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Ein sehr guter Text Prosa

Wie man eine weibliche Figur schreibt

Die Welt der Geschichten ist voll von starken Männern und verletzlichen Träumern, kindischen Helden und großväterlichen Sturköpfen. Vielleicht weil Männer gerne männliche Charaktere schreiben, vielleicht weil man Frauen nicht mal in der Fiktion zutraut, ein Schwert zu schwingen. Das hat zur Folge, dass dem angehenden Schriftsteller im Rahmen seiner Ausbildung kaum gelungene Beispiele für das Schreiben einer weiblichen Figur begegnen.

Denn seine Ausbildung besteht vor allem aus Lesen, dem Lesen der Klassiker. Damit nicht schon wieder eine Generation von Autoren heranreift, die dem Entwurf weiblicher Figuren reserviert entgegentritt, verrät dieser Artikel das wohlbehütete Geheimnis, um mühelos grandiose weibliche Figuren zu entwickeln. Doch zunächst ein Blick auf einige absolute No-Gos.

1. Bestehst du den Bechdel-Test?

Der sogenannte Bechdel-Test funktioniert folgendermaßen: Reden in deiner Geschichte zwei Frauen miteinander? Sehr gut. Reden sie über etwas anderes als einen Mann und ist die Unterhaltung trotzdem relevant? Dann hast du ihn bestanden, Glückwunsch! Leider ist das selten der Fall. Denken wir an Der Herr der Ringe. Dort gibt es zwar starke (und gut geschriebene) weibliche Figuren. Galadriel, Arwen, Eowyn – doch diese Figuren reden nie miteinander und auch nicht mit anderen Frauen. Wenn sie es täten, würden sie wahrscheinlich über Aragorn, Frodo oder Sauron reden.

Ist Der Herr der Ringe deshalb ein schlechter Film? Nein. Ist es eine moralisch fragwürdige Geschichte? Nein. Sollte Tolkien nachträglich gecancelt werden? Gewiss nicht. Der Bechdel-Test funktioniert nicht auf der Ebene des einzelnen Films oder Buchs. Es gibt Geschichten, in denen nur eine einzige Frau vorkommt, diese aber die Hauptfigur ist – laut Bechdel-Test würde eine solche Story durchfallen. Und wenn man nun mal eine Geschichte über die Rekrutenausbildung im Japan zur Zeit des Kaiserreichs schreibt, werden in der Kaserne keine Frauen zugegen sein.

Aber auf Makroebene ergibt der Bechdel-Test durchaus Sinn. Hier zeigt er an, wie wenig Geschichten erzählt werden, in denen die Perspektive von Frauen relevant ist. Wenn 15 von 20 oscargekrönten Filmen durchfallen, könnte man im 21. Jahrhundert schon mal die Frage stellen, wieso eigentlich.

Für dich spielt der Bechdel-Test beim Schreiben einer weiblichen Figur oder deiner Geschichte an sich also nur insofern eine Rolle, als du mit ihm hinterfragen kannst, ob du unbewusst alten Vorstellungen gefolgt bist oder eine gewisse Vermeidungstaktik fährst, wenn es um weibliche Figuren geht. Wichtiger für die einzelne Geschichte ist der sogenannte Bauer-Test (hehe).

2. Der Bauer-Test

Um den Bauer-Test zu bestehen, muss deine Geschichte folgende Frage mit einem herzhaften Nein beantworten: Gerät dein Held im Laufe der Geschichte mit einer ihm nahestehenden weiblichen Person in Konflikt, die in der Folge ein Hindernis für das Erreichen seines Ziels darstellt? Ich hoffe nicht. Denn falls doch: Klischeealarm. Und Gähn. Und vermutlich auch: Sexismus.

Wie du als aufmerksamer Leser meines Blogs sicher weißt, hat Moral beim Schreiben für mich nichts verloren. Aber der Bauer-Test hat durchaus moralische Relevanz. Warum zur Hölle können sich Autoren die Frau, Mutter oder Tochter des Helden nur als emotionale, moralisch sensible Mahnerin und Nörglerin vorstellen, die die Probleme des Helden verschärft? Snowden, Breaking Bad (Skylar White), Sicario (hier gibt es keine emotionale Verbindung, aber natürlich ist die moralische Instanz eine Frau), Werk ohne Autor, The Mule, Batman (alle) – man muss nicht einmal ins 20. Jahrhundert ins zurückreisen, um dauernd mit dieser Beziehung zwischen Held und weiblicher Figur konfrontiert zu werden. Sind Frauen für uns immer noch Brutstätte der Hysterie? Verhinderer männlicher Größe?

Doch lassen wir die Moral beiseite. Es macht nicht einmal Spaß! Ab einem gewissen Punkt wurde jede Szene mit Skylar White nervtötend (grandios gespielt von Anna Gunn). Streicht man Emily Blunts Figur aus Sicario ändert das nichts an der Geschichte. Kein einziges Mal tut sie etwas von Belang. Sie versucht, mahnt, will eingreifen, aber wird nur zur Seite geschoben. Bis man selbst als Zuschauer denkt: Genug von dem Moralgesülze, lasst uns Kartellleute killen.

Der Bauer-Test ist also auch auf der Mikroebene relevant und damit für dich als Autorin. Denn er bewahrt dich vor einem der ältesten und langweiligsten Klischees des Storytellings. Mach eine ihm nahestehende Frau nicht zum Hindernis deines Helden. Lass vor allem ihre emotionalen Bedürfnisse nicht zu seinem Problem werden.

