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Franz Kafka: Die Verwandlung [Analyse]

Von Kafka lernen, heißt schreiben lernen. In „Die Verwandlung“ zeigt er exemplarisch, was seine Texte ausmacht.

Also gut, es ist Sonntagabend 22 Uhr, deine Eltern haben nach dem „Tatort“ schon die Zähne geputzt und du hast noch genau 8 Stunden Zeit, bevor du in die Schule fahren musst, um eine Deutschklausur über Kafkas Die Verwandlung zu schreiben. Du hast die Erzählung nicht gelesen. Idiot.

Aber weil es Menschen gibt, die fasziniert von diesem komischen dünnen Typen aus dem letzten Jahrhundert und seinen noch komischeren Geschichten sind, und deshalb Essays darüber verfassen, wie der Typ welche genialen Dinge getan hat, gibt es eine Rettung: Diesen Artikel. Darin werfe ich einen genaueren Blick auf die literarischen Mittel , mit denen Kafka es schafft, Die Verwandlung zu einer der prägendsten Erzählungen der Moderne zu machen.

Falls du nur noch in deinen unruhigen Träumen eine Schülerin bist, keine Sorge. Auch für dich, der nicht 8 Stunden, sondern mit etwas Glück und technologischem Fortschritt (*Lindner-Voice*) noch 80 Jahre bleiben, um endlich ihren verfluchten Roman fertigzustellen, haben die folgenden Seiten einiges zu bieten. Denn von Kafka lernen, heißt schreiben lernen.

1. Wie man verdammt nochmal beginnen sollte

Dabei ist von vornherein klar, dass eine solche Analyse nicht erschöpfend des Autors Raffinesse darlegen kann. Doch wenn auch nur ein Bruchteil der verwendeten Techniken aufgeschlüsselt werden kann, ist viel gewonnen für alle, die schreiben wollen oder Deutschklausuren schreiben müssen.

Anfangen soll man mit dem Anfang, heißt es, und so stürzen wir uns ohne biografische oder zeitgeschichtliche Umschweife gleich doppelt mitten ins Getümmel: Denn mit Kafkas Anfängen anzufangen, heißt auch, bereits direkt in der Geschichte zu stehen, die er auch im Fall der Verwandlung mit einem einzigen ersten Satz nahezu vollumfänglich ausbuchstabiert:

„Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.“

Franz Kafka – Die Verwandlung

Dieser Satz stellt beinahe eine ganze Log Line dar: Der Protagonist und sein Problem werden eingeführt und ein Rätsel etabliert (wie und warum ist es dazu gekommen?). Das geschieht derart brachial und schnell, dass der Leser sich dem Sog dieser Geschichte nicht entziehen kann. Zugleich ist der Grundkonflikt skizziert, der die Handlung und ihren Helden bestimmen wird: Welche Auswirkungen hat diese ungeheuerliche Verwandlung und wird Samsa diesem Zustand noch einmal entkommen können? Subtil, hauchzart nahezu, zieht Kafka mit diesem ersten Satz auch schon eine für diesen Grundkonflikt entscheidende Grenze: Samsa erwacht nicht irgendwo am Straßenrand, nicht im Omnibus, sondern zuhause, in seinem Bett, und zwar eines Morgens – die Außenwelt hat also noch keine Notiz von ihm genommen, das über ihn hereingebrochene Unheil bleibt vorerst unbemerkt. Gleichzeitig ist damit angerissen, was Gregor Samsa als nächstes bevorsteht: die Scham des Entdecktwerdens.

2. Sei von deiner Prämisse überzeugt

Die Verwandlung ist natürlich vor allem wegen der in ihrem ersten Satz etablierten, absurden Prämisse die wohl berühmteste Geschichte Kafkas. Ein jeder kann sich einen Reim darauf machen, mehr noch als auf den unschuldig verhafteten Josef K. oder einen höhenkranken Trapezkünstler. Allerdings entfaltet Kafkas Prämisse von der Verwandlung in ein Ungeziefer nur deshalb ihre verstörende Wirkung, ja genauer: beeinflusst den gesamten Rest der Geschichte so unerhört, dass ein Adjektiv dafür erfunden wurde – kafkaesk –, weil Kafka selbst und mit ihm die handelnden Figuren von dieser Prämisse völlig überzeugt sind. Denn das Surreale an der Geschichte ist von außen betrachtet natürlich die Verwandlung selbst. Innerhalb der Geschichte jedoch behandeln alle Figuren die Verwandlung als das Allernatürlichste, als etwas Ununmstößliches, und surreal ist nur ihr Verhalten dazu: Samsa möchte unbedingt den nächsten Zug erwischen, um noch halbwegs rechtzeitig zur Arbeit zu kommen, seine Familie beginnt die Möbel wegzuräumen, damit er ungestört umherkrabbeln kann.

