Wendepunkte spielen eine entscheidende Rolle dabei, das Interesse der Leser oder Zuschauer aufrechtzuerhalten und die Handlung einer Geschichte voranzutreiben. Der wichtigste Wendepunkt einer Geschichte ist der erste sogenannte Plot Point. Mit ihm verrätst du deinen Lesern bereits sehr viel über die Qualität deiner Handlung. Denn wer schon den ersten Plot Point handwerklich in den Sand setzt, wird auch am Ende nicht mit einer konsistenten Geschichte oder überraschenden Lösung punkten. In diesem Artikel werden wir das Konzept des Plot Points 1 daher genauer betrachten und ich erkläre dir, wie du diesen wichtigen Wendepunkt in deinen eigenen Geschichten am besten gestalten kannst.
Inhaltsverzeichnis
Was ist der erste Plot Point?
Der erste Plot Point bringt eine grundlegende Veränderung in der Geschichte mit sich und stellt so die Weichen für das weitere Geschehen. Meist ereignet er sich am Ende des ersten Viertels einer Handlung, auch wenn Romanautorinnen hier flexibler sein dürfen. Gab es nach 30 Minuten Film noch keinen ersten Plot Point, schaut man allerdings entweder einen sehr unkonventionellen Streifen oder schaltet ab.
Der erste Plot Point markiert dabei den Übergang vom Einführungsteil der Handlung, also dem ersten Akt, hin zum eigentlichen Konflikt, der im zweiten Akt bearbeitet wird. Dabei sind einige Dinge entscheidend für dessen Funktionalität:
a) der erste Plot Point betrifft immer deinen Protagonisten, nicht irgendwen. Sonst ist dieser Irgendwen dein Protagonist.
b) der erste Plot Point ist ein schnelles, in sich abgeschlossenes Ereignis, kein Prozess: eine Enthüllung, Entdeckung, ein alles verändernder Knall. Eine Entscheidung.
c) der erste Plot Point macht deutlich, wie die weitere Handlung verlaufen wird, und zwar sehr spezifisch: X muss getan werden, um Z zu erreichen.
d) der Protagonist und die Leser/Zuschauer werden vom ersten Plot Point überrascht und sind unter Umständen schockiert. Er ist also unvorhersehbar.
Welche Folgen hat der erste Plot Point?
Infolge des ersten Plot Points ist nicht nur klar, was im weiteren Verlauf der Handlung geschehen wird. Der Protagonist ist nun auch gezwungen zu handeln. Nicht sofort, denn das fällt dem Held womöglich schwer aufgrund seiner Unzulänglichkeiten, aber früher oder später wird ihm nichts anderes übrigbleiben. Er sitzt in der Falle – manchmal buchstäblich, manchmal im übertragenen Sinne.
Damit verbunden ist die Konkretisierung des Ziels – und der negativen Folgen eines möglichen Versagens. Der erste Plot Point macht also auch klar, was auf dem Spiel steht.
Die normale Welt, die du durch die Exposition etabliert hast, ist nach dem ersten Plot Point nicht mehr dieselbe.
Beispiele für erste Plot Points
Okay, das war viel Theorie. Um besser zu verstehen, was ein erster Plot Point sein kann und was nicht, wollen wir uns einige berühmte und fiktive Beispiele ansehen.
Eine Gruppe Wissenschaftler wird eingeladen, um den neuen Vergnügungspark eines Multimilliardärs auf seine Sicherheit zu prüfen. So richtig Lust haben sie nicht. Dort angekommen, entdecken sie, dass dort echte lebende Saurier gehalten werden.
Jurassic Park (1993)
Jurassic Park ist ein Musterbeispiel für hervorragendes Plotting. Zunächst wird die Welt etabliert und die Protagonisten eingeführt. Sie haben auch ein erstes Ziel, nämlich die Sicherheit des Parks zu bestätigen (die Investoren sind aufgrund eines kleinen Zwischenfalls nervös geworden). So richtig motiviert sind sie jedoch nicht. Aber dann stellt ein Ereignis ihre Welt auf den Kopf: Es gibt hier echte Dinos!