Wie immer gilt: Es gibt Ausnahmen. Schreibst du ein Drama über eine Beziehung zwischen Drogensüchtigen, sind sich die beiden natürlich gegenseitig ein Hindernis. Aber auch dann: Lass nicht die Frau das Hindernis sein. Lass die mangelnde Einsicht der beiden, dass ihre Beziehung sie daran hindert, clean zu werden, das Hindernis sein. Kurzum: Gib dir Mühe. Sei kein fauler Autor. Davon gibt es genug.

3. Das Geheimnis, um eine grandiose weibliche Figur zu schreiben

Nun aber zum versprochenen Geheimnis. Hast du es einmal verstanden, wirst du nie wieder Schwierigkeiten haben. Also: Wie schreibt man eine grandiose weibliche Figur?

In dem man es nicht tut.

Schreibe eine Figur. Entscheide anschließend, welches Geschlecht sie haben soll.

Legst du zuerst das Geschlecht fest, wirst du Klischees und Vorurteilen in die Falle gehen. Und warum sollte man sich festlegen? Weil der Held auf jeden Fall heterosexuell ist? Weil man unbedingt eine weibliche Figur braucht oder noch eine (siehe Bechdel-Test)? Das ist alles Unsinn. Schreib grandiose Figuren. Mit Verletzungen, beispiellosen Charaktereinführungen, die alle etwas riskieren. Dann wirst du währenddessen auf Eigenschaften treffen, die mit dem einen oder dem anderen Geschlecht mehr Sinn ergeben oder reizvoller sind. Aber setz dich niemals an den Schreibtisch, um einen weiblichen Charakter an sich zu schreiben.

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Eine Liebesszene schreiben

Delikate Details, Körperbeschreibungen, Fantasien – in einer literarischen Liebesszene werden Grenzen gesprengt. Dafür ist Literatur ja auch da: Das Leben heranzoomen, ein anderes imaginieren. Doch als Autor lauern gerade hier etliche Fallstricke! Deshalb habe ich in diesem Artikel die wichtigsten Tipps für eine gelungene Liebesszene zusammengetragen.

1. Der Unterschied zwischen Porno und Erotik

Schauwerte sind nichts ohne Kontext. Versteh mich nicht falsch: Natürlich fasziniert mich der Anblick Stonehenges. Aber doch nicht, weil da Steine aufeinander stehen. Sondern weil absurd große Steine von absurd kleinen Menschen vor absurd vielen Jahren dorthin verfrachtet wurden. Und es irgendetwas bedeutet. Menschen, deren Realität nichts mit der unseren gemein hatte, hatten einen Grund für diese Plackerei. Der vielleicht doch etwas über uns verrät. Über die conditio humana. Wow.

Schauwerte plus Kontext sind magisch. Im Grunde gilt für Liebesszenen also dasselbe wie für alles andere: Bedeutung hebt die Dinge vom grauen Hintergrund ab. So entsteht Erotik. Oder ein guter Actionfilm, der ja auch auf Schauwerten basieren zu scheint. Und das tut er. Aber ein wirklich guter Actionfilm erzählt nicht von Explosionen und Verfolgungsjagden. Er erzählt von einem Helden, von einem Motiv, handelt im Subtext von einer Frage. The Matrix war ein visueller Triumph. Aber gesprochen hat man über die Geschichte, die Prämisse. Zum Vergleich: Jurassic World 2 hat Dinos – und trotzdem spricht niemand darüber.

Schreibst du eine Liebesszene, musst du also Kontext herstellen und dem Gezeigten Bedeutung verleihen. Du kannst nicht einfach von Körperteilen sprechen. Bedeutung liegt in deinen Figuren, im Plot und in dem Motiv.

Schreibst du also einen Roman über einen an Alzheimer erkrankten Mann, dann lass ihn Sex haben mit irgendjemandem, aber beschreibe, wie er sich nur an seine verstorbene Frau erinnert und glaubt, noch einmal mit ihr zu schlafen. Schreibst du einen wilden Actionkracher, lass deinen Helden schwer verletzt von seiner Angebeteten pflegen, lass sie die Führung übernehmen, ihm ein Geschenk machen, in der Befürchtung, er müsse sterben.

2. Vergiss deine Figuren nicht

Wie beschreibt man aber einen Liebesakt möglichst gekonnt? Die oberste Regel lautet: Folge deinen Figuren. Ein schüchterner Junge, der sich gegen seinen übermächtigen Vater nicht behaupten kann, wird im Bett nicht zu einem selbstbewussten Casanova. Und ein Kriegsheld wird sich von einem zusammenstürzenden Bett nicht aus der Ruhe bringen lassen.

Oder gerade er? Unsere Figuren schreiben uns nicht vor, was wir zu schreiben haben. Aber sie definieren Möglichkeiten. Ihnen musst du folgen. Damit triffst du Entscheidungen: Ist dein Kriegsheld traumatisiert? Dann wird er eine Panikattacke kriegen, mitten im Akt, als das Bett zusammenbricht. Wie damals, in der Kaserne, als die Bomben fielen.

Hast du deinen schüchternen Jungen als übergewichtigen Fleischklops beschrieben? Dann stelle etwas mit seinem Fleisch an. Lass es wallen. Oder seine Geliebte umschließen wie Wackelpudding, den sie als kleines Kind liebte.