Durch diese ironische Verkehrung, die zur Schau gestellte Adaption aller Beteiligten an das nicht Adaptierbare, entsteht erst der Effekt des Kafkaesken, gerät also die vertraute Welt ins Wanken, schleicht sich ein absurder Unterton in die Geschichte. Irgendwer müsste doch schreien, die Polizei rufen, gleich mehrere Professoren und den Kammerjäger – aber nichts dergleichen geschieht.

Wenn du also selbst eine Geschichte mit einer eigenartigen Prämisse schreibst (und das wollen wir doch hoffen), dann halte dich nicht mit den Zweifeln der Figuren an ihr auf, sondern stürze dich auf die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten, die mit dieser Prämisse einhergehen. Plump gesagt: Jurassic Park verbringt nicht 60 Minuten damit, die wissenschaftliche Möglichkeit des Dinosaurier-Klonens anzuzweifeln, sondern lebende Dinos anzustaunen.

3. Kafkas Horror vollzieht sich im Subtilen

Das führt zum dritten kongenialen Moment in Kafkas Erzählung. Anstatt das Offensichtliche zu tun, nämlich den Horror des Insektseins frontal auf den Leser einprasseln zu lassen, hält sich Kafka zurück, zügelt seine Wortwahl, seine Beschreibungen, ja verzichtet gänzlich auf Passagen der Marke: „Und aus seinen klaffenden Mundhöhlen tropfte der Speichel diabolisch leuchtend auf die hübsch angerichtete Kaffeetafel.“

Stattdessen bemüht Kafka, wie jeder gute Erzähler, den Kontrast, um den Horror zu veranschaulichen, den Gregors Verwandlung für ihn bereithält. Genauer gesagt: den Kontrast zwischen menschlichen und tierischen Fähigkeiten und Bedürfnissen.

Als Gregor durch die Wände hindurch seine Familie über ihre nun bescheiden gewordene finanzielle Situation sprechen hört, denkt er etwa zutiefst menschliche Gedanken:

„Wie aber, wenn jetzt alle Ruhe, aller Wohlstand, alle Zufriedenheit ein Ende mit Schrecken nehmen sollte?“

Franz Kafka – Die Verwandlung

Nur um im nächsten Moment von Kafka zurück auf seine tierische Realität geworfen zu werden:

„Um sich nicht in solche Gedanken zu verlieren, setzte sich Gregor lieber in Bewegung und kroch im Zimmer auf und ab.“¹

Franz Kafka – Die Verwandlung

So setzt es sich fort: Die von seiner Schwester gebrachten frischen Speisen rührt Gregor bald schon nicht mehr an, aber einen Käse, den er „vor zwei Tagen für ungenießbar erklärt hatte“, „saugt“ er „gierig“ ein, nicht ohne sich vorher zu fragen, ob er jetzt wohl „weniger Feingefühl“ habe. Auf dem Kanapee liegt Gregor nun nicht länger, er versteckt sich darunter.

Es sind diese subtilen Beschreibungen von Gregors rückläufiger Entwicklung, seiner Regressions ins Animalische, die den Horror betonen, dem er ausgesetzt ist. Und so mächtiger wirken, als jede Ansammlung direkter und konfrontativer Adjektive es jemals könnte.

4. Kafka und das Universale

Wer den törichten Versuch einer Interpretation der Verwandlung unternehmen will – oder von seinem Deutschlehrer dazu gezwungen wird –, sieht sich einer unmöglichen Aufgabe gegenüber. Zu vielschichtig ist die Erzählung, zu offen gestaltet. Und doch liegt genau darin das Geheimnis ihrer Wirkung auf Leser, Kritiker, Germanisten und neuerdings Filmemacher, auch noch 100 Jahre später: Die Verwandlung scheint für alles herhalten zu können, zu uns allen zu sprechen, über die Zeit hinweg. Es ist diese Universalität, die das Ziel von Literatur seit jeher bildet, und nur dem Größenwahn der Schriftstellerinnen ist es zu verdanken, dass überhaupt je ein Satz geschrieben wurde: Was ich zu sagen habe, sollten alle hören.