Zugegeben, wirklich unvorhersehbar ist das rein inhaltlich nicht – für die Leser und Zuschauer. Für die Protagonisten allerdings sehr wohl. Und die Szene, in der zum ersten Mal der Brachiosaurus auf der Leinwand erscheint, ist ein echter Wow-Moment. Gleichzeitig ist sie auch ein plötzliches Ereignis, das die Protagonisten in eine völlig andere Lage bringt und eine klare Zielvorgabe für den Rest der Geschichte macht: Sie wollen sich den Park nun wirklich ganz genau ansehen und alles über die Technologie erfahren. Was sie nicht ahnen: Das wird nicht ganz so reibungslos von statten gehen, wie sie denken.
An diesem Beispiel erkennen wir auch den richtigen Zeitpunkt für den Plot Point 1: Die Geschichte ist bereits in Gang gekommen (zur Unterscheidung zwischen dem ersten Plot Point und dem Inciting Incident siehe unten), denn die Wissenschaftler sind ja schon auf der Insel, haben sich schon breitschlagen lassen und es gibt bereits eine Aufgabe für sie. Erst dann ergibt es Sinn, der Geschichte eine andere Wendung zu geben.
Ein weiteres Beispiel:
Bilbo Beutlin wird auf seiner 111. Geburtstagsfeier plötzlich unsichtbar. Gandalf ahnt, dass etwas nicht stimmt. Schließlich erkennt er: Bilbo besitzt den Ring der Macht, einen Gegenstand von unvorstellbarer Kraft, aber auch Quelle des Bösen. Er bittet Frodo, Bilbos Cousin, den Ring an sich zu nehmen und an einen sicheren Ort zu bringen – zu den Elben.
Der Herr der Ringe – Die Gefährten (2001 bzw. 1954)
Auch hier wirkt der erste Plot Point nicht sonderlich überraschend, aber das liegt daran, dass wir die Geschichte hundertmal gehört bzw. gesehen haben. Stellt man sich einmal vor, nichts darüber zu wissen, ist es in der Tat ein Schock: Der Ring der Macht? Hier, im Auenland? Und Frodo soll ihn fortbringen? Er ist doch nur ein Hobbit?
Dementsprechend wird auch die Welt des Protagonisten auf den Kopf gestellt. Mit dem beschaulichen Leben im Auenland ist es nun vorbei. Frodo muss es hinter sich lassen, weil ihn das Schicksal ereilt hat. Schlimmer noch: Wenn seine Mission nicht gelingt, ist das Auenland an sich bedroht. Außerdem wird klar, wovon die nächsten 8 Stunden bzw. 1000 Seiten handeln werden: Vom Versuch, den Ring in Sicherheit zu bringen. Erst bei den Elben erfahren wir: Sicher ist er nur im Feuer des Schicksalsberges.
Plot Point 1 vs. Inciting Incident
Nun zu einem wahren Meisterwerk der Plotkunst:
Die aufgebrezelte Mode-Liebhaberin Elle wird von ihrem Freund sitzen gelassen. Er will nach Harvard, um Jura zu studieren, und Elle ist ihm dafür zu unseriös. Elle beschließt, ihm nach Harvard zu folgen und ebenfalls Jura zu studieren. Dort erfährt sie, dass er inzwischen verlobt ist. Doch davon lässt sie sich nicht abbringen: Sie will ihn mit exzellenten Leistungen beeindrucken und so zurückerobern.
Natürlich blond (2001)
Hier lohnt es sich genauer hinzugucken, denn auf den ersten Blick scheint es hier zwei Plot Points zu geben: Die Trennung und wenn Elle erfährt, dass ihr Ex bereits verlobt ist. Beides geschieht plötzlich und unerwartet, stellt die Welt der Protagonistin auf den Kopf und macht eine klare Zielvorgabe: Kämpfen um den Herzbuben!
Aber die Trennung ist nur der sogenannte Inciting Incident. Das ist das Ereignis, das die Geschichte in Gang setzt. So auch hier: Ohne die Trennung gäbe es keinen Grund für Elle, überhaupt nach Harvard zu gehen und es gäbe auch kein Ziel. Und streng genommen verändert der Inciting Incident von „Natürlich blond“ Elles Welt auch nicht so radikal wie der erste Plot Point: Sie denkt, sie müsse ihrem Freund nur hinterherlaufen, um ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Erst als sie erfährt, dass er verlobt ist, begreift sie, dass sich die Trennung gegen sie als Person richtet, dass er sie nicht für fähig und geeignet genug hält, um sie zu seiner Frau zu machen. Das ändert Elles Welt nachhaltig, denn die modeverrückte Vorstadt-Barbie wühlt sich plötzlich durch Paragrafen und Gesetzestexte.