Hat deine Figur einen Mangel, eine alte Narbe (das sollte sie)? Wie wirkt sich das auf ihren Sex aus? Ist sie trotz dieses Mangels in irgendetwas verdammt gut, etwa wie die Protagonisten in Better Call Saul? Lässt sich diese Fähigkeit auf interessante Weise auf den Sex übertragen? Oder zeigt sich in einer Sexszene erst der Wandel deines Charakters: Der schüchterne Junge packt seine Geliebte, wirft sie aufs Bett und macht Liebe mit ihr, nachdem er seinen Mobbern endlich die Grenzen aufgezeigt hat (Achtung: Klischee).

Du schreibst nicht einfach eine Liebesszene. Du schreibst eine Liebesszene zwischen Figur A und Figur B (und womöglich Figur C-Z). Vergiss das nie.

3. Eine Liebesszene hat einen Ort

So wichtig die Figuren auch sind, solltest du als Autorin nicht vergessen, dass sie sich nicht im Vakuum lieben. Um sie herum passieren Dinge. Stehen Gegenstände. Laufen andere Menschen vorbei. Mach dir das zu nutze. Bette deine Liebenden im wahrsten Sinne des Wortes ein in ihrem Ort.

Oder tue das Gegenteil: Die Bomben fallen auf die belagerte Stadt, die Seiten sind voll von ihrem Lärm. Dann die Liebesszene – und Stille. Das heißt aber nicht, dass die Bomben plötzlich fort sind. Ihr Schweigen verstärkt die Liebesszene nur noch.

Natürlich gilt Punkt 2 auch beim Setting: Was du beschreibst, entspricht der Wahrnehmung deiner Protagonisten. Fallen deiner Figur die Narben an seinen Beinen auf? Gut. Aber auch die Staubkörner auf den Dielen? Das sagt entweder etwas über sie (Charakterisierung) oder ist Ausdruck ihres bereits bekannten Charakters.

4. Schreibe, was du kennst

Du kennst den alten Spruch: Write what you know. Nun, in Liebesdingen wissen wir beileibe nicht alles und können uns auch nicht alles anlesen. Irgendwie bleibt heterosexueller Sex für einen Homosexuellen etwas Abstraktes. Oder SM für den Blümchensex-Liebhaber. Das heißt aber nicht, dass du nicht darüber schreiben kannst.

Wichtiger als Praktiken sind die Gefühle und das Verlangen. Darum dreht sich jede gute Liebesszene. Um das, was sich zwischen den Figuren abspielt: in ihren Köpfen und Herzen. Wenn du also eine tragische Episode schreibst, etwa die letzte Liebesnacht vor der notwendigen Trennung, dann erforsche deine Gefühle. Und erinnere dich, wie es sich angefühlt hat, damals. Würge es hoch. Kotz es aus. Bring es etwas in Form, du weißt schon: Figuren, Narben, Ort, Bedeutung. Et voilà: Deine SM-Szene wird überzeugend sein, obwohl dein krassestes sexuelles Abenteuer die Verwechslung der Damen- mit der Herrentoilette war.

5. Schreibe deine Liebesszenen, als seien deine Eltern bereits tot

Wenn wir schreiben, offenbaren wir uns. Das heißt jedoch nicht, dass wir die Meinungen und Vorlieben unserer Protagonisten teilen. Außenstehende, Freunde, Familie, Feuilleton verwechseln das dennoch gerne. Das kann uns hemmen.

Allein schon „Pimmel“ zu schreiben, mag manchen von uns peinlich sein. Pimmel, Pimmel, Pimmel.

Philip Roth gab dem jungen Ian McEwan daher einmal den Rat, so zu schreiben, als seien seine Eltern bereits tot. Dadurch erreichst du drei Dinge. Erstens verringert es die Scham, die du beim Schreiben verspürst (nicht nur bei Liebesszenen). Zweitens befreit es dich von dem schädlichen Impuls, gefallen zu wollen. Und drittens kannst du dein Manuskript anhand dieses Gedankens selbst lektorieren. Hast du diesen Satz so geschrieben, weil du dich vor den Reaktionen deiner Eltern fürchtetest? Hast du deshalb etwas weggelassen?

Heutzutage muss man diesen Satz vielleicht erweitern. Schreibe so, als sei Twitter nicht existent. Als gäbe es keine Empörungsmaschinerie (wie etwa im Fall von Werk ohne Autor). Moral ist eine gute Sache, meistens. Als Autorin darf sie dich nicht interessieren.

Der Inhalt deiner Texte ist ohnehin per sé amoralisch. Was dein Protagonist tut, ist weder gut noch schlecht in einem realen Sinn. Es passiert ja nicht wirklich. Stirbt deine Heldin, weil sie an das Gute glaubt? Weil sie ihre Liebe frei auslebt? Okay, so what? Das bedeutet nicht, dass du der Meinung bist, man solle das nicht tun. Wer dir etwas anderes erzählt, sollte eine besondere Behandlung deinerseits erfahren: Schreibe, als sei auch er bereits tot.

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Der Inciting Incident

Star Wars erzählt die Geschichte von Luke Skywalker, der ein Jedi-Ritter werden will und sich der Rebellion anschließt, um das böse Imperium zu bekämpfen. Nicht wahr? Ja, aber ganz so einfach ist es nicht. Luke müssen erst einige Dinge widerfahren, bevor sich diese Geschichte entspinnt. Dazu gehört vor allem das auslösende Ereignis seiner Story, der sogenannte Inciting Incident (auch auslösendes Moment genannt).

