen und dadurch Großes schaffen kann: indem man einen Grund dafür findet. Denn hätte Triet einfach so auf eine Auflösung verzichtet, ohne den Subtext zu Wahrheit als Konstruktion, als Glaubensakt, wäre alles in Beliebigkeit verlaufen. Umgekehrt gilt: Warum auf eine Auflösung verzichten, wenn man nicht einen Standpunkt vertritt, der das motiviert, der dadurch ausgedrückt wird?
Form und Subtext bedingen sich
Es ist diese gegenseitige Bedingheit, die aus Entscheidungen zu Inhalt und Form einerseits und Subtext/Motiv/Aussage andererseits eine überzeugende Einheit macht, ja sie überhaupt erst ihre volle Wirkung entfalten lässt. Den meisten Geschichten fehlt diese Einheit. Deshalb wirken sie entweder unnötig avantgarde (wenn der Form oder dem Inhalt nichts Essenzielles zugrunde liegt) oder sperrig, unzugänglich (die Essenz findet keinen formalen oder inhaltlichen Ausdruck).
Für dich als Autorin heißt das: Du brauchst beides. Und dann muss es auch noch zueinander passen. Wahnsinn, oder?
Was kommt zuerst, mag man sich da fragen. Aber das ist unmöglich zu sagen. Stand zuerst die Idee, lebendige Dinos aus einem Dino-Zoo ausbrechen zu lassen, oder die Einsicht, dass man die Natur beziehungsweise das Leben nicht kontrollieren kann, so weit man auch technologisch voranschreitet? Michael Crichton wird es uns nicht verraten. Wir müssen uns entscheiden.
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