Wie aber stellt Kafka das an? Entscheidend für die Offenheit seiner Geschichte ist ihre innere Geschlossenheit. Der Erzähler, der ja nicht mit Samsa oder einer anderen Figur identisch ist, verbittet sich jeden Kommentar, jede leichtfüßige Distanz, aus der heraus der Leser selbst einen Standpunkt des bloß Beobachtenden einnehmen könnte, nirgends wird das tragische Geschehen aufgebrochen. Auch Informationen, die jenseits von Gregors unmittelbarem Erleben und Denken stehen, werden nur ganz am Anfang mitgeteilt, eben das Ereignis der Verwandlung selbst, seine Erscheinung und schon nur noch rudimentär die Beschaffenheit des Zimmers. Anschließend (und da sind erst zwei Absätze geschrieben) nimmt Kafka eine streng personale Erzählperspektive ein. Was Gregor nicht sieht, hört, spürt oder denkt, wird auch nicht geschildert. Im Umkehrschluss wird ein Schuh daraus: Die Welt, in die uns Kafka entführt, ist Gregors Welt, und keine andere. Damit einher geht eine strikte Linearität der Zeitabfolge. Es gibt keinen Ausblick in die Zukunft, keine Rückblenden, höchstens gedachte Erinnerungen des Protagonisten an ein Früher, die dadurch natürlich ebenfalls subjektiv bleiben müssen – im Gegensatz zu einer objektiven Außensicht.

Aus dieser engen Perspektive ergibt sich, mit ein wenig philosophischer Leidenschaft, die Unmöglichkeit von Wahrheit in Kafkas Schreiben: Die beschriebene und entworfene Welt ist eine notwendig subjektive – eine solche aber kann nicht auf ihren Wahrheitsgehalt geprüft werden. Denn dafür fehlen zwei Dinge. 1. Ein Gegenentwurf zu dieser Welt, die Beschreibung durch die Augen einer zweiten Figur etwa, oder die Kommentare eines über den Dingen stehenden Erzählers. 2. Der unverstellte Blick auf diese Welt, das Ding an sich also, die Welt, wie sie ist, jenseits der Wahrnehmung Gregors.

Die Fragen nach der Realität der Verwandlung in ein Ungeziefer, danach, ob Gregor doch träumt, ob die Verwandlung ein Symbol für X ist oder für Z, sind daher sowohl nicht beantwortbar als auch nicht widerlegbar. Nur auf der Metaebene lässt sich feststellen: Die Verwandlung kann für alles herhalten, aber eigentlich, das ist ihr Geheimnis, kann sie das nicht.

Und dennoch: Natürlich gibt es einen Erzähler, lesen wir ja keinen ungehemmten Strom von Gregors Wahrnehmungen, findet Selektion statt. In Ermangelung einer plausiblen Erzählposition rückt dadurch erst recht der Autor in den Fokus der Deutungsmaschinerie, und in der Folge sind die meisten der Interpretationsversuche von Kafkas Erzählungen autobiographisch geprägt. Sie bedienen sich also externer, realer Hilfsmittel, weil sich das Innere der Fiktion einer Auslegung verschließt. Ein Taschenspielertrick.

Wenn deine Deutschlehrerin also von Vaterfiguren, Kafkas schwierigen Liebesbeziehungen und dergleichen spricht, frag sie einmal, ob ein Text nicht aus sich heraus interpretiert werden sollte und, das ist die interessantere Frage, was an Kafkas Texten sie dazu veranlasst, dies nicht zu tun.

Und wenn du selbst schreibst, dann mach dir Gedanken über die Erzählposition, über Distanz, Nähe und Geschlossenheit und deren Auswirkungen auf den Bedeutungsgehalt, der deinen Erzählungen zugesprochen werden kann. Keine Sorge: mit ein bisschen technologischem Fortschritt bleiben dir noch 80 Jahre.

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¹ vgl. F. D. Luke (1951): Kafkas ‚Die Verwandlung‘