1. Definition des Inciting Incident

Der Inciting Incident setzt die Geschichte in Gang. Um dies richtig zu verstehen, muss die Geschichte vom Medium unterschieden werden. Ein Buch beginnt auf Seite 1, ein Film mit dem ersten Bild, ein Drehbuch mit der ersten Zeile. Aber die Geschichte, die all diese Medien erzählen, beginnt streng genommen erst ein wenig später. Nämlich mit dem Inciting Incident. Bis dahin ist alles nur Vorgeplänkel, also Exposition. Der Protagonist wird vorgestellt, sein Umfeld, die Gegebenheiten seiner Welt und Zeit, womöglich auch schon der Antagonist. Aber all diese Dinge bilden noch keine Geschichte.

2. Unterschied zur Exposition

Denn dafür fehlen Ziele, Hindernisse, ein Konflikt. Dass Frodo im Auenland lebt und Bilbo seinen Geburtstag feiert, ist eine schöne Sache. Sogar Gandalf ist gekommen. Wir haben auch erfahren, dass der dunkle Herrscher Sauron zu Kräften kommt. Doch noch gibt es nichts zu tun. Nur vage Bedrohungen, einige Fragen, Schauwerte, Witz und etwas Grusel. Dann steckt sich Bilbo einen Zauberring an und wird unsichtbar! Das ist der Inciting Incident: Es gibt einen seltsamen Ring in Bilbos Besitz! Und dank der historischen Rückblende zu Beginn weiß der Zuschauer bereits: Es ist der eine Ring! Gandalf kommt in der Folge ins Grübeln, ahnt Böses und begibt sich auf Recherche. Nazguls überqueren derweil die Grenze des Auenlands.

3. Inciting Incident und der Protagonist

Wenn ein Ereignis in deiner Geschichte nichts mit dem Protagonisten zu tun hat, ist es auch nicht der Inciting Incident. Denn das auslösende Moment setzt genau diese eine Geschichte in Gang – keine andere. Und hat daher deinen Helden zum Ziel. Bei Der Herr der Ringe wird diese Regel etwas subtiler befolgt: Denn wenn Bilbo den Ring auf seinen Finger steckt und verschwindet, verrät das etwas über die Macht des Ringes und legt Gandalfs Stirn in Falten. Aber es hat noch keine direkten Auswirkungen auf Frodo. Indirekt allerdings sehr wohl: Es ist immerhin sein Onkel, Bilbo wird ihm eines Tages all seinen Besitz vermachen, also auch den Ring. Und wenn es der eine Ring ist, dann ist Frodo ebenso bedroht wie sein gesamtes geliebtes Auenland.

Zu unterscheiden ist der Inciting Incident vom ersten Plot Point. Dieser spitzt die Lage überraschend zu und beendet den ersten Akt: es geht nun ans Handeln. Das leistet der Inciting Incident noch nicht. Erst als Gandalf mehr über den Ring erfahren hat, tritt er an Frodo heran. Dieser lehnt zunächst ab, will den Ring Gandalf überlassen. Doch selbst für Gandalf wäre die Versuchung zu groß. Im Auenland kann der Ring allerdings nicht bleiben, der Feind ist auf dem Weg. Und so kommt es zu einer Reaktion des Protagonisten auf den Inciting Incident: Frodo akzeptiert sein Schicksal. Es gibt sogar ein einzelnes Bild, das diese Reaktion repräsentiert: Frodos Faust umschließt den Ring.

Hier zeigt sich die Sogwirkung des Inciting Incident auf deinen Protagonisten: Er will früher oder später X erreichen. Aber nicht unmittelbar aufgrund des Inciting Incidents. Gleiches gilt für Luke Skywalker: Die Videobotschaft von Prinzessin Leai ist der Inciting Incident. Aber sie sorgt nicht unmittelbar dafür, dass Luke zu den Sternen aufbricht.

4. Auslösendes Ereignis und der Rest der Story

Der Inciting Incident durchbricht dabei eine Harmonie und verlangt dem Protagonisten alles ab, um diese (wenngleich veränderte) Harmonie wiederherzustellen. Natürlich ist Harmonie, vor allem die herrschende, nicht als Lilalauneland zu verstehen. Gut, bei Frodo schon. Es ist Der Herr der Ringe, also gibt es das absolut Gute und das absolut Böse. Ansonsten aber nicht.

Was ist mit Luke Skywalker? Er lebt ein karges, bedeutungsloses Leben in der Wüste und träumt von großen Abenteuern, die er nie erleben wird. Aber er kommt zurecht. Auftritt R2-D2, samt Videobotschaft. Plötzlich ist der junge Farmer mit dem großen Krieg in der Galaxis verknüpft. Und jemand braucht seine Hilfe. Er kann nicht zurück zu seinem Farmleben, nicht ohne seine Träume und die Rebellion zu verraten. Diese Harmonie ist dahin.

Mit dem Inciting Incident betreteten zwei weitere Storybestandteile die Bühne. Zum einen wird die Hauptfrage der Handlung aufgeworfen: Wird Luke Leia retten? Was hat es mit dem Ring auf sich? Diese Frage kann im weiteren Verlauf natürlich noch verfeinert werden. Noch ist Frodo nicht der Ringträger, denn noch ist nicht bekannt, dass der Ring im Auenland nicht sicher ist. Und das „sicher“ bedeutet, den Ring zu zerstören, wird sich auch erst in Bruchtal herausstellen.