Wie auch bei Jurassic Park ist im ersten Plot Point bereits das erste Scheitern der Protagonistin angelegt: Elle wird bald merken, dass sie gegen die Vorurteile ihr gegenüber nicht ankommt, indem sie sich verstellt und unterordnet. Die Wissenschaftler im Jurassic Park werden bald merken, dass man mit der Natur besser nicht leichtfertig umgehen sollte und das Staunen schnell in Entsetzen umschlagen kann. Frodo wird merken, dass seine Bürde viel größer ist als ursprünglich angenommen. In der Folge werden alle ihre Strategie wechseln müssen, um sich der neuen, eigentlichen Aufgabe anzunehmen. Es ist diese Abfolge von Enttäuschungen, Versuchen und Erkenntnissen, die den Kern jeder großen Geschichte ausmacht. Der erste Plot Point nimmt dabei eine besonders prominente Stellung ein, weil in ihm alles weitere bereits angelegt ist.
Und nun schreiben wir selbst eine Exposition, einen Inciting Incident und einen ersten Plot Point:
Fiktives Beispiel
Eine Maus lebt ein abgeschiedenes Leben in Armut und ohne soziale Kontakte, als sie eines Morgens einen Brief erhält, der sie auffordert, ihr Erbe anzutreten: Großonkel Cheesy McCrust hat ihr seinen Reichtum vermacht. Um das Erben anzutreten, muss sie in die Hauptstadt Mouse Town reisen.
fiktives Beispiel
Okay, wir haben einen Protagonisten, die gewöhnliche Welt und einen Inciting Incident. Von hier aus betrachtet hat die Geschichte noch keine rechte Form angenommen, was soll schon passieren, wo ist das Problem? Das unterstreicht die Bedeutung des ersten Plot Points: erst danach geht es richtig los. Wir müssen uns also einen überlegen.
In Mouse Town besucht die Maus den Notar, der ihr zu verstehen gibt, dass ihr Erbe eine Schuldenlast von 3.000 Käsetalern ist. Die Maus ist ruiniert. Aber der Notar kennt einen Ausweg: Vielleicht ist in der verfallenen Villa des Onkels ja noch etwas von Wert zu holen.
fiktives Beispiel
Schockschwere Not: Das Erbe ist ein Haufen Schulden! Alles, was jetzt noch bleibt, ist im Abrisshaus des Onkels nach einem Schatz zu suchen. Einen Weg zurück gibt es nicht mehr: dort wartet nur der Ruin. Die nächsten 200 Seiten werden davon handeln, ob und wie die Maus es schaffen wird, diesen Ruin abzuwenden.
So viel sei verraten: Sie wird einen Schatz finden, aber einen ganz anderen als gedacht. Und der wird ihrem einsamen Leben ein Ende bereiten, weil sie dadurch einsehen wird, dass die Menschen bzw. Mäuse nicht alle schlecht sind und dass nicht sie das Problem ist. Und dann wird die Sache mit dem Ruin auch noch gelöst.
All das ist bereits im ersten Plot Point angelegt. Denn ohne ihn wäre die Maus nie in diese missliche Lage geraten und wäre nie gezwungen worden, ihr altes Leben zu hinterfragen.
Plot Point 1 und Figurenentwicklung
Dabei klingt bereits eine weitere Wahrheit guten Plottings an: Ein guter erster Plot Point wird immer auch die Figurenentwicklung in Gang setzen. Als Luke Skywalker zu den Sternen aufbricht, weil seine Zieheltern ermodert und seine Farm niedergebrannt wurde, ist das der erste Plot Point von Krieg der Sterne. Gleichzeitig beginnt damit seine Reise in sein Inneres, wo er sich dem Problem wird stellen müssen, ein Zauderer zu sein, ohne Glaube an sich selbst. Nur dann kann er ein Jedi werden (und den Todesstern zerstören). Gleiches gilt für Frodo, für Elle und für die Wissenschaftler von Jurassic Park.
Ich hoffe, dieser Artikel hat dir geholfen, zu verstehen, wie der erste Plot Point einer Geschichte funktioniert und worauf man dabei achten muss.
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