Zum anderen wird eine obligatorische Szene¹ vorweggenommen. Luke wird gegen das Imperium kämpfen, was, wie wir schon bald erfahren werden, bedeutet, gegen den Todesstern zu kämpfen. Irgendjemand wird sich des Rings annehmen müssen, ihn vor Sauron in Sicherheit bringen.

Der perfekte Zeitpunkt für das auslösende Ereignis ergibt sich aus dem bisher Gesagten. Nur in Ausnahmefällen beginnt eine Geschichte mit dem auslösenden Moment. Denn das kostet die Exposition. Fast nie dauert es bis zur Hälfte der Story, ehe er eintritt. Denn das garantiert Langeweile. Irgendwo im ersten Viertel der Geschichte ist er bestens untergebracht.

In der folgenden Grafik findest du einige weitere Beispiele:

Inciting Incidents Beispiele

5. Dein eigener Inciting Incident

All das mag auf den ersten Blick verwirrend sein. Du wolltest doch einfach deine Geschichte beginnen und jetzt musst du dich mit Fremdwörtern herumschlagen und sollst irgendwelche Regeln befolgen. Doch tatsächlich ist der Inciting Incident eines der wichtigsten dramatischen Elemente überhaupt. Mach den Selbstest! Erzähle deiner Schwester, deinem Freund, die aufregendste Geschichte, die du selbst erlebt hast (möglichst knapp). Du wirst unter anderem von einem auslösenden Ereignis erzählen, das garantierte ich dir. Oder deine Schwester wird dich anschauen und fragen: Ja, aber wieso?

Deshalb kommt auch in jeder guten Log Line ein Inciting Incident vor. Selbst wissenschaftliche Texte haben streng genommen ein auslösendes Ereignis, nämlich ein Problem, dass eine darauf aufbauende Fragestellung motiviert.

Also brich alle Regeln, die du kennst. Aber vergiss nicht den Inciting Incident.

[1] Robert McKee (1997). Story – Substance, Structure, Style and the Principles of Screenwriting.

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Beginne mit einer Verletzung

Jede große und kleine Geschichte ist im Kern auf eine Verletzung des Helden zurückzuführen.

Der Drachentöter Siegfried! Die Ferse Achilles!

Große Helden haben eine Schwäche, einen Mangel. Dieser Mangel ist die Folge einer Verletzung: Achilles ist das Kind einer Göttin und eines Sterblichen. Deshalb taucht ihn seine Mutter in den Styx, ihn von der Sterblichkeit zu befreien. Hält ihn dabei an der Ferse fest.

Aber in der Verletzung liegt meist auch eine Chance: zu wachsen, zu reifen, oder ihren Effekt gar als Waffe einzusetzen (Siegfried ist quasi unverwundbar).

Eine gelungene Story wird daher eine solche Verletzung beinhalten und daraus den Charakter ihres Helden bestimmen: Nemos Vater hat seine Frau und all seine Kinder verloren, 999. Das ist seine Verletzung. Deshalb ist er ein Helikopter-Vater (das ist der Effekt). Deshalb wagt sich Nemo zu weit raus und wird entführt (da beginnt der Plot).

Wäre er einfach nur ein Helikopter-Vater – wen würde das interessieren? Aber die Verletzung erklärt sein Verhalten und macht die Sache für uns Zuschauer relevant.

Ein Beispiel:

Luke Skywalker träumt von großen Abenteuern, davon Pilot zu werden, aber muss mit seinen Zieheltern leben und auf deren Farm nach dem Rechten sehen (denkt er). Was fehlt ihm? Glaube an sich selbst! An Möglichkeiten, die es gibt, die es für ihn gibt.
Wir wissen nicht genau, was der Grund für diesen Mangel ist. Das ist nicht immer wichtig, oft genügen Andeutungen, aber irgendetwas hat ihm diese Überzeugung genommen.

Er trifft schließlich Obi-Wan, seine Zieheltern werden ermordet und das Abenteuer ruft nach ihm. So brutal das klingt: Seine Zieheltern mussten sterben, denn andernfalls wäre er dem Ruf des Abenteuers nie gefolgt. Zu störrisch, zu verbohrt, zu ungläubig ist er.
Dann erfährt er von seinem Vater, lernt erste Dinge bezüglich der Macht, bleibt aber recht distanziert dazu.
Und was passiert, als er im großen Finale den Todesstern zerstört? Er verzichtet auf den Computer, mit dem alle Piloten vor ihm gescheitert sind, und vertraut auf die Macht. Boom!

Die Macht des Star-Wars-Universums ist am Ende Lukes eigener, im Vergleich winziger Charakterbogen ins Große projiziert: Luke fehlt der Glaube an sich und die Welt. Allerdings gibt es etwas in ihm, mit dem er alle seine Träume von Abenteuern und Bedeutung erfüllen kann. Der Haken: Um es einzusetzen, muss er, naja, daran glauben und von sich überzeugt sein.

Was ist die dunkle Seite der Macht? Nicht daran glauben, nicht an sich, an das Gute, und daher den einfachen, schnellen Weg wählen. Letztlich lässt sich also die gesamte Story von Krieg der Sterne auf die Verletzung, und den daraus resultierenden Mangel des Helden Luke Skywalker zurückführen – das ist grandios geplottet.

Wenn eine Geschichte nicht recht funktioniert, frage dich daher, ob folgendes darin enthalten ist: Ein Held, der eine Verletzung hat, die ihn von seinem Ziel abhält, weil er sich aufgrund dieser Verletzung so und so verhält, der diese Verletzung aber heilen kann im Laufe des Abenteuers, und dann, deshalb!, auch sein Ziel erreicht.

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Charaktereinführung: Wie Figuren überlebensgroß werden

Die Charaktereinführung entscheidet darüber, wie der Leser auf die entsprechende Figur reagiert: der erste Eindruck ist ein bleibender. Umso wichtiger ist es, deine Charaktere so einzuführen, dass sie die von dir beabsichtigte Wirkung erzielen und nicht auf Seite 100 plötzlich zur Bedrohung werden, obwohl du sie drei Kapitel lang als liebevolle Familienväter vorgestellt hast, die keiner Mücke etwas antun könnten.

Je nach Rolle der Figur verfolgt die Charaktereinführung unterschiedliche Ziele. Bei einem klassischen Antagonisten sind die wesentlichen Funktionen der Figur einleuchtend: Er sollte auf irgendeine Weise bedrohlich wirken, ein Überzeugungstäter sein und die Schwäche deines Protagonisten auszunutzen wissen. All das kannst du binnen weniger Seiten etablieren. Aber wie macht man das?

Beispiel 1: Captain Hook

Er fragte, ob gerade viele Piraten auf der Insel wären, und Peter sagte, er habe noch nie soviele gekannt.
“Wer ist gerade Kapitän?”
“Hook,” antwortete Peter, und sein Gesicht wurde sehr ernst als er dieses verhasste Wort aussprach.
“Ohje! Hook?”
“Ay.”
Dann fing Michael tatsächlich an zu weinen, und selbst John konnte nur in Schlucklauten sprechen, denn sie kannten Hooks Ruf.
“Er war Blackbarts Bootsmann” flüsterte John heiser. “Er ist der schlimmste von allen. Der einzige Mann den Long John Silver fürchtete.”
“Das ist er”, sagte Peter.
“Wie ist er so? Ist er groß?”
“Nicht so groß wie er war.”
“Wie meinst du das?”
“Ich habe ein Stück von ihm abgeschnitten.”
“Du!”
“Ja, ich”, sagte Peter scharf.
“Ich wollte nicht respektlos sein.”
“Oh, schon gut.”
“Aber, welches Stück?”
“Seine rechte Hand.”
“Dann kann er nicht mehr kämpfen?”
“Oh, das kann er!”
“Linkshänder?”
“Er hat einen eisernen Haken statt der rechten Hand, und damit haut er zu!”
“Haut!”
“Sag mal, John,” sagte Peter.
“Ja.”
“Sag, ‚Ay, ay, sir.’”
“Ay, ay, sir.”
“Es gibt eine Sache”, fuhrt Peter fort, “die mir jeder Junge, der unter mir dient versprechen muss, also auch du.”
John erblasste.
“Und zwar das: Wenn wir Hook in einem offenen Kampf treffen, musst du ihn mir überlassen.”

J. M. Barrie, Peter Pan (eigene Übersetzung)

Peter Pans Erzfeind Captain Hook wird in dieser kurzen Szene eingeführt, ohne auf der Bildfläche zu erscheinen. Der kleine John wirkt hierbei als Verstärker der von Peter berichteten Einzelheiten zu Hook: er erschrickt, erblasst, wiederholt einzelne Wörter. So werden die Informationen emotionalisiert und Hook erscheint bedrohlicher als ohnehin schon – schließlich fürchtete ihn sogar Long John Silver.

Bereits die allererste Information – wer ist Kapitän? – wird auf diese Weise aufgeladen. Die Kinder reagieren allein auf diesen Namen mit Entsetzen, “sie kannten Hooks Ruf“. Als Leser will man zwangsläufig mehr erfahren über diesen Piraten und entwickelt gleichzeitig selbst eine gewisse Furcht: Hoffentlich kann Pan diesem Schurken das Handwerk legen.

Aber ein Schurke ist nichts ohne den Protagonisten und umgekehrt. Deshalb hat der Autor J. M. Barrie auch an die Beziehung der beiden gedacht. Und wie hätte er diese eindrucksvoller bebildern können als durch den Ausruf Peters: “Ich habe ein Stück von ihm abgeschnitten.“

Das etabliert einerseits eine enge, persönliche Beziehung zwischen den beiden, fast wie zwischen Captain Ahab und Moby Dick. Hier geht es nicht nur um Gut gegen Böse. Die Angelegenheit ist privat. Andererseits ist sonnenklar: dieser Kampf geht bis aufs Blut.

Dieser Eindruck wird durch die geniale Schlusshandlung der Szene abermals verstärkt: John muss Peter versprechen, Hook in jedem Fall Peter zu überlassen, wenn es zum Kampf kommt. Das wiederum ist selbst ein Versprechen: Dieser Kampf wird kommen.

Eine gelungene Charaktereinführung präsentiert also den Charakter selbst, die Beziehung des Charakters zum Rest der Geschichte und ein Versprechen, d. h. ein Spannungselement. All dies geschieht natürlich via Informationen, die dem Leser übermittelt werden. Aber niemals werden einfach nur Informationen aneinandergereiht und erst recht nicht alle erdenklichen. Im zitierten Beispiel weiß der Leser bisher nicht besonders viel über Hook: Er ist Kapitän, hat einen Haken als Hand, sein Ruf eilt ihm voraus und er und Peter sind Erzfeinde. Dass er schwarze Locken hat, einen treuen Freund Smie und dass er die Kinder entführen will – davon ahnt der Leser nichts.

Beispiel 2: Alice im Wunderland

Alice was beginning to get very tired of sitting by her sister on the bank, and of having nothing to do: once or twice she had peeped into the book her sister was reading, but it had no pictures or conversations in it, “and what is the use of a book,” thought Alice, “without pictures or conversations ?”

Lewis Caroll, Alice im Wunderland

Mit diesem Absatz beginnt Lewis Caroll seine Geschichte über Alice und ihre Abenteuer im Wunderland. Gleichzeitig beginnt damit auch die Charaktereinführung seiner Protagonistin Alice. Der Protagonist sollte in der Regel sympathisch sein, eine Schwäche sein Eigen nennen und einen Wunsch haben. All das etabliert Caroll in diesem kleinen Absatz: Der Leser kann nachempfinden, wie langweilig so ein Buch ohne Bilder sein muss, so ging es ihm auch oft als er klein war. Zudem ist Alice herzhaft unbedarft. Allerdings könnte das auch eine verhängnisvolle Schwäche sein. Und was machen kleine Kinder, die der Langeweile entkommen möchten? Nun, mitunter laufen sie dem nächstbesten Kaninchen hinterher.

Ein paar Absätze und Meter unter der Erde weiter kommt es zum ersten Pay-Off der gezeigten Charaktereinführung:

[T]his time she founda little bottle on it […] and tied round the neck of the bottle was a paper label with the words “DRINK ME” beautifully printed on it in large letters. It was all very well to say “Drink me,” but the wise little Alice was not going to do that in a hurry: “no, I’ll look first,” she said, “and see whether it ’s marked ‘poison’ or not.”

Lewis Caroll, Alice im Wunderland

Alice‘ Unbedarftheit verführt sie dazu, das Fläschchen auszutrinken – gleichzeitig bleibt sie dabei herzhaft sympathisch und ihr Ziel, die Langeweile loszuwerden, rückt näher. Caroll beweist hierbei sein komödiantisches Talent (und nicht nur hier): das Wörtchen „wise“ bereitetet den Leser darauf vor, dass Alice doch wohl nicht so dumm sein wird, diese Tinktur zu trinken. Allerdings entpuppt sich Alice‘ Weisheit als blindes Vertrauen in den Hersteller des Tranks – urkomisch. Caroll folgt dabei dem Dreischritt der Komik – Erwartung, Enttäuschung, Gelächter – und heftet einen weiteren Sympathiepunkt an seine Protagonistin.

Beispielhafte Charaktereinführung:

Für die Einführung deiner Figuren sind also nicht viele Worte nötig. Es kommt auf die Effektivität der wenigen Worte an, die du verwendest. Effektivität wiederum ist das Produkt aus Relevanz und Charme. Was bedeutet das jenseits des Genius von Jahrhundertautoren? Sehen wir uns ein fiktives Beispiel an:

Max malte gerne mit Wachsmalstiften, am liebsten Tiere. Haare malte er als kleine Dreiecke. Füße als Klumpen. Zähne sahen wie Haare aus, nur ragten sie aus den Mäulern. Gegen 13 Uhr war der Kindergarten aus. Schade.

fiktives Beispiel

Hier sind bereits einige Motive angelegt: Max‘ mangelnde Malkunst versprüht etwas von dem Charme, der von Alice‘ Unbedarftheit ausgeht. Offenbar geht er in den Kindergarten. Er mag den Kindergarten – aber all das genügt nicht, um den Charakter wirklich effektiv einzuführen. Die Relevanz der Informationen bleibt zu diffus und der Charme könnte noch deutlicher hervortreten:

Haare malte Max als kleine Dreiecke. Füße als Klumpen. Deshalb besuchten alle Tiere in Max‘ Wachsmalzoo den Orthopäden, sogar die zierlichen Antilopen. Zähne sahen wie Haare aus, nur im Mund drin. Um 13 Uhr stand Max‘ Mutter vor dem Kindergarten. Die hatte Haare auf den Zähnen.

fiktives Beispiel

Weit entfernt von Perfektion gelingt dieser zweiten Version etwas entscheidendes für eine gelungene Charaktereinführung: die vermittelten Informationen (Max kann nicht malen, geht in den Kindergarten, mag den Kindergarten) werden indirekt vermittelt, also mit Charme. Sollte später in der Geschichte auf Wachsmalstifte, 13 Uhr oder Haare und Zähne und deren Verwandschaft zurückgegriffen werden, dann wird das elegant anmuten, nicht konstruiert. Denn all diese Dinge wurden beiläufig mitgeteilt, als Teil eines größeren Bildes, bisweilen gar als erster Pay-Off (das mit den Haaren auf den Zähnen).

Außerdem mag der Leser Max. Wir mögen das Unperfekte und wir mögen nachvollziehbare Wünsche. Über beides verfügt Max. Das wissen wir bereits nach einem Absatz. So hat unbemerkt auch die Relevanz Einzug gehalten: Max will lieber nicht nach draußen zu seiner Mutter, er will weiter Tiere mit Dreiecken auf dem Kopf malen. Vielleicht ist das Verhältnis der beiden schwierig. Und hat Max zuhause etwa keine Wachsmalstifte?

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Allgemeine Schreibtipps Ein sehr guter Text Prosa

Figurenentwicklung: Alle Figuren müssen etwas riskieren

Figuren verfolgen Ziele. Luke Skywalker will den Todesstern zerstören, Will Smith will die Welt retten, Sigourney Weaver will dem Alien entkommen. Aber ein Ziel allein macht noch keinen Plot. Wäre der Todesstern unbewacht und unbewaffnet, würde Luke einfach hinfliegen, seine Raketen abfeuern und niemand hätte uns je davon erzählt. Für eine gelungene Figurenentwicklung ist es daher unerlässlich, das Verfolgen des Ziels mit einem Risiko aufzuladen. Luke droht im Kampf um den Todesstern der Tod und damit das Scheitern der Rebellion – gleichbedeutend mit ewiger imperialischer Tyrannei. Versagt Luke, lässt er seine Freunde im Stich, die auf ihn und die Macht zählen. Sigourney Weaver hat es da einfacher: Sie riskiert bloß ihr Leben, ganz genregetreu.

Die große Kunst der Figurenentwicklung ist es jedoch, sich dabei nicht nur auf den Protagonisten zu konzentrieren. Für jede deiner Figuren sollte etwas auf dem Spiel stehen. Auch für die Bösen unter ihnen. Sie alle müssen ihre Haut zu Markte tragen.

Ein formvollendetes Beispiel für diesen Teil der Figurenentwicklung liefert das 2016 mit dem Oscar für den besten Film ausgezeichnete Journalistendrama Spotlight (leichte Spoiler im weiteren Verlauf).

Die investigative Abteilung des Boston Globe besteht aus vier Journalisten: Michael Keaton als deren Chef, Mark Ruffalo als ehrgeiziger Schreiberling, Rachel McAdams als einfühlsame Reporterin und Brian d’Arcy James als Mann für die Recherche. Alle vier Figuren verfolgen dasselbe Ziel. Sie wollen den Missbrauchskandal aufdecken, der die katholischen Priester in Boston zu betreffen scheint. Und alle vier Figuren nehmen dabei ganz persönliche Risiken in Kauf.

Persönliches Risiko > Allgemeines Risiko

Keatons Figur muss sich von alten Freunden abwenden und wird als Verantwortlicher seitens der Kirche unter Druck gesetzt. Ruffalos Charakter stammt selbst aus dem Milieu, in dem die Priester auf Beutefang gingen und riskiert die eigene Integrität. McAdams Figur hat den von ihr aufgespürten Opfern versprochen, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Und d’Arcy James Figur wohnt mit seinen Kindern gegenüber einem Haus für auffällig gewordene Priester. Über allen schwebt zudem der drohende Jobverlust. Die Verleger haben einen neuen Herausgeber eingesetzt, der alles auf den Prüfstand stellen soll. Auch den Luxus, sich eine eigene Investigativ-Abteilung zu leisten.

Die Figurenentwicklung in Spotlight ist sogar so formvollendet, dass eben jener neue Herausgeber (Liev Schreiber) als einziger Charakter kein Risiko trägt. Er stammt nicht aus Boston, ist ohnehin gut situiert und zudem Jude. Oder birgt gerade das ein Risiko für ihn?

Nimmt man den Figuren ihre persönlichen Einsätze, erhält man austauschbare Schablonen, die einfach gewinnen wollen, der guten Sache wegen. Aber das reicht nicht, um den Leser zu fesseln. Erst durch den Kniff, alle Figuren mit hohen Einsätzen spielen zu lassen, steht auch in jeder Szene etwas auf dem Spiel. Ruffalo kommt nicht an die geheimen Unterlagen – aber er darf seine Leute nicht im Stich lassen. McAdams muss die Recherchen einstellen – hat aber doch den traumatisierten Opfern ihr Wort gegeben. D’arcy James muss Stillschweigen bewahren – aber in seiner Nachbarschaft leben pädophile Priester.

Auch wissenschaftliche Arbeiten kennen Risiko

In nicht-fiktiven Texten haben wir es zwar selten mit ausgedachten Figuren zu tun, aber selbst hier hilft es, die Risiken der Beteiligten (die Protagonisten eines Artikels, einer Debatte, historische Persönlichkeiten) zu verdeutlichen. Deine Arbeit über Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft kann einfach dessen Ziel darstellen (Was können wir wissen?) und wird damit dem Forschungsinteresse genügen. Wenn es dir aber gelingt, einzufangen, was dabei auf dem Spiel steht (Kann es überhaupt Metaphysik geben? Hat David Hume etwa Recht mit seinem Skeptizismus? Lassen sich Empirismus und Rationalismus miteinander versöhnen?), wird auch der Leser Interesse zeigen. Oft bietet das einen Ansatzpunkt für einen grandiosen ersten Satz deiner Arbeit. Zudem schult es dein kritisches Denken, dir die Frage nach den persönlichen Einsätzen der Beteiligten zu stellen.

Robert McKee verwendet diesen Trick in der Einleitung zu seinem Klassiker Story über das Drehbuschreiben. Er beendet den Abschnitt mit der Erläuterung seiner Motivation, dieses Buch zu schreiben: Sein unstillbarer Hunger nach großartigen Filmen. Wenn es ihm gelingt, sein Wissen an seine Leser zu vermitteln und seine Leser daraus die richtigen Lehren ziehen, wird es weiterhin einzigartige Filme geben. McKee ist also auf einer Mission – und wir als seine Leser sind zu seinen Komplizen geworden. Und etwas steht auf dem Spiel: Wohl und Wehe des Kinos. Spannend.

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